Anekdote zur Senkung der Wehrmoral

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Großvater, Jahrgang 1889, erzählte es manchmal:

„Ja, im Sommer vierzehn war ich in Dresden. Gute Arbeit in der Setzerei, die Leute umgänglich und herrlich die Stadt. Da wär ich gern geblieben … Und dann plötzlich Krieg. Wir Arbeiter demonstrierten vor dem Rathaus, ein paar Hundert, ich war auch dabei. Wir wollten nicht ins Feld. Dann zog Polizei auf, drohte, in die Menge zu schießen. Ja, und so gingen wir eben auseinander … Ich wurde schon bald eingezogen – vier Jahre in Frankreich, vier Jahre verloren. Ich habe es überlebt, zwei Brüder nicht …“
 

rothsten

Mitglied
Hallo Arno,

Dein Text bricht trotz seiner Kürze gleich mit zwei historisch gängigen Bilder über der ersten Weltkrieg: den Hurra-Schreiern und der durchschnittlichen Überlebensdauer an der Front von etwa 2 Monaten. Mich erinnern die Szenen vor dem Rathaus eher an die Aufstände nach der Kapitulation. Zudem hätte man einen solchen Text eher im letzten Jahr erwartet; das ist aber eher wohltuend. :)

Ist das tatsächlich passiert oder fiktiv? Wenn tatsächlich, hättest Du einen interessanten neuen Blick auf die Jahrhundertkatastrophe geworfen.

Ich finde, das Thema "Front" ist zu groß für diese Art Kurzprosa. Das kann man -wenn überhaupt- höchstens wie Remarque lösen (Im Westen nichts Neues), und wegen der Distanz kann es auch stets nur ein fader Aufguss vom Hörensagen werden. Man muss es selbst erlebt haben, fürchte ich. Umso wichtiger, dass soche Texte noch gelesen werden, denn deren Authentiziät wird nie wieder erreicht werden können.

Das Thema der Anti-Hurraisten finde ich unbedingt eine Erzählung wert, wenngleich ich mir hier mehr wünschte als nur eine schöne Stadt und nette Arbeit, die man verlässt. Hier lässt Du mich als Leser ein bisschen hängen. :)

Mein Fazit: Mach es vielleicht größer?

Eine handwerkliche Anmerkung: Die drei Punkte solltest Du sparsam einsetzen. Die ersten ersetzte ich durch einen Bindestrich, die zweiten streichte ich ganz. Sie passten, wenn es sich um eine Erinnerungssequenz handelte. Das müsstest Du aber noch darstellen, dass der Großvater aus der zeitlichen Ferne erzählt ("...erzählte es nach vielen Jahren zum ersten Mal:").

lg
 
Danke, rothsten, für deine hilfreiche Reaktion. Ja, es ist ein Kürzest-Prosatext, der das Thema Widerstand gegen drohenden Krieg nur auf die knappste Weise ansprechen und am liebsten alles Weitere an Überlegung und Nachprüfung dem Leser selbst überlassen möchte.

Du hast Recht, das Thema an sich verdient eine breitere Darstellung - ich bin jedoch alles andere als ein Autor historischer Stoffe, ziehe mich deshalb hier auf meine engen Grenzen zurück. (Es gibt ein Romanfragment, in dem die Geschichte des Opas ausführlicher behandelt wird - ich halte es aber nicht für präsentierbar.) Das hier ist wirklich nur ein Denkanstoß. Für mich persönlich - nicht zwangsläufig für andere - lautet die Moral der Geschichte so: Wehr dich beizeiten, auch auf der Straße, und wenn du schon am Beginn zurückweichst, hast du am Ende gar nichts gewonnen. Wie viele der damals Zurückgewichenen mögen in den kommenden Monaten und Jahren gefallen sein?

Zur Authentizität: Ja, Opa hat das nach meiner Erinnerung alles so erzählt. Ich habe erst in diesen Tagen recherchiert und bin auf ein mir bis dahin unbekanntes Stück Geschichte gestoßen. Es gab tatsächlich Ende Juli 1914 quer durch Deutschland massenhaft Proteste gegen den drohenden Kriegseintritt. Die Quellen sprechen von insgesamt 500.000 - 750.000 Teilnehmern, z.B. in Berlin, Hamburg, dem Ruhrgebiet. In Dresden fanden wiederholt Demonstrationen statt, die größte mit 35.000 Teilnehmern. Es gab gleichzeitig große Gegendemonstrationen nationalistisch Gesinnter und häufig gewaltsame Auseinandersetzungen. Regelmäßig trieb die Polizei die Anti-Kriegs-Demos auseinander, z.B. mit Pferdestaffeln und, wie es einmal heißt, "mit gezogener Waffe". Welche Waffen mögen es gewesen sein - vielleicht Säbel o.ä. Für Schusswaffen oder Androhung von deren Gebrauch habe ich noch keinen Beleg gefunden.

Nach der Mobilmachung und den Kriegserklärungen ebbten diese Demos rasch ab. Die SPD (vorher Hauptinitiator der Proteste) stand nun hinter der Kriegspolitik. Seltsam ist es, dass diese kurze Massenbewegung in unseren Geschichtsbüchern kaum vorkommt.

Über deine Bedenken bezüglich Zeichensetzung muss ich noch nachdenken. Grundsätzlich erscheinen mir die Pünktchen in direkter Rede passender als ein Gedankenstrich. Gut, ich kann deinen Tipp für den Anfang aufgreifen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Großvater, Jahrgang 1889, erzählte es mir manchmal, Jahrzehnte später, mir, dem Enkel:

„Ja, im Sommer vierzehn war ich in Dresden. Gute Arbeit in der Setzerei, die Leute umgänglich und herrlich die Stadt. Da wär ich gern geblieben … Und dann plötzlich Krieg. Wir Arbeiter demonstrierten vor dem Rathaus, ein paar Hundert, ich war auch dabei. Wir wollten nicht ins Feld. Dann zog Polizei auf, drohte, in die Menge zu schießen. Ja, und so gingen wir eben auseinander … Ich wurde schon bald eingezogen – vier Jahre in Frankreich, vier Jahre verloren. Ich habe es überlebt, zwei Brüder nicht …“
 



 
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