Angst

Kyra

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ANGST

Die Bushaltestelle stand in der prallen Sonne, die Sitzbank war so heiß, dass Ruth keine Lust hatte, sich drauf zu setzten. Sie hatte den Bus in die Stadt um wenige Minuten verpasst, der nächste kam erst in einer Stunde. Ärgerlich zog sie mit der Fußspitze die staubigen Linien der Pflastersteine nach und machte ihre neuen weißen Schuhe dreckig. Sie würde versuchen, ein Auto anzuhalten, aber am Sonntagnachmittag waren meist Familien unterwegs, die nahmen keine Tramper mit. Nur wenige Autos waren unterwegs, die Leute saßen jetzt alle beim Kaffee.
Ruth versuchte es trotzdem und drehte sich mit ausgestrecktem Daumen und einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht dem nächsten Wagen zu, der von oben die Straße herunterkam. Das Lächeln fiel ihr nicht schwer, sie freute sich auf den Überraschungsbesuch bei ihrer Freundin Sigrid in der Stadt – wenn sie nicht da war, wäre es auch nicht so schlimm, dann wäre sie schon einmal da und würde alleine etwas unternehmen. Wie oft hatte sie schon diese fünfundzwanzig Kilometer bis zur Stadt verflucht, immer diese Abhängigkeit von dem Bus. Aber nächstes Jahr konnte sie den Führerschein machen – endlich.
Zehn Minuten später hielt ein Auto an, ein gepflegtes Mercedes Coupé. Ruth lief erleichtert hin und wollte die Beifahrertür öffnen, aber der Fahrer war bereits mit einem verlegenen Lächeln ausgestiegen und rief ihr zu,
„ es tut mir sehr Leid, aber die Beifahrertür ist defekt, wenn sie trotzdem mitfahren wollen, müssten sie von dieser Seite einsteigen.“
Während sie zur Fahrerseite ging, fragte sie,
„ich will in die Stadt, möglichst ins Zentrum, fahren sie dahin?“
Ruth sah den Mann genauer an, als er antwortete,
„ja, kommen sie, ich fahre in die Innenstadt. Ich muss mich nur etwas beeilen.“
Er war groß, hager und etwa im Alter ihres Vaters. Er schien eine Knochenkrankheit zu haben, sein Nacken waren stark gebeugt, um nach vorne sehen zu können, musste er den Hals sehr lang machen. Dies verlieh ihm, zusammen mit dem Fliehkinn, Ähnlichkeit mit einer Echse. Ruth schlüpfte an ihm vorbei und rutschte auf den Beifahrersitz durch. Auch das Widereinsteigen schien ihm Mühe zu machen, armer Kerl, dachte Ruth während sie es sich bequem machte.
Sie überlegte was sie erzählen sollte; wenn Leute einen Anhalter mitnehmen, wollen sie meist unterhalten werden. Meist berichtete sie dann von der Schule, von ihren Pferden und davon dass sie sich nächstes Jahr ein Auto kaufen wollte. Der Fahrer unterbrach ihre Gedanken,
„fahren sie oft in die Stadt, oder ist heute ein besonderer Anlass?“
„Ich fahre schon öfters dahin, aber heute will ich eine Freundin überraschen.“
Ihr tat diese Bemerkung augenblicklich Leid, es war dumm zu erzählen dass niemand sie erwartete. Aber der Mann schien es überhört zu haben, er erzählte Ruth von seinem Wochenende am Meer, seinen Strandwanderungen bei Sonnenaufgang um halb fünf Uhr morgens und den kleinen Fischen und Krabben, die er bei Ebbe in den schrumpfenden Prielen beobachtet hatte. Die Aufregung, das Gewimmel wenn die Sonne sie immer weiter austrocknete, das Zappeln und Springen, der Kampf um die letzte feuchte Stelle.
Ruth hörte nicht genau zu, sie plante schon was sie tun könnte, wenn Sigrid gleich nicht da wäre. Trotz seiner Behinderung fuhr der Mann sehr gut und zügig, sie waren bereits an der Autobahnauffahrt, bald wären sie da. Die zehn Kilometer über die Autobahn gingen schnell, dann nur noch in die Innenstadt. Ruth versuchte höflich zu sein und Interesse an der Erzählung ihres Fahrers zu zeigen, gerade berichtete er von dem Appartement, was er sich immer dort mietete. Ruth nickte und wollte schon von dem Ferienhaus berichten, dass ihre Eltern früher immer gemietet hatten, als sie und ihre Geschwister noch klein waren, da sah sie ein Stück weiter vorne, zwischen den beiden Fahrspuren, einen großen grauen Vogel sitzen. Die Autos bremsten ab und versuchten ihn zu umfahren. Auch sie machten den Schlenker, einen Augenblick konnte sie den emporgereckten Kopf eines Fischreihers erkennen, er konnte nicht mehr aufstehen, seine langen Beine waren gebrochen, so schlug er sein langen Flügel am heißen Asphalt blutig bei dem Versuch aufzufliegen. Es war ein entsetzlicher Anblick. Ruth hatte das Gefühl sie hätte noch nie so eine grauenerregende Angst gesehen. Blass drehte sie sich zum Fahrer um, er hatte ihr den Kopf zugewandt und sah sie neugierig an. Fast hätte sie aufgeschrieen, so beängstigend sah sein vorgestreckter Kopf aus. Als würde eine Schildkröte am Steuer sitzen und sich ihr vorsichtig nähern - Menschen kommen aufrecht aufeinender zu, nur Tiere strecken den Kopf vor. Sie konnte sich beherrschen, er tat ihr leid, schließlich konnte der arme Mann nicht für seine Behinderung. So antwortete sie auch besonders freundlich, als er die Frage stellte, die jeder ihr stellte,
„haben sie gar keine Angst, so alleine zu trampen?“
mit einem Lächeln, das sie eher als blecken der Zähne empfand, erwiderte sie ihre Standartantwort,
„ich bin nicht so ängstlich, ich schaue mir die Leute auch genau an, zu denen ich einsteige. Außerdem rufe ich vorher an und sage wann ich ungefähr ankommen….“
Seine Antwort wurde von einem leisen Lachen begleitet,
„auch wenn sie Überraschungsbesuche machen?“
Ruth errötete, dabei gab es gar keinen Grund dazu, schließlich ging diesen Fremden das gar nichts an. Sie bemerkte ihr erstarrtes Lächeln. Als sie weiter sprechen wollte, blieb ihre Oberlippe an den trockenen Zähnen hängen und sie musste sie erst mit der Zunge befeuchten, ehe sie antworten konnte,
„Na ja, meistens schon. Heute wollte ich wirklich mit dem Bus fahren, ich habe ihn ganz knapp verpasst.“
Ruth setzte sich sehr aufrecht hin und sah zu ihm hinüber, er streichelte lächelnd das Lenkrad, dann drehte er ihr langsam das Gesicht zu. Durch den gesenkten Kopf bekam diese Bewegung etwas Neckisches, sein Blick glitt an ihr empor und über sie weg nach oben.
„Was für eine Angst muss dieser Vogel gehabt haben, es war übrigens ein Reiher, haben sie das erkannt?“
Ruth nickte stumm,
„es muss ein Jungvogel gewesen sein, wenn sie älter sind ist das Gefieder kontrastreicher, der hier war ja noch ganz grau.“
Ruth saß völlig unbeweglich in ihrem Sitz und sah nach vorne, gleich müsste die Abfahrt zur Stadt kommen. Der Mann sprach mit nachdenklicher Stimme weiter,
„Angst ist schon ein bemerkenswertes Phänomen, viel zu wenig untersucht meiner Meinung nach. Dabei ist es für jede Kreatur eine der wichtigsten Gefühle, letztlich resultiert die Aggression aus der Angst, wahrscheinlich sogar die Liebe. Oder haben sie keine Angst alleine zu bleiben, keinen Mann zu bekommen? Na, vielleicht sind sie noch zu jung dafür, aber sicher hatten sie auch einmal Angst, nicht wahr?
Ruth wurde wütend, dieses Gespräch erinnerte sie an früher, als ihr großer Bruder ihr immer schreckliche Geschichten erzählt hatte, nur um sie dann auszulachen, wenn sie weinend zur Mutter rannte.
„Natürlich hatte ich schon Angst, aber das ist lange her. Kinder haben Angst, ich bin kein Kind mehr!“
Plötzlich dachte Ruth an die Autotür, die sich nicht öffnen ließ. Aber vielleicht ließ sie sich nur von außen nicht öffnen, vorsichtig setzte sie sich um, stellte ihre Handtasche rechts neben sich auf den Boden. Dann drehte sie sich umständlich herum und kramte murmelnd in der Tasche, als würde sie etwas suchen. Dabei ließ sie die Hand an den Türgriff gleiten, um sachte an ihm zu ziehen. Er bewegte sich ganz leicht in ihrer Hand, völlig funktionslos. Sie fuhr herum als sie etwas an ihrem Knie fühlte; er hatte sehr sanft seine Hand darauf gelegt und meinte leise,
„die Tür lässt sich auch von innen nicht öffnen, sogar das Fenster kann man nicht mehr herunterfahren.“
Ruth zog ihre Beine zurück und seine Hand ließ sich wieder auf dem Lenkrad nieder, um es zu streicheln.
„Ja wo waren wir stehen geblieben, bei der Angst und ihrer Bedeutung für die Entwicklung allen höheren Lebens. Sie müssen zugeben, dafür ist die Forschung auf diesen Gebiet geradezu jämmerlich. Es ist ein Thema, mit dem sich keiner gerne befasst, sie wird verdrängt. Man befasst sich lieber mit dem Urknall, mit der Entschlüsselung der Gene, selbst der Schmerz ist weit besser erforscht als die Angst.“
Ruth sah die Schilder für die Abfahrt kommen, gleich wären sie von der Autobahn. Sie würde den Mann gleich bitten, sie aussteigen zu lasen, die letzte Strecke würde sie den Bus nehmen. Und wenn er irgendwie komisch würde, könnte sie auf die Hupe drücken oder ihm ins Steuer fassen. Das war bei hundertfünfzig auf der Autobahn nicht möglich, ohne einen schweren Unfall zu riskieren. Sie lächelte als sie mit einem Fingerzeig sagte,
„hier ist ja die Ausfahrt, ich glaube es wäre das Beste, sie ließen mich gleich unten raus weil ich…“
Ruth bemerkte sofort, dass er keine Anstalten machte abzubremsen, sondern auf die Überholspur ging und den Wagen auf fast zweihundert beschleunigte. Während sie an der Ausfahrt vorbei zu fliegen schienen, sah Ruth den Reiher wieder vor sich, den Kopf mit den Bensteinaugen nach oben gestreckt, den Schnabel weit geöffnet, sah er in Todesangst jedes Auto auf sich zurasen. Seine Qual wurde durch die Ausweichmanöver nur verlängert, aber auch die Autofahrer hatten Angst mit so einem großen Vogel zu kollidieren. Ruth dachte an die blutigen Flügelgelenke die so sinnlos auf den Asphalt schlugen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
kyra,

ich hasse offene enden, besonders, wenn sie wie hier auf etwas böses hinauszulaufen scheinen. dem armen mädchen ist doch hoffentlich nichts passiert, oder? sehr gut geschrieben übrigens. lg
 

Kyra

Mitglied
ich hoffe nicht

Hallo

ich hoffe auch, dass ihr nichts passiert ist, vielleicht wollte er ihr ja nur Angst machen?

Liebe Grüße

Kyra
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auch

das wäre eine verwerfliche handlungsweise. jedenfalls hast du das sauber hinbekommen, es schüttelt mich immer noch. ganz lieb grüßt
 



 
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