Angst

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rotkehlchen

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Angst

1

Über den Abhang wachsen vier schwarze Gestalten mit verschwimmenden Konturen empor; im Glast der Hitze des späten Augusttages scheinen sie zu schwanken wie trunkene Voodoo-Tänzer. Der dunkelhäutige, dunkeläugige Mensch fremder Zunge auf der Bank sieht die Gestalten auf sich zukommen und weiß mit dem Scharfsinn des gehetzten Tieres, dass ihr Besuch ihm gilt, und dass der Tag kein gutes Ende nehmen wird. In seinem Gedärm explodiert eine Bombe aus Angst und Verzweiflung, trotzdem bleibt er sitzen, festgenagelt von schmerzlicher Erfahrung und einem Hüftleiden. In seinem Heimatdorf hat er gelernt, dass Weglaufen tödlich sein kann; besser mit zusammengebissenen Zähnen die Hiebe der Gewehrkolben ertragen als auf keuchender Flucht erschossen zu werden. Vielleicht ist aber auch das Entsetzen darüber, dass es schon wieder losgeht, der Grund für seine Starrheit.

Langsam, fast tänzelnd, kommen sie den Abhang herab, mit der Behäbigkeit von Leuten, die gut gegessen und getrunken haben, und für die Zeit jetzt keine Rolle spielt. Fast anmutig setzten ihre schweren Springerstiefel über die Rillen und Risse hinweg, diese Runen der Vergangenheit, mit denen der Asphaltweg bedeckt ist wie das Gesicht eines Greises mit Runzeln. In der Luft liegt der herb-aromatische Geruch vermodernden Eichenlaubes vermischt mit den Ausdünstungen der Stadt. Die unüberschaubaren Kronen der alten Bäume mit ihren Stämmen, schwarz und rau wie die Seelen Gemarterter, hüllen den Weg in fiebriges Halbdunkel. Von hohen Mauern gedämpft wehen die Geräusche einer wahnwitzigen Zivilisation herüber, die versucht, ihre innere Leere mit gnadenloser Betriebsamkeit auszufüllen.
Es ist die Stunde, in der das Herz der Finsternis zu schlagen beginnt. Schon lauert die Dunkelheit hinter den Türmen und Zinnen der alten Stadt. Ein letzter Strahl der untergehenden Sonne, kühn durch eine Schneise im dichten Blätterdach brechend, fällt auf die Glatze eines der Männer und lässt sie rot aufleuchten.
Die vier Männer, die aus dem Gewühl der Stadt in den 'Liebesgrund', dem Rest eines alten Stadtgrabens, hinabsteigen – (oh, welch freche Vereinfachung, denn Liebe kennt keinen Grund, höchstens Abgründe) – mit Haut und Fleisch vom Wohlstand verdorbener Fundamentalisten, bewegen sich unerbittlich auf ihr Opfer zu. Der größte und stämmigste von ihnen, ein Hüne in der Mitte des Lebens, auf dem Gesicht der Hohn frecher Lügen und schwer gepanzert mit Vorurteilen, schwankt beim Gehen wie ein Matrose nach langer Fahrt auf Landgang. Sein linker langer Arm bewegt sich im Rhythmus seiner Schritte; den rechten hält er angewinkelt, die Hand steckt in einem schwarzen Handschuh, einem Schlaghandschuh.
Der Mann neben ihm ist erheblich jünger und mag siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Sein Gesicht, stumpf, grau, pickelübersät, mit langer Nase über stark hervorspringendem Oberkiefer und kleinen, heimtückischen Augen gleicht dem einer Ratte. Unter seiner offenen Kunstlederjacke trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift W. O. T. A. N. Der Dritte in diesem unheiligen Bunde, altersmäßig vielleicht um die dreißig, feist, gepflegt, die Haut seines kahlen Schädels mit dem Schweinsgesicht trotz der Jahreszeit leichenhaft bleich, auf den schlaffen Wangen den Rasierschatten eines starken Bartwuchses, keucht bei jedem Schritt, als schleppe er eine schwere Last. Er zieht ein Taschentuch hervor und wischt sich die Stirn.
Die seltsamste Gestalt jedoch ist ein hagerer Mann, der sogar den Hünen um mindestens Kopfeslänge überragt. Seine Kumpanen wissen, dass er zweiundvierzig ist, Fremde schätzen ihn meist mindestens zehn Jahre älter. Sein schmallippiger, schief gezogener Mund mit den scharfen Falten eines Magenleidens unter der Hakennase wirkt wie eine Kerbe, und seine gasflammenblauen Augen mit dem unsteten Blick sind kalt und leblos. Auf den Lippen das höhnische Grinsen derer, sie sich in ihren Vorurteilen behaglich eingerichtet haben. Ein knallrotes Feuermal zieht sich vom Kinn bis unter den Kragen seines schwarzen Hemdes und lässt Erinnerungen an einen Truthahn aufkommen. Trotz seiner dürren Körperlichkeit strahlen seine Bewegungen eine gewisse priesterliche Würde aus; vielleicht liegt der Eindruck ja auch nur an dem runden, tellerähnlichen Hut auf seinem Kopf.
Jetzt bleibt die Gruppe stehen. Der Hagere greift mit knochiger Hand in eine Hosentasche, zieht eine Schachtel Zigaretten hervor und steckt sich eine mit zittrigen Bewegungen zwischen die Lippen. Sofort springt der Junge vor und gibt ihm Feuer. Der Lange schließt die Augen und zieht den Rauch tief in sich ein, dann bläst er ihn mit seinem schiefen Mund schräg nach oben weg in die sich immer mehr verdunkelnde Luft. Diese Art des Rauchausstoßens ist für die anderen anscheinend ein Signal, dem Folge zu leisten außer Frage steht. Mit einer unnachahmlich herrischen Geste wirft der Dicke den Kopf in den Nacken und knödelt: „Also los, worauf warten wir noch!“

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Das Gesicht des jungen Menschen fremder Zunge zeigt keinerlei Erregung, weder den Ausdruck grausamer Überraschung, eines Bedauerns oder irgendein erkennbares Zeichen des Beteiligtseins, obwohl seine Angst anschwillt wie die Knospe einer Magnolienblüte im Zeitraffer. Wieder hört er die dumpfen Schläge der Knüppel, vernimmt die Schreie der vergewaltigten Frauen, Männer und Kinder. Im Auffanglager, unter der brutalen Sonne eines fremden Landes seines Kontinents,den die Welt den schwarzen nennt, hat er gelernt, dass kein Gesicht machen immer noch die größten Chancen bietet, mit einigermaßen heiler Haut davon zu kommen, denn zur Schau gestellte Emotionen könnten verräterisch sein. Eine unbedacht gehobene Augenbraue, ein unbeabsichtigtes Rümpfen der Nase, ein Blick in die falsche Richtung – und schon fallen sie über dich her. Außerdem hat er schon lange damit gerechnet, dass es passieren würde; Bekannte, die sich in diesem Land hier auskennen, haben ihn gewarnt; sieh zu, hatten sie gemailt, dass sie dich nicht in diesen Landesteil verfrachten, in dem schändliche 'Bruderschaften' ihr Unwesen treiben, und wenn doch, scheue das Licht der Öffentlichkeit, vor allem: Geh nie alleine aus. Doch die stumpfsinnig-öde Langeweile in der Sammelunterkunft mit ihren ewigen Streitereien, die bald sein Gemüt überzog wie zäher Schleim, die Einsamkeit, die sein Herz zernagte, die Sehnsucht nach Freigang und Ruhe hatten dazu geführt, dass er alle Warnungen in den Wind schlug und sich alleine in den Liebesgrund begab. In diesem abgeschiedenen Tal abseits der geschäftigen Stadt, so hatte er in wahnwitziger Verblendung angenommen, werde er den bösen Blicken und menschenverachtenden Treiben jener Bruderschaften entzogen sein. Doch nun zeigt sich: Es war ein Irrtum.
Wäre eben noch die Möglichkeit zum Absprung gewesen, jetzt ist der Zeitpunkt verpasst, die Fluchtdistanz zu gering. Der Lange hätte ihn, den Gehbehinderten, in wenigen großen Schritten eingeholt. Auch ist niemand da, den er um Beistand bitten könnte. Der Liebesgrund liegt wie ausgestorben in dunstiger Dämmerung.

Mittlerweile hat die Gruppe die Bank erreicht. Die Männer bleiben stehen und wenden sich in aller Ruhe dem Fremden zu. Dessen geweitete Augen sind starr auf die schwarze Hand des Hünen gerichtet, denn er weiß aus bitterer Erfahrung, was es mit einem solchen Handschuh auf sich hat. Es ist ein Quarzsand-Handschuh, am Arm eines brutalen Schlägers eine fürchterliche Waffe.
Aber es ist nicht der Hüne, der die Initiative ergreift, sondern der Dicke mit dem Schweinsgesicht.
Mit vor Hass und Mordlust gurgelnder Stimme keift er: „He, du brauner Affe, das Gehirn schlagen wir dir zu Brei, du widerlicher Schmarotzer am Volkskörper!“ Er macht einen Schritt auf den Bedrohten zu, doch der Schlag unterbleibt, denn der Lange fällt ihm in den Arm. „Jetzt noch nicht“, sagt er mit überraschend tiefer Stimme, „er muss erst noch gründlich gegrillt werden!“
Der Junge mit dem Rattengesicht, immer dabei, wenn es gilt, gefahrlos Asylanten zu 'klatschen', aber der erste, der sich wie eine Ratte verkriecht, wenn Gefahr droht, lacht laut und hämisch. „Hahaha!“grölt er, „dat isses! Wir grillen dat braune Aaschloch, bissa vor Angst schwaaz wird!“
Der dunkelhäutige Mensch weicht lauernd zurück, soweit es die Bank erlaubt. Sein von Entsetzten und Ekel geweiteter Hass- und Angst-Blick ist jetzt nicht mehr auf den jungen Mann gerichtet, sondern auf das Messer, das der Dicke plötzlich in der Hand hält. Der wabert vor und macht eine Bewegung, als wolle er zustoßen. Der Bedrohte will sich erheben, denn vielleicht ist ja ein Entkommen doch noch möglich - ist da nicht gerade ganz in der Nähe lautes Rufen und Hundegebell zu hören? Vielleicht sind da ja Leute, die ihm beistehen könnten – da kracht die schwarze Hand des Hünen auf seine Schulter nieder und zwingt ihn zurück auf die Bank.
„Hey, du Aaschloch, hat jemand wat von Aufstehen jesacht?“ höhnt der Rattengesichtige schnellzüngig-schrill.
Der Mensch fremder Zunge versteht nichts von dem, was da gebrüllt, gehöhnt, gelacht wird. Aber auch wenn er es verstehen würde, was würde es ändern? Die Situation ist doch eindeutig. Trotzdem hat er jetzt das Bedürfnis, sich mitzuteilen, zu erklären, zu erläutern, um Schonung zu bitten, obwohl er weiß, dass sein Schicksal diese Männer einen Scheißdreck interessiert, und dass das Allerletzte, was er von ihnen erwarten kann, Mitleid ist, auch qwenn sie ihn verstehen könnten.
Für einen Moment schließt er die Augen. Seine lang bewimperten Lider, fast violett vor Übermüdung, sind zart wie Seide und so durchsichtig, dass das rote Adergeflecht hindurchscheint. Für den Bruchteil einer Sekunde – einer gefühlten kleinen Ewigkeit immerhin – tauchen vor seinem inneren Auge Szenen abendlicher Geborgenheit auf. Wieder hört er, am leise knisternden Feuer in der Rauch-geschwängerten Hütte, die rau-zärtliche Stimme der Großmutter, das munter-scherzende Palaver der Männer. Und er beginnt zu sprechen, in seinem weichen, dunklen Idiom, in dem es keine phonetischen Härten gibt.
Die vier schwarzen Gestalten hören eine Weile zu, und wie es scheint, sogar aufmerksam.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer belebt die traurigen Augen des Sprechenden, auch haben die vertrauten Worte ihm etwas von seiner Angst genommen. Er kennt das: In seiner Heimat wird viel geredet, besonders nach dem frühen und plötzlichen Einbruch der Dunkelheit, es wird endlos palavert, auch, um die bösen Dämonen der Finsternis fern zu halten. Auch diese dunkle Kerbe in der fremden Stadt ist anscheinend voll von bösen Dämonen, allerdings in Menschengestalt, wie sich jetzt zeigt, womit er überhaupt nicht gerechnet hat, denn seine Leute hatten ihn vor allem Möglichen gewarnt, nur nicht vor bösen Geistern. Also plappert er in fiebrigem Wahn und erhöhter Stimmlage weiter.
Ein harter Faustschlag trifft ihn unters Kinn, sein Kopf mit dem dicht gekräuselten Haar schnellt hoch, und schon fühlt er das kalte, scharfe Messer an seinem Hals. „Noch ein Wort in deiner Scheißsprache“, droht der Dicke, „und ich schneid dir deine dreckige Kehle durch!“
Der Glatzkopf beugt sich über den vor Angst Zitternden und schnuppert. „Sach ma, was riecht denn hier so verdächtig?“, knödelt er dickzüngig. Er blickt den Dicken grinsend an. „Beschissen hat er sich“, sagt der, „das Schwein ist noch nich mal stubenrein!“
Der Junge lacht schrill. „Wahrscheinlich gibt es da, wo der herkommt, keine Scheißhäuser!“ Er richtet seinen Blick auf den Gequälten. „He, du Stinker“, höhnt er, „scheißen se sich bei euch immer ins Höschen, wenn´s mal brenzlich wird?“
Seltsamerweise hat der Lange, dieser lichtlose Leuchtturm einer perversen Gemeinschaft, bisher weder etwas gesagt, noch sich an den Demütigungen beteiligt. Sein unsteter Blick war vielmehr in die Weite des Liebesgrundes gerichtet, und jetzt sagt er mit seiner toten Stimme: „Halt mal die Klappe, da kommt jemand“, und wenig später: „Ein Mann und eine Frau mit´m Riesenviech von Köter.“

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Tatsächlich hat sich der Bedrängte nicht verhört; ein Mann und eine Frau, vor denen ein großer Hund mit der Mähne eines Löwen auf Spurensuche eifrig hin und her läuft, biegen gerade in etwa fünfzig Meter Entfernung, aus einem Seitenweg kommend, in den Liebesgrund ein. Wie fast jeden Abend geht das Ehepaar nach dem Essen mit dem Hund spazieren, normalerweise nicht durch den Liebesgrund, denn der ist in der Dunkelheit ein unsicheres Terrain, sondern meistens über den Wall mit den alten Linden, von dem aus sie den Blick auf die Altstadt genießen, dann am Alten Rathaus vorbei und schließlich durch die Reitendedienerstraße und über den Grapengießerplatz zurück in ihre Wohnung am Hexenturm. Wenn die New Yorker stolz auf ihre Wolkenkratzer sind und die Pariser auf den Eiffelturm, dann sind es die Bewohner dieser Stadt auf ihre mittelalterliche Straßennamen und Türme, in denen immer noch die Erinnerung an mächtiges Patriziertum, Folterkeller und buntes Jahrmarkt-Treiben liegt...
Doch heute Abend will es der Hund anders; einer verlockenden Spur folgend, schnürt er über einen steilen Seitenweg vom Wall in den Liebesgrund hinunter, bleibt witternd stehen und lässt sich auch nicht zurückrufen. Seine Leute folgen notgedrungen, wiewohl zögerlich, denn die Dämmerung ist schon weit fortgeschritten, und irgendetwas scheint weiter oben vorzugehen. Der Hund... nun ja... Er besitzt zwar die Mähne eines Löwen, aber den Mut eines Kaninchens. Ein Beschützer ist er nicht.
Der dunkelhäutige Mann auf der Bank will auf sich aufmerksam machen und stößt einen Schrei aus. Doch der Dicke wartet schon mit der nächsten Grausamkeit auf. Krach! Ein brutaler, grauenhaft schmerzhafter Schlag der schwarzen Hand trifft den Mund des Unglücklichen, und dieser Mund wird augenblicklich zu einer blutenden Wunde. Und wieder: Krach! Der nächste Schlag geht in die Magengrube; der Getroffene krümmt sich ein und erbricht, dem Dicken vor die Füße, wobei etwas von dem Erbrochenen auf einen seiner Stiefel spritzt. Der Dicke, jetzt rasend vor Wut und zum Totschlag bereit, kreischt mit widerlich fetter Stimme: „Du Schwein! Das leckst du sofort ab!“ Der Gequälte, mit schweißnasser Stirn und einem Gesicht, aus dem alles Blut gewichen ist, spitzt die blutenden Lippen und spuckt vor seinem Peiniger aus. Ein gewaltiger, dumpfer Schlag schleudert ihn in das weiche, barmherzige Gras neben der Bank, wo er regungslos liegenbleibt.
Der Mann und die Frau, von dem Getöse neugierig gemacht, haben sich mittlerweile so weit genähert, dass sie Einzelheiten erkennen können. „Sieht aus, als würde da jemand fertig gemacht“, sagt der Mann, ein wegen eines Herzfehlers in Frührente geschickter Angestellter einer Sicherheitsfirma, mittelgroß und mit muskulösem Körperbau. Er bleibt stehen, unschlüssig, wie er sich verhalten soll, denn sein Arzt hat ihm dringend geraten, jede Aufregung zu vermeiden. Die Frau sieht die am Boden liegende Gestalt und traut ihren Augen nicht; verdutzt nietet sie ihren Blick auf das dunkle Bündel neben der Bank, das sich jetzt bewegt und leise vor sich hin jammert. Ihren Mann beeindruckt nicht so sehr der offensichtlich Niedergeschlagene, vielmehr sind es die vier Typen vor der Bank, auf die er jetzt seine ganze Aufmerksamkeit richtet, denn über deren Gefährlichkeit macht er sich keine Illusionen. In einer archaischen Regung blickt er sich nach dem Hund um; seit Urzeiten sind sich Herr und Hund in der Gefahr gegenseitige Helfer. Das große Tier sitzt hechelnd und mit sabbernden Lefzen abseits in sicherer Entfernung, in einer Angstattacke gefangen.
Die Frau jedoch, aus ungläubiger Starrheit erwacht und in diesem Moment bar jeglichen Gefahrenbewusstseins, nur durchdrungen vom Willen zu helfen, macht Anstalten, sich dem Bündel neben der Bank zu nähern. Der Dicke geht auf sie zu und sagt: „Verschwinden Sie, aber möglichst schnell!“ Ihr Mann ist inzwischen ein paar Schritte zurückgetreten, er zieht sein Handy hervor und schaltet es ein. „Hey Alter, lass dat!“, grölt die Stadtratte, die die Gefahr sofort erkennt, „oder es geschieht ein Unglück!“ Da der Mann nicht reagiert, setzt der Junge nach: „He, haste Scheiße in den Ohren oder warum hörste nich? Oder willste auch noch gegrillt werden?“
Mit einer affenartigen Schnelligkeit, die man ihm bei seiner Körperfülle nicht zugetraut hätte – was auch der Grund ist, warum der Sicherheits-Mann a. D. von dem Angriff total überrascht ist – springt der Dicke mit dem Schweinsgesicht vor, schlägt ihm das Handy aus der Hand und versetzt ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Der Geschlagene brüllt auf, denn seine Nase ist eine einzige, tobende Schmerzhölle. Mit vor Wut gurgelnder Stimme zischt er: „Du Schein!“ und wirft sich, besseren Wissens zum Trotz, auf den Angreifer. Da blitzt ein Messer auf, und der Mann sackt lautlos zusammen.
Mit der Heftigkeit hellen Entsetzens und des Nichtglaubenwollens wirft sich die Frau über ihren Mann, der wie tot daliegt. „Holger! Holger!“, ruft sie verzweifelt, „komm zu dir!“ Jetzt erst scheint sie zu begreifen, was geschehen ist. Die Angst, dass ihr Mann, dieser Ankerplatz in ihrem unsteten Leben, tot sein könnte, erstochen von einem wildfremden Totschläger, überschwemmt mit Macht ihr Bewusstsein. Hektisch reißt sie sein Hemd auf und legt das Ohr auf die warme, behaarte Brust. Eine Weile verharrt sie so, dann sieht sie das dunkle Blut, das aus seiner Seite quillt. Ihr Gesicht, von Kummer und Gram zur Grimasse entstellt, taucht aus dem Schatten des Daliegenden auf, ihr Mund mit den kussigen Lippen öffnet sich und gebiert einen Schrei, jäh, einsam, wild. „Mörder! Abschaum!“, schreit sie, „ihr seid Abschaum! Alle! Ihr habt ihn umbegracht! Verflucht seid ihr! Weg! Weg! Weg!“ Wieder wirft sie sich über ihren Mann, und dumpfes Schluchzen steigt auf.
Von der elementaren Wucht dieses Aufschreis sind anscheinend sogar die vier Banditen beeindruckt, denn niemand sagt zunächst ein Wort. Dann sagt der Junge: „Der is anscheinend hin.“ Er gibt dem Dicken einen kameradschaftlichen Stoß in die Seite. „Da hasse ganze Arbeit geleistet, du alter Haudegen!“
„Idiot!“, zischt der Leuchtturm dem Schweinsgesichtigen zu, „du solltest ihn k.o Schlagen, aber nicht erstechen!“ Er lüftet seinen Prälatenhut und kratzt sich am Kopf.
„Kann eigentlich nich sein“, nörgelt der Gescholtene zurück, „ich hab ihn in die Seite gestochen, schon, aber nich allzu tief. Davon stirbt sich so schnell keena nich, zumindest nich so plötzlich. Außerdem war´s Notwehr, oder haste was anders gesehn?“
„Leute“, lässt sich jetzt der Glatzkopf vernehmen, „ich glaube, es ist besser, wir dampfen ab. Gibt doch nischt mehr zu grillen.“ Er bückt sich, hebt das Handy auf, das ihm eben vor die Füße gefallen ist, und wirft es der Frau zu.
„Wo ist denn dat braune Aaschloch?“, kräht der Junge. Die Stelle im Gras neben der Bank ist leer. „Der nächste steht nicht mehr auf, dat sag ich euch!“, verkündet er.
Die Männer setzten sich in Bewegung und gehen gemächlich wie Spaziergänger in die dunkle Tiefe des Liebesgrundes hinunter. Sie wissen: Auch wenn die Frau sofort einen Notruf absetzt, haben sie noch viel Zeit; innerhalb der nächsten zehn Minuten wird weder eine Ambulanz noch die Polizei zur Stelle sein.
 

Wipfel

Mitglied
Hallo rotkehlchen, ganz stark! Du hast mit deiner Erzählung ein Werk geschaffen, welches die Zeit überdauern wird. Sowohl dein Sprachstil, als auch die Entwicklung der Personen überzeugen. Respektvoll und dankbar für diesen Text.

Grüße von wipfel
 



 
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