Anhalter Bahnhof – Alles aussteigen – Dieser Zug endet hier - Eins

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Ich war schon immer der Meinung, um ein Land oder zumindest eine Stadt richtig kennenzulernen, muss man sich erst in einen Einwohner verlieben.

Ich steige in den Zug nach diesem geheimnisvollen B, das ich schon immer mal besuchen wollte. Auf dem Bahnsteig gibt ein Vater seinem Sohn Lebensweisheiten mit auf dem Weg.

„Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft: Öffne, o öffne die Tür nicht Sondern Verwisch die Spuren!“ Brecht; Lesebuch für Städtebewohner1926

Der Reisegefährte, der mir gegenübersitzt, ist ein junger Mann. Wir kommen ins Gespräch. Es stellt sich raus:

„Er kannte keinen Menschen in dieser Stadt. Ein paar Adressen von Landsleuten, denen er empfohlen war, trug er wohlverwahrt bei sich, und die Namen zweier Straßen wußte er, sonst nichts von ihr. Arthur Kahane, Clemens und seine Mädchen 1918

Während der Fahrt steht er im Gang und schaut aus dem Fenster. Ich stelle mich neben ihn, und er erzählt mir, was ihm durch den Kopf geht.

„B! Schon in dem Namen der noch unbekannten Hauptstadt, im Gerumpel und Geratter der ersten Silbe und im leichten Klingen der zweiten war etwas, das ihn erregte wie die romantischen Namen guter Weine und schlechter Frauen.“ Nabokov; Bube Dame König 1928

Wir sind schon ein paar Stunden unterwegs, und müssten bald am Ziel sein.

„Ein Schnellzug brauste vorbei, gleich einem Teufelsspuk, der mit einem raschen Schall davonfliegt. Man merkte schon die Nähe der großen Stadt, die ihre steinernen Fühlhörner nach jeder Richtung sandte. …Die Arbeiter zogen schon zum Werk. … Der Riesengasometer einer Gasanstalt zeigte sich wie ein schwarzer Koloß, ganz nahe der Bahn. Dann wieder Fabriken, Häuserblöcke und endlich Schienenstränge, die nun zwischen halbbebauten Straßen lagen. Man verspürte die Stadt, ohne daß man sie sah.

… Die meisten hatten geglaubt, ein Paradies zu sehen, und nun erblickten sie nur graue Häuser, die traurig ihre Häupter reckten… »Ist das B?« fragte die blasse Frau, die sorgsam die noch halbverschlafenen Kinder in Mützen und Schals vermummte. … »Immer noch, Madamm«, erwiderte der Viehtreiber gemütlich und zündete sich die Pfeife an. Keiner sprach mehr ein Wort; niemand zeigte Teilnahme für den andern, ein jeder hatte den Blick auf seine Siebensachen gerichtet.
Max Kretzer; Der Mann ohne Gewissen 1904


Der Zug hält am Anhalter Bahnhof.

„Extrablatt, Extrablatt“, ruft ein Zeitungsjunge. Ich kaufe eine Zeitung am Bahnhof. Ein gewisser Kurt Tucholsky schreibt in seinem Artikel„Das Opfer einer Republik“

„Rathenau ist für die Republik ermordet worden, die ihn niemals geschützt hat. Die unmittelbaren Täter sind unerkannt entkommen. Die mittelbaren sind zu fassen.“ Kurt Tucholsky 1922

Und weiter unten in derselben Zeitung ist wegen dem Anlass ein Auszug aus einem Essay des Politikers, der nebenbei auch ein Dichter war und der„Die schönste Stadt der Welt“ heißt.

„Straßen, nichts als Straßen; aus Lärm, Geräusch und Getümmel, nirgends weder Ausweg noch Ausblick. Wer kann sich rühmen, er habe in B die Sonne untergehn oder ein Wetter heraufziehn sehn. Wir kennen den Himmel über unserem Kopf, das Pflaster unter unseren Füßen, - der Rest ist durch Mauern versperrt und verriegelt.“ Walther Rathenau; Die Schönste Stadt der Welt 1899

„Ich schaue mich nach meinen Reisegefährten um, dem jungen Mann, dem Mädchen und dem jüdischen Händler, mit denen ich mich unterhalten hatte.

„Der junge Mann blieb vor dem Bahnhofsgebäude stehen und wartete auf das Abenteuer.

Vor ihm lag die fremde Stadt. Ein Ungeheures, Riesengroßes stieg himmelan, Menschenmassen fluteten, eine strahlenweiße Helligkeit blendete, chaotisches Tosen und Lärmen unbestimmbarer Geräusche schlug die Luft. … Nicht Angst, auch nicht die leiseste Spur davon regte sich: nur grenzenlose Erwartung, Zuversicht, Ungeduld spannte ihn.“
Arthur Kahane; Clemens und seine Mädchen 1918


Mit mir zusammen an diesem Tag

„Eines Morgens, im Frühjahr 192?, kommt ein junges Mädchen mit dem Leipziger Zug auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an. Niemand erwartet sie. Niemand beachtet sie in dem Gewühl dieses Berliner Arbeitsmorgens, unter dem Rauch eines feuchten, traurigen Himmels. … ? aber ist allein. Sie hat nichts als ihr Herz und ihre jungen Jahre. Sie geht im großen Strom, aber die Menschen sind ihr noch fremd. Sie ist klein und unscheinbar, aber sie hat ein stolzes Herz. Sie steht allein in dieser Stadt B,.ein Büromädchen, eine schlecht bezahlte Tippse, ein kleines Mädchen von nicht ganz neunzehn Jahren, ... Aber sie wird sich nicht unterkriegen lassen von dieser verwirrenden Welt. Rudolf Braune; Das Mädchen an der Orga Privat 1930

Auch einen jüdischen Kaufmann hatte ich im Zug kennengelernt. Er heißt Simon Chajim Kaftan, und will in B Geschäfte machen. Ich laufe neugierig ein Stückchen hinter ihm her, und will schauen, was er macht.

„Kaftan steht unter dem donnernden Stadtbahnbogen, und seine dicken Lippen schmecken die milchige Luft ab.... Kaftan schauert. Erst langsam, dann immer heftiger sich verneigend, erst zögernd, dann immer heftiger: Scholem alejchem, Berlin! ... Do bin ich! ... a Giten Tog ... a Giten Tog! a Giten Tog! ... West du mir sein a freund? ... west du mir sein a feind? west du mir sein untertänig? Walter Mehring; Der Kaufmann von Berlin 1929

Ich fühle mich einsam.

„Die Stadt war riesengroß, die Häuser zu fremd nebeneinander, zu abweisend die Türen, die Straßen zu lang, die Plätze zu weit, man konnte in all diesen Räumen versaufen. Man wurde hergefegt vor einem unwirklichen Wind, verklemmt das Gesicht, eiskalt die Hände. Die wildfremden Menschen wichen vor einem nicht aus, man mußte sie schon scharf ansehen, bis die einmal so was taten und dann auch nur'im letzten Moment.“ Marieluise Fleißer; Avantgarde 1963

Ein lustiger Rotschopf steht an einer Ecke am Eingang des Bahnhofs, und sieht mich freundlich an. Ich schätze ihn auf ungefähr neunzehn. „Wie heißt du?“ frage ich ihn. “Ich bin B. Wenn du willst, zeige ich dir meine Stadt.” Ich folge meinem Stadtführer, da ich spüre, dass ich ihm vertrauen kann. „Ich hab dir gleich angesehen, dass du dich hier nicht auskennst.

Was suchst du eigentlich in B?” fragt er mich.

„Ich bilde mir ein, dass B die Stadt sei, die mich entweder stürzen und verderben oder wachsen und gedeihen sehen soll. Eine Stadt, wo der raue, böse Lebenskampf regiert, habe ich nötig. Eine solche Stadt wird mir gut tun, wird mich beleben.“ Robert Walser; Die kleine Berlinerin 1915


“Das hört sich ja richtig philosophisch an.” sagt er, und schüttelt dabei lachend seinen roten Lockenkopf.

“Als erstes möchte ich den Zoo kennenlernen.” sage ich.

“Die Tiere in den Käfigen im Zoo sehen nicht allzu unglücklich aus. Sie bekommen sogar Nachwuchs. ... Die erwachsenen Löwen langweilten sich. Die Tiger strichen an den Gitterstäben entlang. Die Elefanten raschelten mit der Haut. Besonders schön waren die Lamas. Sie haben ein warmes Wollkleid und einen leichten Kopf. ...Dem Äfferich (er ist ein Mann) ist den ganzen Tag langweilig. Um drei bekommt er zu essen. Er isst von einem Teller.” Viktor Schklowski; Zoo 1923

Wir setzen uns in ein Café am Bahnhof Zoo. Ein nettes junges Mädchen redet uns an.

“Aber es ist mir ein Frühling, B ist mir ein Ostern, das auf Weihnachten fällt, wo alles voll schillerndem Betrieb ist. Ich sehe die Männer und denke, das sind so viele, und es wird doch für mich einer sein, der atmet das ganze B aus sich heraus und auf mich ein. Und er hat schwarze Haare und ein Cachenez aus weißer vornehmer Seide. Ich liebe B mit einer Angst in den Knien und weiß nicht, was morgen essen, aber es ist mir egal. Irmgard Keun; Das kunstseidene Mädchen 1923

Sie bezahlt, steht auf und geht. “Na, die ist ja von B besessen.” sage ich zu meinem Freund.

Neben uns am Tisch saßen drei Männer und unterhielten sich.

"B ist eine noch unangenehmere Erscheinungsform der Welt als Wien." Sagte der eine. Albert Ehrenstein 1912

„Da stimme ich ihnen zu."
„B bleibt für mich das widerliche Zentrum sinnloser Betriebsamkeit.“ Ernst Toller; Briefe 1927

Ich wunderte mich darüber. „Wenn es ihnen hier nicht gefällt, was machen sie denn hier?“ frage ich. Einer antwortet mir.

„Weshalb hatte ich mich für B entschieden? Aus einer schicksalhaften Verbissenheit. Ich konnte nicht mehr los von B. Hier, hier allein galt es zu kämpfen, zu siegen oder unterzugehen!“ Gerhart Hauptmann; Das Abenteuer meiner Jugend 1935

Als sie gehen, lassen sie ein Buch auf dem Tisch liegen. Ich laufe ihnen hinterher, aber erwische sie nicht mehr. Ich blättere das Buch durch:

„Nur einen kurzen Gruß bekam ich plötzlich gestern von weitem von einer Blaumeise, und das hat mich ganz erschüttert“

Und ganz untern auf dem letzten Blatt steht:

“…Wenn Dittmann und Kurt Eisner freigelassen sind, können sie mich nicht länger im Gefängnis halten und auch Karl wird bald frei sein. Warten wir also lieber auf das Wiedersehen in B.

Bis dahin tausend Grüße.

Stets Ihre

Rosa“
Rosa Luxemburg; Briefe aus dem Gefängnis 1918


Der Kellner kommt. Ich gebe ihm das Buch. „Ich hebe es auf. Die drei sind Stammkunden.“ sagt er.

B nimmt mich mit auf seinem Streifzug durch die Stadt. Wir besuchen seinen Freund im Wedding.

Wir steigen in dem Haus von seinem Kumpel in der Kösliner Straße die Treppe hoch. Wir erleben folgende Szene:

„Der rundliche Herr klopfte jetzt noch einmal sehr laut und bestimmt. Nichts rührte sich hinter der Tür. »Frau Krüger, wenn Sie nicht freiwillig aufmachen, muss ich das Schloss öffnen lassen«, ... »Wat woll’n Se von mir … Se kommen hier nich rin … hol’n Se man jleich die Polizei!«“ Klaus Neukrantz; Barrikaden am Wedding 1931

Der Kumpel von B ist nicht da. Er nimmt mich mit zu einem Freund, der in der Müllerstraße, ebenfalls im Wedding wohnt. Zum Glück ist er da. Seine Nachbarn streiten sich laut.

„Der Vater war heute wieder einmal betrunken nach Haus gekommen. Er hatte seine Arbeitslosenunterstützung abgeholt und gleich die Hälfte davon vertrunken. Etwas schwankend war er angekommen. Da hatte die Mutter sofort gewusst, was los war – sie weinte und schluchzte und machte dem Vater die heftigsten Vorwürfe. Es wäre doch schon wenig genug, was er heimbringe, und davon müssten sechs Menschen leben. Wie er es fertig bekommen könnte, die Hälfte zu vertrinken!“ Ruth Rewald; Müllerstraße. Jungens von heute 1932

„Kommt ihr noch mit in mein Stammlokal?“ fragt sein Kumpel B und mich.

Wie gehen die Reinickendorfer Straße entlang. Vor einer Kneipe, die das „Nasse Dreieck“ heißt, verteilt jemand Handzettel:

»Empfehle den P. P. Gästen besonders mein Ia Logierhaus mit über einhundert Betten. Schon von 40 Pfennige an. Erstklassige Kabinen billigst - von 50 Pfg. an. Jeden Abend musikalische Unterhaltung! Mittwochs und Sonnabends von 5 Uhr ab Pellkartoffeln und Hering. Portion 20 Pfg." Otto Nagel; Die weiße Taube oder das Nasse Dreieck 1928

Wir treten in das Nasse Dreieck ein.

Ich lerne zwei Bekannte von ihm kennen. Sie werden Käse Willem und der Schwarze Karl gerufen. „Kommt ihr mit, Schmiere stehen bei einem Bruch?“ Ich bin neugierig.

„In dem dunklen Flur des altertümlichen Hauses in der Rosmarienstraße stand Käse-Willem fünf Minuten vor zwei Uhr nachts bewegungslos an die Wand gelehnt. Er trug einen Rucksack auf dem Rücken und einen Koffer in der Hand.

Wenige Minuten später öffnete sich langsam und etwas knarrend die Tür, und vorsichtig trat der schwarze Karl herein, ebenfalls mit einem Rucksack und einem Koffer, der anscheinend eine schwere Last barg.

»St!«

»St!«

»Willem?«

»Karl?«

»Pscht!«Lautlos stellte sich Karl neben seinen Komplizen an die Wand.

Einige Minuten vergingen. … Von der nahen Friedrichstraße klang der klappernde Trab eines Droschkenpferdes herüber, unterbrochen von heiseren Hupensignalen vorbeisausender Automobile. Die Großstadt war noch wach.

Kurze eilige Schritte näherten sich dem Hause.“
Adolf Sommerfeld; Der Tresor unter Wasser 1922


B sagt zu mir: „Geh lieber wieder zum Bahnhof zurück, und warte auf mich.“ Ich leiste seinem Wunsch Folge. Im Wartesaal lese ich in den Groschenroman, den B mir gegeben hat.

„Am Morgen des nächsten Tages flog Mabuse mit ihr von Stuttgart nach B. Dort lebte er, eingedeckt in die unentwirrbaren Schlüsse, die die Millionenstadt und seine Bande, deren Instinkte er ausbildete und benutzte, um ihn legten, nur dem einen Ziel entgegen. … Sein Fürstentum Eitopomar wartete mit Urwäldern, schwarzen Tigern, Klapperschlangen“ Norbert Jacques; Dr.Mabuse, der Spieler 1921

Zwei ungefähr dreizehnjährige Mädchen, die neben mir auf der Bank vom Wartesaal sitzen, fallen mir auf. „Abgehauen?“ frage ich sie. Die eine nickt.

„Wir fuhren dann die Nacht hindurch und waren um 5 Uhr früh in B. So mutterseelenallein. –

Da hatten wir beide Furcht – wir setzten uns auf Kätes Pappkarton und weinten beide.

»Käte, laß uns doch sehen, wann der erste Zug nach Neuburg fährt.« Wir suchten den Fahrplan, und als wir eifrig studierten, hörten wir Schritte hinter uns. – Es waren Arbeiter. Sie hatten eine derbe Aussprache und Käte sagte: »Ich fürchte mich, Grete, B scheint recht roh zu sein. Dieses Publikum paßt mir schon gar nicht.« »Es sind Arbeiter, Käte, wollen wir fragen, wo hier ein Mädchenheim ist? – Wir könnten dort die Stunden bis zum Abgang des Zuges verbringen.…Ich habe einmal von einer Friedrichstraße gehört, wir wollen einmal fragen, wo die Friedrichstraße ist. …“


Und dann sagt sie zu mir.

»O, liebes Fräulein, ich möchte ja nichts lieber als wieder ins Elternhaus zurück.« Elisabeth Kolomak; Vom Leben getötet 1926

Die beiden Mädchen tun mir leid. Für mein letztes Geld kaufe ich eine Fahrkarte in ihre Heimat für sie, und setze sie in den Zug, damit ich auch sicher bin, dass sie wirklich nach Hause fahren. Ich bin blank, weiß aber, dass ich mich auf B verlassen kann.

Da sehe ich ihn auch schon kommen. Ich erzähle ihm von den beiden Mädchen, und er sagt: „Du hast richtig gehandelt. Das hätte ich auch gemacht.“

Wir begegnen einem Freund von B, Heinz Müller. Er ist vor kurzem aus einem Erziehungsheim ausgebrochen. Auch B war dort schon gewesen.

„vom Baum sprang ich über den Zaun ins Bahngelände und von so schlich ich mich zum Bahnhof aber auf die andere Seite wo eingestiegen wird der Zug rollte ein er hatte lange Aufenthalt und ich legte mich auf das Trittbrett des letzten Wagens … . Dort schlief ich vor Müdigkeit ein aber kurz vor dem Stettiener Bahnhof wachte ich auf“ Peter Martin Lampel; Du Mörder meiner Jugend 1928

erzählt Heinz uns.

Wir gehen alle in ein Lokal in der Danziger Straße.

„Große Restauration. Zu jeder Tag- und Nachtzeit warme Speisen. Billard.“ stand in weißer Schrift auf den trüben Scheiben der Schaufenster. Und als Besitzer des „Großen Restaurants“ zeichnete ein Herr Isaak.“ In dem geräumigen Zimmer, das durch das graue Frühlicht nur wenig erhellt wurde, saßen an schmutzigen Tischen, die des Tischtuches entbehrten, die Gäste. Es mochten über hundert Personen sein.“

Die Tür flog auf. „Kriminalpolizei, Razzia, alles mitkommen.“

“Die zweihunderten Eingelieferten nahmen auf dem Hofe des 105. Polizeireviers Aufstellung.

Der lange Polizeileutnant war aus seinem Bureau heruntergekommen, um die Leute zu mustern und ihrer Abfertigung beizuwohnen. „Wer eine feste Wohnung hat, und polizeilich gemeldet ist, vortreten!!“ Von dem Haufen der Zweihundert lösten sich fünf Männer los, die mit stolzer Miene vor den Polizeileutnant hintraten. Der revidierte ihre Papiere. Sie waren in Ordnung. „Entlassen!“
Leo Heller; Berliner Razzien 1924


Auch wir wurden entlassen.

Mit uns zusammen hatten sie auch einen hageren Mann mitgenommen, dessen Alter unbestimmbar ist. Ich höre folgendem Dialog zu:

„Oberwachtmeister „Aha! Vorbestraft. Sogar im Widerholungsfall. Sie sind ja ´n ganz schwerer Junge.Voigt Ick weeß nich, Herr Kommissär, ick werd in letzter Zeit immer leichter. Besonders seit ick aus der Plötze raus bin, da ha´ck fast nur Luft in de Knochen.“ Karl Zuckmayer; Der Hauptmann von Köpenick 1931

Neben mir unterhalten sich ein paar Männer. Ich traue meinen Ohren nicht, als ich mitbekomme, worum es geht. Sie wollen doch tatsächlich eine Bombe hochgehen lassen.

"Sie stritten über das Objekt ihres Angriffs. Einige wollten den Reichstag, andere die Polizei. Andere rieten zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. … Man hatte sich auf die Siegessäule geeinigt. Joseph Roth; Das Spinnennetz 1923

So was kann einem nur in B passieren, denke ich.

“Wo schläftst du?”, frage ich meinen Stadtführer. “Ich übernachte im Tiergarten. Wenn du willst, kannst du mitkommen.”

Ich folgte ihm, denn für mein letztes Geld habe ich die beiden Fahrkarten für die Ausreißerinnen gekauft.

„Er schwenkte seitwärts in das Dickicht und setzte sich auf eine Bank, die den Tag über Kindermädchen und schuldlosen Kleinen gewidmet war.

Des Abends aber, wenn die Fledermäuse durch die Dämmerung huschen, wenn die Fittiche der Nacht sich über alles Schreckliche und Grauenhafte senken, das möglicherweise passiren kann, dann nehmen fadenscheinige Gestalten auf jenen Bänken Platz, unheimliche Menschen, die das Licht fliehen, weil sie mehr als Ursache dazu haben.

Gründe, sich nicht sehen zu lassen, giebt es in B reichlicher als Brombeeren.“
Julius Stinde; Emma das geheimnisvolle Hausmädchen 1904


Mit Erstaunen sah ich, wie Männer mit anderen Männern im Gebüsch verschwanden. Auf unsere Bank setzte sich ein Mann in Frauenkleidern, und redete mich an. Er sah meine Blicke. „Ich bin Sexualwissenschaftler.

„Seit alters spielt auf diesem Gebiete der Tiergarten in einigen seiner Partien eine besondere Rolle. Es gibt wohl keinen zweiten Wald, der so mit Menschenschicksalen verwoben ist, wie dieser über 1000 Morgen große Park. Nicht seine landschaftlichen Schönheiten, nicht der künstlerische Schmuck, der Menschen Leben, Lieben und Leiden verleihen ihm seine Bedeutung.

Wenn es aber Abend wird und sich anderen Welten die Sonne neigt, mischt sich mit dem Hauch der Dämmerung ein Hauch, der suchend und sehnend aufsteigt aus Millionen irdischer Wesen, ein Teil des Weltgeistes, den manche den Geist der Unzucht nennen, und der doch in Wahrheit nur ein Bruchstück der großen gewaltigen Triebkraft ist, die, so hoch wie Nichts und so niedrig wie Nichts, unablässig gestaltet, waltet, bildet und formt.“
Magnus Hirschfeld; Berlins drittes Geschlecht 1904

Ich lausche interessiert dem, was er mir erzählt.

„Geht ein Glatzkopf eines Abends spazieren, trifft im Tiergarten einen hübschen Jungen, der gleich unterhakt, sie wandeln ein Stunde Lust, dann hat der Glatzkopf den Wunsch, o den Trieb, o die Begierde, kolossal, im Augenblick, ganz lieb zu dem Jungen zu sein. Er ist verheiratet, er hat das schon manchmal gemerkt, aber jetzt muss es sein, das ist ja wunderschön. „Du bist mein Sonnenschein, du bist mein Gold.“ Alfred Döblin; Berlin Alexanderplatz 1929

Der Mann im Kleid verstummt, und steht auf. Dafür bleibt jetzt ein sehr gesetzter Herr vor uns stehen. Drei Meilen gegen den Wind sieht man ihm den Beamten an. „Die Homosexuellen sind harmlos.“ sagt er.

„Aber noch andere Gäste birgt der Park, gefährliches Gesindel, das die harmlosen Pärchen belauert, um ihnen durch einen raschen Griff Uhr und Brieftasche zu entreißen oder aber durch Drohungen ihre Herausgabezu erzwingen. Nicht selten schleicht es sich auch leise an ein in Liebesträumen versunkenes Paar heran unsteht plötzlich drohend vor ihm, um mit dem Recht des Stärkeren über die Überraschten herzufallen und sie auszuplündern. Dann kann der überrumpelte Kavalier sich noch glücklich schätzen, wenn ihm wenigstens seine Kleidung verbleibt und der Räuber ihn nicht zwingt,halbbekleidet seine Dame nach Hause zu begleiten.“ Ernst Engelbrecht; In den Spuren des Verbrechertums 1931

Nachdem er uns diese Warnungen erteilt hat, geht er weiter.

Wir machen uns auf einer Bank lang, und versuchen zu schlafen, schrecken aber schon bald durch Geräusche auf.

Und jetzt krachte ein Schuß im Gebüsch.“

Ich sprang auf. B ebenfalls.

“Ohne Rücksicht auf seine Kleider drang er in das Gebüsch, woher der Schuß gekommen. …Es war ein junger Mann ungefähr in demselben Alter wie er; der Kopf hing ihm zur Seite, er schien bewußtlos. Aus einer kleinen Wunde an der Schläfe rieselte Blut. …Er preßte sein Taschentuch auf die Schläfe des Fremden, eine ganze Weile hindurch; plötzlich schlug der junge Mann die Augen auf, seufzte und lächelte schwach, wie geistesabwesend. Dann murmelte er:»Da – der Ring, – bitte gleich – rasch – Josepha – Luisendenkmal – gleich –«Er streckte Arnim die Hand hin. Da steckte ganz lose ein schmaler Reif mit einem Türkis, ein bescheidenes Ringlein. Noch einmal murmelte der Sterbende:»Nur rasch!«“ Paul Blumenreich; Der Selbstmörder 1904

Zum Glück trifft die Polizei bald ein.

Wir versuchten wieder einzuschlafen.

Aber was war das? Wir horchen auf.

»Nein . . . nie . . . nie und nimmer . . .« wehrte die sich sträubende Jungfrau ab. Der bergende Schleier war gefallen. Ein süßes Mädchenangesicht ward von dem Lichte des Vollmondes getroffen, der neugierig durch die Lücken der Baumäste lugte. Lebenslustige, jetzt freilich thränenumflorte Aurikelaugen blickten zu der ebenso glänzenden wie gefühllosenNach den neuesten Forschungen der Astronomen hat der Mond nie Gefühl gehabt, da ihm jegliche Feuchtigkeit und somit auch Nerven mangeln, ohne welche kein Gefühl zu Stande kommt wie z. B. kitzeln. Das Lächeln des Mondes ist daher noch nicht genügend erklärt. Scheibe des nächtlichen Begleiters unseres sich rotirenden Jammerthales empor.

»Es muß . . . es muß!« sprach halblaut eine rauhe Baßstimme, die der männlichen Hälfte des vermummten Paares angehörte.

»Nein! Nein!« schluchzte das liebliche Mädchen und versuchte zu entfliehen.“
Julius Stinde; Emma 1904

Wir halten den Kerl fest, bis Hilfe kommt, währenddessen das Mädchen wegläuft.

„Das, was wir hier erleben, gibt es ja in keinem Groschenroman.“ sage ich zu B.

Nach dieser turbulenten Nacht im Tiergarten, erwache ich morgens als erster, und lese mir die Schlagzeilen der Zeitungen durch, mit der wir uns zugedeckt hatten:

„– erfolgreichen Razzia vier Spielhöllen auszuheben und in der Motzstraße 296 die Eheleute Krusis zu verhaften, die dort gegen Eintrittsgeld eine Nacktvorstellung gaben.

n einem Abteil der Ringbahn fand man eine angebohrte Zinnbüchse, die, wie festgestellt wurde, die Überreste des im April eingeäscherten Rennfahrers Zierbold enthielt und vermutlich von einem enttäuschten Dieb – –

Perserteppiche, alte Gebisse, Gold, Brillanten, Pfandscheine, Korken, Armeepistolen kauft oder tauscht gegen Lebensmittel – Isidor Rosenmilk, Spittelmarkt.

– kürzlich vermeldete Attentat Unter den Linden mit bolschewistischen Umtrieben im Zusammenhang –

Zu dem Artikel »Menschenfleisch in Ziegenleberwurst« erfahren wir von zuständiger Seite – – –„
Joachim Ringelnatz; liner Roma 1924


Auch die Vossische Zeitung musste uns als Unterlage dienen. Der Gerichtsreporter Inquit schreibt:

„Der B iner weiß vom Osten, dass bis zur Jannowitzbrücke etwa das B reicht, das wir kennen und in dem wir leben. Dahinter beginnt eine fremde Stadt, es beginnt das, was der Bürger mit Gruseln als Unterwelt bezeichnet und sich von seiner Welt zunächst nur durch seine unentrinnbare Trostlosigkeit unterscheidet.“ Moritz Goldstein Vossische Zeitung 1929

In einer anderen Zeitung steht:

“Kurz vor Schluß der Redaktion geht uns die Nachricht zu, daß in der Frühe des heutigen Morgens im Grunewald ein Pistolenduell …bei dem Fritz Helldorf, wie verlautet, durch einen Schuß, der vermutlich die Lunge verletzte, so schwer verwundet wurde, daß an seinem Aufkommen gezweifelt wird. … Im Laufe des Abends gerieten die beiden Herren Lu Courcelles’ wegen in Streit, ...Mademoiselle Courcelles, die unter dem Namen: ‚La belle Lu‘ in Pariser Theater- und Lebekreisen allgemein beliebt und bekannt ist, äußerte sich wie folgt: ‚Ich bin von dem unglückseligen Ausgang des Duells auf das tiefste erschüttert.” Arthur Landsberger; Lu die Kokotte 1912

Auf den Bänken neben uns, werden nun auch die anderen munter.

„In dieser Minute fiel im Tiergarten der Arbeitsbursche Hans Schulz im Schlaf von der Bank. Ach so! Ja, er war nicht mehr zu Hause. Ach so, ja, er schlief jetzt im Tiergarten auf einer Bank. Verdammt, ist das kalt. Und der Kohldampf … . Von der Charlottenburger Chaussee tanzen die Lichter der Straßenbeleuchtung. Autos rauschen vorrüber. Autos, viele Autos. … Hierbleiben? Die Bank war nass und es nieselte ein bißchen von den Bäumen. Die Beine waren kalt. Und der Kohldampf... Im Gebüsch raschelt und knackt es. Jetzt wurde Hans wach.“ Justus Ehrhardt; Straßen ohne Ende 1931

Die Stadt B schüttelte sich den Schlaf aus den Augen.

“Im Morgendämmern, wie etwas ganz sonderbares, erhebt sich Vogelgeschwätz. Die Spatzen, die Nachtigallen der Stadt. Wovon ernähren sie sich in dieser brotlosen Zeit? Wovon ernähren sich... – Ein hackender Schritt ertönt, vom Echo der andern Seite geprügelt. Arbeiter mit klappernden Kannen eilen. Dicke Bündel farbloser Röcke schleppen Gemüsekörbe zur Markthalle. Das Volk der Angestellten schwärmt aus, Sklaven. Pedanten, die das Ende eines selbstgekauften Bleistiftes erleben. Bleich, kurzsichtig gewordene Mädchen. Ein gewisser, beinahe familiärer Kommunismus des Kontorlebens bewirkt es, daß sie mit einer Art Heimatgefühl in die kahlen Büros ziehen.” Joachim Ringelnatz; liner Roma 1924

Auch mein Freund B erhebt sich von seiner Bank. „Komm mit ein meine Stammkneipe, frühstücken.“ Dort begegnen wir seinen Kumpels.

„Rosenthaler Platz, Mulackstraße, dann in die Rückerstraße. Hinein in die Stammkneipe aller Cliquen rund um den Alexanderplatz, in die Rückeklause. Trotz der frühen Stunde ist die Klause voller Gäste. Sie ist mehr als eine bloße Kneipe. Sie ist eine Art Zuhaus für den, der es nicht hat. Lärmende Lautsprechermusik, lärmende Gäste. Die Unappetitlichkeit des Büffets, der biernassen Tische, der schmutzschwarzen bekritzelten Wände, störrt niemanden. … Der Kellner bringt schauderhafte, aber wenigstens heiße Boullion. Dann wird die Vertilgung der Schrippen und Würste in Angriff genommen. … Gesättigt sind sie. Müdigkeit kommt auf. Die Köpfe sinken auf die Tischplatte.“ Ernst Haffner; Blutsbrüder 1932

Ein Gespräch am Nebentisch:

“Meine Mutter hat mir noch uff s Sterbebette jesagt det ick von mein Vater bin und er hat mir uff n Jewissen. Er hat sitzen müssen wejen mir und weiß Gott, ich will auf der Stelle erblinden, wenn ich Schuld war. Ich war zwölf Jahr, da hat er mir schon beklaut und habe zugesehn wenn er nacht's bäuchelte. Wie Mutter krank wurde und se hat lange gelegen, brauchte sie ihr Bett alleene und ick mußte bein Vater schlafen, da hat er mir jleich nen verpaßt. Mutter is' in Urban gestorb'n, sie hat alles jewußt, aber nischt verraten. …Vor een Jahr hat er sich erst erseeft, nacht' s von die Brücke wo ick nach zwölwe immer stehe. An det eiserne Jeländer hat er mitjearbeet, er war Kunstschmied.“ Heinrich Zille;Hurengespräche 1913

Eine Frau begrüßt ihn. „Hallo Ernestine.“ sagt B. „Was ist mit dir passiert?“

“Sie zeigte auf die fürchterliche Narbe, die ihren üppigen, mattroten Mund zerteilte. »Das ist der Denkzettel, den er mir gelassen hat. Da war's aber auch Ebbe, da habe ich ihn vermasselt, angezeigt.daß er hochgegangen ist wien' Luftballon verhaftet worden ist.... Bloß nachher uf die Fahrt von Moabit nach de Rummeline, Rummelsburger Arbeitshaus.da is er getürmt geflohen., und die ganze Polente Polizei.stand da wie Seebach mit de Klöße ...« Hans Hyan; Der Rächer 1925

„Harte Sitten in dieser Stadt B.“ denke ich bei mir.

Aus einem Grammophon in der Kneipe ertönt eine freche Frauenstimme, die lauthals schmettert:

„ Doch schon nach vier Wochen wollte mir im kleinen scheinen, dass bei mir nicht alles stimmt. ...Ich jing zu Frau Scharpke, Mulackstraße 5, Bitte stark klopfen, zu bestimmtem Zweck und sagte ene mene bing bang... und dann war es weg. Das war im Norden von Berlin. Jetzt bin ich wieder auf´n Kien, von früh bis abends Tauentzien.“ Claire Waldoff; Die Großstadtpflanze, Text von Erich Einegg 1929

„Wer ist die Sängerin?“ frage ich B. „Claire Waldoff. Jeder kennt sie.“ antwortet er mir.

B zeigt auf den Vierertisch neben uns. „Da sitzen hundert Jahre Knast zusammen.“

Ich erkenne den Mann wieder, den sie mit uns zusammen in dem Lokal in der Danziger verhaftet haben, und den der Kommissar mit Wilhelm Voight anredete. Er berichtet gerade seinen Tischgenossen über seine kürzlich erfolgte Entlassung aus Tegel.

„Ein Gefühl des Wohlbehagens durchströmte mir Leib und Seele. So lange in der trostlosen Einsamkeit, in die kaum ein Ton menschlichen Lebens hineindringt! Ich glaube nicht, daß ich in der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Tegel fünfzig Menschen außerhalb der Gefängnismauern gesehen habe. Wenn auch mein Blick über die Mauern hinausreichte, so war doch die Gegend, die ich übersehen konnte, so abgelegen, daß selten ein menschlicher Fuß sie betrat. Ich konnte nur Sand, Fichten und das Laub der Bäume sehen. Mit einem gewissen Wohlbehagen durchschritt ich die Straßen des Vorortes und freute mich an den wandernden, fröhlichen Menschen.“ Wilhelm Voigt; Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde 1909

Danach macht sich unsere Clique noch woanders hin auf. B sagt zu mir: “Komm mit!”, und neugierig folge ich den Jungen.

„Winzige Glieder einer sich durch den langen Industriehof und zwei Etagen windenden müden Menschenschlange stehen die 8 Jungen der Clique ? Warten gleich den hundert anderen darauf, endlich aus der furchtbaren Naßkälte in die warmen Wartesäle gelassen zu werden. Drei, vier Minuten wird es noch dauern. Dann, acht Uhr pünklichst, wird in der zweiten Etage die schwere Eisentür geöffnet. Das Bezirkswohlfahrtsamt Berlin-Mitte in der Chausseestraße hat den ersten Ruck zur Ingangsetzung seines bürokratisch komplizierten Betriebes getan. … Die acht Jungen haben eine ganze Bank ergattern können, kümmern sich um keinen Aufruf und schlafen, dösen vor sich hin. Sie waren die ganze endlose Winternacht auf der Straße.“ Ernst Haffner; Blutsbrüder 1932

„Wir sehen uns heute Nacht am bekannten Ort.“ rufen seine Kumpels B hinterher, als wir beide nach drei Stunden das Wohlfahrtsamt verlassen. Das musst du unbedingt kennenlernen. sagt B. Es stellte sich heraus:

„Der bekannte Ort war der alte Bahnhof der Nordens. Früher wimmelten hier Menschen, strahlten Bogenlampen, brausten bei Tag und Nacht die Züge aus und ein. Dann wurde der neue Bahnhof der Nordens erbaut; alle Züge wurden umgeleitet, alle Menschen strömten dorthin. Am Portal der alten Bahnhofs wurden die Eisengitter geschlossen, seitdem stand die Halle verlassen und finster da. … DerMond schien, aber die Jungen hielten sich im Schatten der Mauern. Es war, als tauchten sie plötzlich irgendwo aus dem Boden auf. Jeder mußte dem Wächter an der Tür zum Wartesaal ein geheimes Stichwort ins Ohr flüstern, dann durfte er hinein.“ Wolfgang Durian; Kai in der Kiste 1924

„Warst du schon mal in Pommern?“ fragt mich B. Komm mit mir.

„Hoch oben im Norden Berlins gibt es einen Stadtteil, der unter dem Namen: »Pommersches Viertel« bekannt ist. Diese Bezeichnung ist ihm aus dem Grunde beigelegt worden, weil seine Straßen die Namen pommerscher Städte führen. Wir finden da eine Rügener Straße, ferner eine Wolliner, eine Demminer, eine Swinemünder Straße u. s. f. In diesem Stadtviertel herrscht ein sehr stilles Leben. Hier wird man nicht gewahr, daß man sich in den Straßen einer Großstadt befindet. … Die Männer, denen wir auf der Straße begegnen, tragen zum größten Teil Arbeitsjacken und die Frauen gehen in verschossenen Kattun-Kleidern und in abgetretenen »Filzparisern« einher. Da hört man selten ein fröhliches Lachen, da sieht man selten rote, frische Wangen, von denen einem die Freude des Daseins entgegenlacht. Ernst und still gehen hier die Menschen ihres Weges, auf den blassen, vergrämten Gesichtern die Spuren von Elend und Sorge.“ Arthur Zapp; Berliner Skizze 1887 - 47

Wir gehen in einen Park Auf der Bank neben uns unterhält sich ein Pärchen.

»Nein, Kurt, das solltest du nicht von mir verlangen!« sagte sie zürnend.Er sah ihr bittend ins Gesicht und griff beschwichtigend nach ihrer Hand, die sie ihm nach leichtem Widerstreben überließ.»Sei doch nicht so – so spießbürgerlich, so kleinstädtisch, Lisbeth! Du bist doch schon fünf Jahre in Berlin und solltest etwas modernere, freiere Ansichten haben.«»Modernere?«Es zuckte bitter um ihre Mundwinkel.Modern nennst du das, wenn ein junges Mädchen einen Herrn in seiner Wohnung besucht? Ich nenne das unpassend.« Arthur Zapp; Junggesellinnen 1921

An einem Frisörladen am Pariser Platz hängt ein Schild: Heute alle Haarschnitte zum halben Preis. Ich möchte auch gerne einen modernen Bubikopf haben, wie ihn jetzt alle Berlinerinnen tragen. Vor dem Friseurladen stehen zwei frischfrisierte Frauen.

“SCHLANKE DAMEUnd man kann alles essen, sagen Sie?VOLLSCHLANKE DAMEBei der Helen-Bross-Diät alles! Und dabei nimmt man300 Gramm in der Woche ab.SCHLANKE DAMENicht mehr?VOLLSCHLANKE DAMEMehr macht Falten. Um acht Uhr eine halbe Zitrone,um 10 Uhr eine Tasse schwarzen Kaffee.SCHLANKE DAMEhoffnungsvollMit Zucker?VOLLSCHLANKE DAMEOhne! Um 12 Uhr eine Scheibe Roggenbrot.SCHLANKE DAMEwie obenMit Butter?” Vicki Baum; Pariser Platz 13 1931

B zieht mich am Ärmel: „Komm weiter, du bist schön genug.“ Ich fühle mich geschmeichelt durch seine Worte.

Eine Frau winkt uns auf der Straße zu sich. Geht zu der Dienstmädchenversammlung. Heute redet Lilly Braun. Wir gehen mit ihr in den Saal. Dienstmädchen schildern ihre Situation.

« Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit: »Eine Stulle mit Schweineschmalz am Abend, — während der Herr drinnen Rotwein trinkt zu fünf Mark die Flasche ...« Vor allem aber: »Nie ein Stündchen freie Zeit ... Wir schrubbern und kochen, während die Herrschaft spazieren geht, ... wir hüten die Kinder, während sie tanzen ...« Dazwischen schüchterne Bitten der Ängstlichen und Gutmütigen: »Nur ein wenig geregelte Arbeitszeit, — und freundliche Worte statt des ewigen Zanks“ Lily Braun; Memoiren einer Sozialistin 1911

Hinterher fragt mich B: „Kommst du noch mit in die Grenadierstraße, da kannst du 94 prozentigen Schnaps probieren?“ Da lasse ich mir natürlich nicht entgehen.

„Hier in der Grenadierstraße, deren Läden mit den hebräischen Aufschriften und den merkwürdigsten Namen das Fremdartige sofort erkennen lassen, herrscht im Sommer ein lebhaftes Treiben wie auf einem öffentlichen Markt in Galizien oder Polen.
Wird fortgesetzt
 
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Lokterus

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Hallo Berlinerin,

bezugnehmend auf deine Worte in „Im Freundschaftszug - Sehnsucht nach dem Baikal“, lass dir versichert sein, es kommt was rüber. Und es interessiert. Dein Projekt ist der Wahnsinn. Ich habe den ersten Teil gelesen und frage mich, wie lange du gebraucht hast alle Zitate zusammen zu tragen.

Es ist eine interessante Art, Berlin kennen zu lernen. Meine Arbeit führt mich gelegentlich nach B und ich muss gestehen, dass ich die Stadt nicht mag. Vielleicht schafft es dein Text, das ein wenig zu ändern.

Da du dich diesmal mit eigenen Sätzen sehr zurück halten konntest, sind mir nur hier und da einige Flüchtigkeitsfehler aufgefallen. Ich freue mich auf die anderen Teile der Reise.

Liebe Grüße
loki
 
Hallo Loki,
Du fragst, wie ich auf die Idee gekommen bin, mich in so eine Arbeit zu stürzen. Ich war einmal befristet bei einem Projekt dabei, wo es um Hundert Jahre Groß Berlin ging. Da wir nicht übermäßig viel zu tun hatten, kam ich auf die Idee ein Quiz über Berliner Autoren aus allen Zeiten auszuarbeiten, über Fontane, Helene Hegemann, Alfred Döblin, Kay Luther usw. Die Anderen waren begeistert, aber unser Chef war unsicher wegen den Urheberrechten. Deshalb wollte ich auf Nummer sicher gehen und erstellte ein neues Quiz, wo es nur um Werk ging, die mindestens hundert Jahre alt waren.
 
Hallo Loki,
Du fragst, wie ich auf die Idee gekommen bin, mich in so eine Arbeit zu stürzen. Ich war einmal befristet bei einem Projekt dabei, wo es um Hundert Jahre Groß Berlin ging. Da wir nicht übermäßig viel zu tun hatten, kam ich auf die Idee ein Quiz über Berliner Autoren aus allen Zeiten auszuarbeiten, über Fontane bis Helene Hegemann, Plenzdorf, Alfred Döblin, Kay Luther usw. Die Anderen waren begeistert, aber unser Chef war unsicher wegen den Urheberrechten. Deshalb wollte ich auf Nummer sicher gehen und erstellte ein neues Quiz, wo es nur um Werke ging, die mindestens hundert Jahre alt waren, und bei dem die meisten Autoren schon seit siebzig Jahren nicht mehr unter uns weilen.
So stöberte ich diese, teilweise vergessenen, Berliner Schriftsteller auf. Ich bemerkte erstaunt, denn das hatte ich nicht gewusst, dass fast alle Juden waren, und die Meisten davon das Ende der Nazizeit nicht mehr erlebt hatten. Wenn man mal nach den Lebensdaten googelt, wird man geschockt. Viele konnten auch nach dem Krieg nicht wieder an ihre Erfolge anknüpfen und wurden vergessen.

Außerdem stellte ich fest, dass eigentlich die Schriftsteller, die man heute noch kennt, auch die besten waren: ich nenne mal Alfred Döblin, Joseph Roth, Nabokov, Leonhard Frank usw.
Qualität setzt sich wohl doch irgendwie durch.
Ich habe aber auch Lily Grün, "Herz über Bord", und Irmgard Keun, "Das kunstseidene Mädchen" entdeckt, die gute Bücher über junge Mädchen, die hier in B gestrandet sind, geschrieben haben.

Viele Romane waren interessant als Zeitzeugnis aber hanebüchener Blödsinn, eben so in dem Stil geschrieben, der vor hundert Jahren angesagt war.
Mir fiel der Schriftsteller Arthur Zapp auf. Er hat ja bergeweise Berlinliteratur verfasst. Er hat ja scheinbar Tag und Nacht nur geschrieben.
Ich habe auch Abschnitten über das Scheunenviertel, in dem bis 1933 viele Ostjuden wohnten, sehr viel Raum gegeben. Einfach deshalb, um diesem untergegangenen Stück B neues Leben einzuhauchen, wenn auch nur mit Texten aus vergessenen Büchern.

Aber auch mein neues Quiz wurde nicht akzeptiert. Deshalb machte ich einfach daraus eine Geschichte, in der jemand in B eintrifft und auf dem Bahnhof jemanden kennenlernt, der sie durch die Stadt führt. Gruß Friedrichshainerin
 



 
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