Anna und die Außerirdischen

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Wasserlinse

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Anna und die Außerirdischen

Anna erwachte. `Was war das?` Sofort war sie hellwach, obwohl sie nur kurz geschlafen haben konnte. Sie lauschte. Da war doch ein fremdes Geräusch. Das hatte sie noch nie zuvor gehört.
Jetzt hörte sie es wieder. Sie hielt den Atem an. `Sollte sie besser laut schreien? Nein, niemand würde sie hören.` Sie überlegte:
`Wenn jemand in ihrem Zimmer war, könnte es besser sein, wenn sie nicht entdeckt wurde.` Anna zitterte vor Angst.

„Wir sind bald wieder zurück. Schlaf schön!“, hatte die Mutter gesagt. Bevor sie aus dem Zimmer ging hatte sie noch das Fenster gekippt.
Annas Eltern waren zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. „Heute ist so ein herrlicher, milder Frühlingsabend. Wir gehen zu Fuß, es ist ja nicht weit“, hatte die Mutter gesagt. „Wenn etwas sein sollte, ruf einfach an. Die Nummer liegt neben dem Telefon.“ Der Vater hatte gelacht: “Was soll denn schon sein? – Anna braucht doch nun wirklich kein Kindermädchen mehr.“

Normalerweise schlief Anna zusammen mit ihrem Bruder Vivian in einem Zimmer. Doch diese Woche war ihr großer Bruder im Schullandheim.
Anna hatte sich riesig gefreut. Endlich mal ein Zimmer für sich alleine.
Große Brüder können ja ganz schön nerven. Und immer wollte er bestimmen, welche Musik gehört wird, wer, wo was bauen darf. natürlich gab es immer wieder Streit.
Nie hätte Anna geglaubt, dass sie ihren Bruder so schnell vermissen würde. `Was würde er jetzt wohl tun?`, fragte sie sich. `Würde er die Eltern oder gar die Polizei anrufen?`
„Eins, eins, Osterei, dann kommt die Polizei!“ Anna wusste diese Nummer auch auswendig. Aber das Telefon stand im Erdgeschoss, da hätte sie erst die Treppe hinunterlaufen müssen.

„Grrr, chch, grrr!“ Da waren sie wieder diese sonderbaren Geräusche. Jetzt hörte sie ein Fauchen, das fast so klang, wie eine kleine Dampflok.
Anna zog sich ihre Bettdecke über den Kopf und drückte ihr Lieblings- Kuscheltier ganz fest an sich. Diese Plüschschlange hatte sie von ihrer Patentante geschenkt bekommen: „Die wird dich beschützen. Die sieht so echt aus, da läuft jeder Einbrecher davon.“
Tatsächlich hatte Oma laut aufgeschrieen, als sie einmal in Annas Zimmer schaute und die Schlange auf dem Bett entdeckte.

Aber waren das überhaupt Einbrecher? Das waren doch keine menschlichen Laute! Was konnte das nur sein?

Papa hatte ihr oft Tiergeschichten vorgelesen. Ihre Mutter las lieber Märchen vor, mit Feen, Zauberern oder Zwergen. Vivian hatte viele Bücher über Ritter oder Piraten.
Anna liebte Gruselgeschichten.
Seit sie selbst lesen kann, durfte sie sich ihre Bücher selbst aussuchen. Alle zwei Wochen ging sie mit ihrer Freundin Julia in die Leihbücherei, gleich neben der Kirche. Nach einer Woche tauschten die Freundinnen dann ihre Bücher. In der Pause gab es dann immer etwas zu erzählen: „Bist du schon im Geisterschloss? – Oh Mann! Dann wird es erst richtig spannend!“
Seitdem waren die zwei Freundinnen richtige Leseratten geworden.
Wie schnell die Zeit vergeht, wenn sie ihre Nasen in die Bücher steckten. Sie liebten beide Geschichten mit Gespenstern oder gar Vampiren. Anna mochte es sehr, wenn sie beim Lesen eine richtige Gänsehaut bekam.

Doch jetzt steckte sie selbst mitten in einer solchen Geschichte. Diese fremden Geräusche wurden immer lauter. „Sie kommen näher!“ Annas Herz klopfte bis zum Hals. „Bestimmt waren das Außerirdische? Fremde Wesen von einem anderen Stern? - Aber wieso waren sie ausgerechnet in unserem Garten gelandet?“, fragte sich Anna.
Sie wusste: In alten Science-Fiction – Geschichten kamen solche Wesen meist vom Mars. Aber ihr Vater hatte behauptet: „Wir wissen heute ganz genau, dass es dort keine Marsmännchen gibt.“
Schade, hatte Anna damals gedacht. In ihrer Fantasie hatte sie sich niedliche grüne Männchen mit kugelrunden Köpfen und großen Glubbschaugen vorgestellt. Also eher kleine, süße Biester, aber keine grässlichen Monster. - Und außer dem Mars kannte Anna nur noch den Jupiter und den Saturn. Welcher Planet war nun weiter von der Erde entfernt? Sie wusste es nicht mehr. Aber das war jetzt auch gar nicht so wichtig.
Anna hatte schreckliche Angst. `Würden diese Wesen vielleicht die Mauer hochklettern?` Sie überlegte: `Um zum Fenster hereinzukommen müssten sie sehr klein sein.` Aber auch vor kleinen Lebewesen fürchtete Anna sich, besonders vor den Spinnen. Plötzlich stellte sie sich die Außerirdischen mit acht langen, haarigen Beinen vor. Sie hatten zangenartige Mundwerkzeuge und einen großen Giftstachel, wie die Teufelsrochen in der Tiefsee.
`Und Spinnen kriechen auch durch kleinste Ritzen. Sie können sogar an der Decke herumlaufen. Vielleicht können das diese Außerirdischen auch`, dachte Anna entsetzt.
Ihre Mutter fing Spinnen im Haus immer lebend, mit einem speziellen Insektenfanggerät. Sie nannte es „Snapy“ und es sah so ähnlich aus, wie Annas Becherlupe, nur eckig und mit einem Griff. Hatte sie mal ein besonders schönes Exemplar gefangen, zeigte sie es ihrer Tochter.
„Wie schön diese Tierchen doch sind!“, schwärmte Annas Mutter. Aber Anna ekelte sich immer davor. Sie würde nie freiwillig eine Spinne anfassen – und sei sie auch noch so winzig.

Die gefangenen Achtbeiner wurden dann im Garten wieder freigelassen. Im Winter, wenn es draußen frostig war, trug Mutter sie sogar in den Keller. Es half nichts, dass Anna dagegen protestierte. „Diese armen Tierchen würden doch sonst gleich erfrieren“, erklärte ihre Mutter immer wieder. Anna hatte kein Mitleid. Sie wurde von ihrer Mutter oft in den Keller geschickt, um Zwiebeln oder Kartoffeln zu holen. Mütter können ja so gemein sein!
Bestimmt lag es nur an den vielen Spinnen in ihrem Keller, dass Anna keine Zwiebeln mochte und viel lieber Nudeln als Kartoffeln aß.

Da war wieder das Fauchen und Schnauben. `Ob einige schon bis in ihr Zimmer geklettert waren?` Als Anna noch klein war, hatte sie immer die Augen geschlossen, wenn sie etwas Furchterregendes nicht sehen wollte. Sie glaubte fest, dann würde es auch von selbst verschwinden. Jetzt würde sie gerne ihre Ohren zustopfen, um dieses grässliche Fauchen nicht mehr hören zu müssen. Dabei wusste sie genau, ihre Angst würde trotzdem bleiben.

Die Geschichten, die Anna kannte, hatten immer ein gutes Ende. Und oft, wenn es gerade so spannend war, musste sie zu Bett gehen. „Keine Angst, Kinderbücher enden immer gut!“ - „Ja, ja, ich weiß!“ unterbrach Anna dann ihre Mutter: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
Dennoch war es ihr manchmal sehr schwer gefallen, mit dem Lesen aufzuhören. Doch ihr Bruder hätte sicherlich gepetzt, wenn sie, mit der Taschenlampe, weitergelesen hätte. Ob ihre Geschichte auch glücklich ausgehen würde?

Unter ihrer Bettdecke wurde es heiß. Anna schwitzte und gleichzeitig zitterte sie vor Angst. Plötzlich war es so still, dass sie ihr Herz ganz laut pochen hörte. Sie wagte es nicht unter ihrer Bettdecke hervorzulinsen.

Wenn sie einen Hund hätten, müsste Anna jetzt keine Angst haben. Tja, einen Hund, den hatte sie sich immer gewünscht.
„Der macht viel zuviel Arbeit. Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Die Mutter war strikt dagegen gewesen. Auch ihr Vater war von ihrem Wunsch nicht gerade begeistert gewesen. „Stell dir nur mal vor: Wenn jede Familie in unserer Stadt auch nur einen kleinen Hund hätte, wie viel Hundestinker gäbe es dann auf der Wiese.“ Er hatte gelacht. „Man kann ja jetzt schon über keine Grasfläche mehr laufen, ohne in eine Tretmine zu tappen.“

Zu ihrem Geburtstag hatte Anna dann einen wunderschönen, blauen Wellensittich geschenkt bekommen. Ihre Freundin Julia hatte gekichert: “Jetzt hast du einen Vogel. Anna hat einen Vogel.“
Anna hatte sich schnell mit dem Sittich angefreundet und versucht ihm das Sprechen beizubringen. Er wurde auch sehr zutraulich und gab ihr Antwort, wenn sie seinen Namen rief.
Nur ein einziges Mal hatte Anna nicht aufgepasst. Das Fenster stand auf, als sie das Gittertürchen öffnete, um ihren Wellensittich zu füttern. Da ist er einfach weggeflogen. Überall hing Anna Zettel auf: „Blauer Wellensittich entflogen.“ Er blieb verschwunden. Anna konnte nur hoffen, dass er ein neues Zuhause gefunden hatte. Danach wollte sie keinen Vogel mehr haben. Doch jetzt wäre sie sogar froh, wenn wenigstens der Vogel noch in ihrem Zimmer wäre. Aber Anna war ganz allein und hatte entsetzliche Angst.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon regungslos in ihrem Bett lag und lauschte.
Endlich hörte sie, wie ein Schlüssel in der Haustür umgedreht wurde. Jemand flüsterte. Anna zögerte. `Doch, das müssen meine Eltern sein. Sie flüstern nur, weil sie mich nicht aufwecken wollen.` Anna nahm all ihren Mut und all ihre Verzweiflung zusammen und schrie: „Mama!“

Papa musste drei Stufen auf einmal geschafft haben, so schnell ging das Licht an und dann stand er vor Annas Bett. Ihre Mutter kam gleich hinterher gerannt. Sie legte den Arm um ihre Tochter, der nun unaufhaltsam die Tränen der Erleichterung über die Wangen kullerten: „Du brauchst doch keine solche...“ Angst zu haben, wollte ihre Mutter sagen. Doch mitten im Satz hielt sie inne. Sie wurde ganz blass im Gesicht. „Was - war das?“
Auch der Vater hatte ganz deutlich das Fauchen gehört. „Weiß nicht,“ sagte er mit ruhiger Stimme. „Hört sich fast an, wie ein verletztes Tier. - Anna, hast du wieder das Gartentürchen aufgelassen?“ Aber Anna antwortete ihm nicht. Sie schluchzte immer noch.

„Geh` da ja nicht raus“, sagte die Mutter streng. „Vielleicht ist es ein tollwütiger Fuchs.“ Der Vater ging zum Fenster und öffnete es ganz. „Mist! Ich kann überhaupt nichts erkennen. Zu viele Sträucher und Büsche unter denen sich das Tier versteckt haben kann.“ Nach einer kurzen Pause fügte er nachdenklich hinzu: „Aber das Gartentürchen ist zu.“
Auch die Mutter starrte jetzt aus dem Fenster. Keiner sagte etwas.

Anna saß in ihrem Bett und beobachtete ihre Eltern. Jetzt zitterte sie nicht mehr.
„Siehst du ein --- Ufo?“ fragte sie stockend. „Du liest wohl zu viele fantastische Romane“, lachte ihr Vater. Aber woher das Geräusch kam, konnte er sich auch nicht erklären. Jetzt war es draußen wieder unheimlich ruhig.
„Wir müssen etwas unternehmen“, unterbrach die Mutter diese Stille. „Auch wenn es nur ein verletztes Tier ist, können wir nicht bis morgen warten. Ich rufe im Forstamt an. Jäger sind doch lange auf.“
„Julias Papa ist auch ein Jäger“, rief Anna sofort.
„Na dann schau ich doch gleich mal, ob bei denen noch Licht brennt.“ Und schon war der Vater verschwunden.
Anna und ihre Mutter lauschten gespannt. Es dauerte nicht lange, bis sie das Fauchen wieder hörten. Fast gleichzeitig hörten sie auch, wie die Haustür geöffnet wurde.
Die Mutter legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und ging in den Flur. „Psst!“ Leise schlichen die beiden Männer die Holztreppe hinauf.

„Bitte nicht schießen“, flehte Anna flüsternd, als Julias Vater mit dem Gewehr in ihr Zimmer kam. Zuerst blieb er stehen und lauschte. Dann nickte er ihr freundlich zu und ging ans offene Fenster. Mit einer großen Taschenlampe leuchtete er in den Garten hinunter.
Alle blickten gespannt auf den dunkelgrün gekleideten Mann.

Da huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er winkte Anna zu sich. Flink krabbelte sie aus ihrem Bett. Ihr war ganz mulmig zumute, als sie mit ihren Augen dem hellen Lichtkegel der Taschenlampe folgte. Da entdeckte auch sie in einer Ecke des Gartens zwei graue Stachelbälle. Annas Mutter fing an zu lachen.
„Was? Diese beiden Igel sollen so seltsame Geräusche gemacht haben“, wunderte sie sich. „Natürlich!“ Herr Berg nickte. „Igel sind zwar Einzelgänger. Aber wenn sie einem Weibchen gefallen wollen, dann umwerben sie die Igelfrau. Diese faucht ihn noch an. Es ist wohl ihr Revier. Er tanzt dann solange um sie herum, bis sie ihn vielleicht doch näher kommen lässt.“ Verschmitzt sah er Anna an. „Mit seinem Grollen will er wohl die Igelin beruhigen. Vielleicht sagt er gerade: `Schau mich an. Ich bin stark und schön`.“ Er machte eine kurze Pause. „Soll ich die Beiden einfangen und woanders wieder freilassen?“
Anna schüttelte energisch den Kopf. „Nein, vielleicht bekommen wir ja bald kleine Igelbabys.“ Sie freute sich schon darauf. „Schon möglich“, antwortete Herr Berg, „hier gibt es viele Versteckmöglichkeiten. Aber nur, wenn du jetzt einige Wochen nicht mehr da unten herumtollst. Du könntest die Igelmutter sonst vertreiben“, erklärte er. „Du kannst ja zum Spielen gerne zu Julia kommen. Aber jetzt ab ins Bett. Du hast bestimmt schon ganz kalte Füße und morgen ist Schule.“
Erst jetzt bemerkte Anna, dass ihre Zehen kalt geworden waren. „Gute Nacht!“, rief sie noch, bevor sie wieder in ihr noch warmes Bett kroch.

Die Mutter lud Julias Vater ein einen Schluck mit ihnen zu trinken. „Komm, wir spülen den Schreck hinunter“ lachte sie erleichtert. Anna hörte nicht mehr, als Herr Berg ging. Da war sie schon längst eingeschlafen.

Am nächsten Morgen fiel es Anna schwer aufzustehen. Doch sie beeilte sich mit dem Frühstücken. Sie wusste, dass ihre Freundin Julia an der Kreuzung schon auf sie wartete. „Anna, du musst mir alles erzählen. Was ist passiert?“ stürmte Julia auf sie los. „Papa war heute nacht bei euch. Mehr hat er mir nicht verraten.“ Anna erzählte und wurde immer wieder von ihr unterbrochen. „Was? Außerirdische! Echt cool!“ Julia war begeistert. Anna bekam immer noch Gänsehaut, allein bei dem Gedanken an fremde, achtbeinige Wesen, die zu ihrem Fenster hereinklettern wollen. Doch sie war eine gute Geschichtenerzählerin und genoss es, in der großen Pause im Mittelpunkt zu stehen, während sie spannend von ihrem Abenteuer berichtete.

Von jetzt an schaute Anna abends oft aus ihrem Fenster. Das Fauchen im Garten hatte sie nicht mehr wieder gehört. Jetzt hätte sie sich sogar darüber gefreut, da sie wusste, woher es kam.

An einem warmen Sommerabend, als sie schon nicht mehr damit rechnete, entdeckte sie einen Igel durch das hohe Gras trippeln. Tatsächlich folgten ihm vier kleine Igelchen. Anna jubelte. Schnell rief sie ihre Freundin Julia an. Julia kam sofort, obwohl sie schon im Schlafanzug steckte. Denn geteiltes Glück ist doppeltes Glück.

Zusammen beobachteten sie vom Fenster aus die Igel.
„Und weißt du, was das Beste daran ist?“, fragte Anna.
Julia schüttelte den Kopf. „Der Igel frisst gerne Spinnen“, lachte sie. „Aber verrat Mama ja nichts davon!“

(nach einem Zeitungsausschnitt: Ehepaar ruft Polizei. Fauchen im Garten. Nur zwei liebestolle Igel.)
 



 
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