Annäherungsversuche

Rüdiger Großmann war vor allem davon überzeugt, sich nirgendwo wirklich auszukennen. Nicht einmal bei sich selbst. Er war sicher, dass alles mindestens zwei Seiten habe.
Daher war es für ihn nicht einfach, sich zu entscheiden.
Vielleicht hatte er auch deswegen so lange gebraucht, um sich von Liliane loszusagen. Loslassen war – so wie er es von Frauen eher gewohnt war – etwas, das auch er als Mann zu vermeiden wusste.
Obwohl er jene Freiheiten, die er bei Männern als typisch empfand, durchaus nicht vermissen wollte.

Lilane neigte während der Ehe und ihrer gemeinsamen jahrelangen vorehelichen Zeit eher nicht zum Kitsch. Dennoch wollte sie Rüdiger wegen eines jüngeren Mannes verlassen, der ihr gereimte Herz-Schmerz- Gedichte schrieb. Vergeblich versuchte er als Liebhaber handfester Sinnsprüche, den jungen Mann bei ihr lächerlich zu machen. Doch sie fand seine Lyrik einfach süß. Vermutlich hatte der junge Mann namens Bernd auch noch ein paar andere Vorzüge, die sie ihm verschwieg.

Nachdem sie bei ihm ausgezogen war, trafen sich Rüdiger und Liliane auch weiterhin. Erst nach über zwei Jahren meinte sie, es sei nun endlich genug und sie würde wirklich nicht mehr vorbeikommen. Im übrigen habe der Bernd ihr schon sehr lange keines dieser Kitschgedichte mehr geschrieben… Aber solche Liebesbriefe wie von ihm, habe sie von Rüdiger nie bekommen. Und hin und wieder eine kurze SMS mit irgendeiner Liebesfloskel sei nun wirklich kein Ersatz gewesen.
Einmal kam sie aber noch nach ihrem angeblich endgültigen Auszug. An Rüdigers 60. Geburtstag. In einem sehr figurbetonten kurzen Kleid, das er noch nicht an ihr kannte. Obwohl es ihm gefiel, mochte er ihr nicht sagen, dass sie darin jünger aussah. Allerdings hätte ein längeres Kleid die Krampfadern an ihren Beinen verdeckt. Das hätte er ihr gern gesagt, verschwieg es allerdings.
Sie wäre bestimmt noch einmal mit ihm ins Bett gegangen.
„Ich will ich sein und nicht dein verspäteter Lover.“ Knurrte er, als sie seine Wohnungstür von außen schloss und er den Spruch las, den er einst nach einem Streit um Rechthabereien von innen an die Tür klebte: Wer sich nicht selbst in Frage stellt, verpasst die besten Antworten. Dabei stellte er sich eher zu viel in Frage.

Im vergangenen Sommer, in dem eine Hitzewelle der nächsten folgte, fühlte er sich plötzlich besonders allein, wenn dazwischen bei heftigem Regen und starken Gewittern die Temperaturen sanken. Auf herbstliche, wenn nicht gar auf vorwinterliche.

Maria-Luisa, hatte spanische Eltern, pechschwarze Haare und keinen spanischen Akzent.
Bei allem, was sie ihm erzählte, blickte sie ihm schamlos lächelnd mit ihren großen braunen Augen ins Gesicht. Und Rüdiger ahnte fast nie, was sie eigentlich von ihm wollte.
Wenn sie sich verabschiedeten, ließ sie ihn stets mit einem merkwürdigen Gefühl von kalter Wut zurück, das Tage vorhielt und ihm oft nachts den Schlaf raubte. Einmal träumte er davon, eine dunkelhaarige Frau umzubringen, ein weiteres Mal trieb er eine andere nicht weniger dunkelhaarige in den Selbstmord.
In beiden Fällen blieb es bei Versuchen, da er durch Wachwerden Schlimmeres verhindern konnte.
Selbst bei seinem besten Freund Friedrich gelang es ihm nicht, sich seine Wut von der Seele zu reden, obwohl er sonst alle Zweifel und allen Ärger bei ihm los wurde.
„Diese Frau ist nichts für dich.“ Friedrich tätschelte Rüdiger den Oberarm. „Wirklich nicht.“
„Und warum nicht?“
„Weil sie dich viel zu sehr beschäftigt, und zwar mit mehr als schlechten Gefühlen. Und das vor allem, wenn du nicht mit ihr zusammen bist. Was willst Du eigentlich von der?“
Rüdiger hob die Schultern und ließ sie seufzend wieder fallen.

Dennoch traf er sie weiterhin. Irgendetwas war sie ihm schuldig. Etwas, von dem er sicher war, dass er es mehr als dringend brauchte, etwas, das ihm zustand und ihn erst beruhigen und zufrieden stellen könnte, wenn sie es ihm zukommen ließ. „Es hat etwas Leeres, das gefüllt werden will.“ Ließ er Friedrich wissen. Der grinste, sagte aber nichts.

Nach Wochen, in denen sie sich eher zufällig trafen, ergriff Maria-Luisa die Initiative.
Sie bat ihn, mit ihr ins Grüne zu fahren. An einem jener warmen Tage, dem einmal wieder einige kühle Regentage vorausgegangen waren.
Mit seinem Wagen blieben sie auf einem versteckten Wanderparkplatz stehen, stiegen aus und gingen einfach los auf einem der einsamen oberbergischen Waldwanderwege, die mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder an den Platz zurückführen, an dem sich Wanderer und Spaziergänger auf den Weg gemacht hatten.
Leichter Wind ließ die Bäume leise und beruhigend rauschen. Dennoch liefen sie schneller, als er eigentlich wollte. Auf Lichtungen stieg dünner Nebel auf.
Obwohl Rüdiger vorhatte zu reden, schwieg er. Nicht einmal seine übliche Ausrede, ein wortkarger Norddeutscher zu sein, wusste er anzubringen. Und, dass ihm als Kind bei Tisch und im Beisein Erwachsener das Reden von seinen Eltern verboten worden war, behielt er ebenso für sich, obwohl er damit einfühlsame Frauen bisher immer nachhaltig zu beeindrucken wusste. Jeweils ein paar bedauernde Blicke konnte er ihnen wenigstens damit entlocken.
Maria-Luisa plapperte nahezu ununterbrochen vor sich hin. Sie war erheblich jünger als er. Gut zwanzig Jahre, schätzte er. Bisher hatte er es nicht für nötig empfunden, sie nach ihrem Alter zu fragen. Auch für ihre Vergangenheit interessierte er sich bisher nicht. Nur, dass sie zurzeit keinen Freund hatte, erfuhr er von ihr, ohne dass er sie danach fragte. Und dass sie im Urlaub immer an die spanische Atlantik-Küste fuhr.
Wurde der Waldweg schmal, oder wenn es galt, einer Pfütze oder einem tiefhängenden Ast auszuweichen, ließ er Maria-Luisa den Vortritt, nicht zuletzt, um ihre Art zu gehen ungestört genießen zu können.
Die Schwünge ihrer Hüften und ihres Hintern amüsierten ihn und zugleich ärgerte er sich, immer wieder hinsehen zu müssen. Sie schwangen, als hätten sie nicht die Freiheit, vollkommen durchzuschwingen.
Als sie nach gut zwei Stunden zum Parkplatz zurückkehrten, stiegen sie schweigend in seinen Wagen. Und bis auf ein paar wütende Bemerkungen über rücksichtslose Verkehrsteilnehmer fiel ihm auch bei der Rückfahrt nichts Beredenswertes ein, mit dem er Maria-Luisas Redefluss unterbrechen konnte.
Sie legte ihm einmal, als er sich verschaltete, beruhigend ihre Hand auf die seine. Ein anderes Mal streichelte sie ihm kurz den Oberschenkel.

Vor dem vierstöckigen Gründerzeit-Haus, in dem Maria-Luisa in einer geräumigen Dachwohnung lebte, setzte Rüdiger sie ab. Ohne Hast stieg sie aus, wollte aber vorher wissen, wann sie sich wiedertreffen würden.
Als Rüdiger mit den Schultern zuckte, nannte sie ihm Tag, Uhrzeit und Treffpunkt und umarmte ihn kurz. Sie roch nach Minze und Jasmin. Und obwohl sie ihn nicht abwehrte, traute er sich nicht, sie länger festzuhalten.
Pünktlich war er eine Woche später am genannten Treffpunkt in der Nähe des Stadtparks. Sie auch.
Nebeneinander gingen sie durch den kleinen Park, setzten sich auf eine der von der Stadtsparkasse gestifteten Bänke, sprachen ein wenig über Unwesentliches und gingen schließlich zu einem Griechen, den Maria-Liusa zufällig kannte. Sie aßen beide wenig.

Danach trafen sie sich nahezu alle zwei Wochen, gingen zum Italiener und ein anderes Mal in ein spanisches Restaurant. Sie saßen nebeneinander im Kino und trafen sich anschließend in einer Kneipe auf ein Bier.
Inzwischen hatte sogar Rüdiger ein paar unverfängliche Themen gefunden, mit denen er sie mühsam zum Zuhören animieren konnte. Eines der Themen war das Wetter, ein anderes die aktuelle Flüchtlingswelle in Deutschland. Maria-Luisa meinte, die Deutschen müssten alle, auch die Wirtschaftsflüchtlinge, willkommen heißen. Schließlich sei ihr Vater auch einmal als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Rüdiger stimmte ihr zu.
Bei jedem Abschied und jedem Wiedersehen umarmten sie sich vorsichtig und gelegentlich ein wenig heftiger.
Irgendwann, als er sie einmal wieder zu ihrer Wohnung brachte - sie kamen von einem Jazzkonzert - verabschiedete sie sich mit einem vorsichtigen Kuss.
Seine Wut blieb. Wurde sogar stärker.

Rüdiger ließ sich viel Zeit bis zum ersten Mal. Und es geschah nichts sonderlich Aufregendes in dem schmalen Bett in ihrem kleinen Schlafzimmer.
Bei den Treffen danach musste er sich fast immer wieder aufs Neue überwinden, zärtlich zu werden. Nicht weil er keine Lust hatte. Aber weil er meinte, sie habe eigentlich nicht wirklich Spaß mit ihm.

Auch heute war Rüdiger überpünktlich. Maria-Luisa hingegen kam ein paar Minuten zu spät aus der Haustür.
Sie musterte ihn ausgiebig von oben bis unten.
Ihr ungewöhnlich tief ausgeschnittenes weißes T-Shirt und die hautenge Jeans präsentierte sie ihm, indem sie sich einmal langsam um sich selbst drehte.
Mühsam versuchte er zu lächeln und überlegte, ob er ihr ein Kompliment machen müsste. „Passt gut zu Dir!“ stellte er schließlich fest und nickte mit dem Kopf erst in Richtung Hose und dann in Richtung T-Shirt. Seine Blicke verharrten einige Momente auf ihrer ansehnlichen Brust, um dann auf ihren roten Pumps zu enden.
Maria-Luisa lachte und stieg unaufgefordert ins Auto.
Sehr langsam schnallte er sich auf dem Fahrersitz an. „Wohin?“
Sie lächelte. „Wo wir ganz unter uns sind.“
„Ob wir da ganz unter uns sind, weiß ich nicht.“ Gemächlich und über einige Umwege fuhr er zu sich nach Hause. Als er vor der Doppelhaushälfte stehen blieb, stieß er Maria-Luisa vorsichtig an, räusperte sich und sagte dennoch heiser. „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob wir hier allein sein werden.“
„Aber du wohnst doch allein.“
„Männer wohnen nie allein, auch wenn keiner bei ihnen lebt. Sie leben mit ihrer Bosheit, ihrer Angst und ihrer Mutter zusammen.“
Maria-Luisa runzelte die Stirn, strich sich ihre halblangen Haare zurück und sah ihn fragend an. „Wie meinst Du das?“
Rüdiger winkte ab. „Erklär‘ ich Dir vielleicht später.“
Vorsichtig öffnete er die Haustür. „Paterre links!“ Er ließ Maria-Luisa - wie gewohnt - den Vortritt. Vor der Wohnungstür blieb sie stehen und sah sich nach ihm um.
Rüdiger spähte ins Treppenhaus hinauf.
Maria-Luisa grinste. „Hast Du neugierige Mitbewohner?“
„Nein, ich wohne allein in dieser Haushälfte.“
Vorsichtig schob er die Tür auf und ließ ihr auch hier den Vortritt. „Es ist niemand zu Hause.“
Er tastete nach dem Lichtschalter. Zwei Punktstrahler flammten auf. Sie blendeten. Unbeeindruckt ging Maria-Luisa auf die Wohnzimmertür zu, öffnete sie und ließ sich auf die rote Couch fallen. „Neh, nicht hier.“ Er gab ihr die Hand und zog sie hoch.
Maria-Luisa ging zum einzigen Sessel im Zimmer und nahm vorsichtig Platz.
„Da saß früher immer mein Großvater. Bin bei ihm aufgewachsen. Sein einziger Sohn, mein Onkel Kurt, wurde kurz nach dem Weltkrieg von einem zurücksetzenden Panzer der britischen Besatzer überrollt. War ein Unfall. Ich habe Kurt nie erlebt. Kenne ihn aber ganz genau. Wurde ein Jahr nach seinem Unfall geboren und habe meinem Opa den Sohn ersetzt. Heiße eigentlich Kurt Rüdiger. Mein Vater war ein Besatzungssoldat. Ich kenne ihn nur von einem kleinen Foto. Meine Mutter lernte später einen Mann kennen, der mit mir nichts zu tun haben wollte. Er zog mit meiner Mutter in eine Stadt in Bayern.“
Maria-Luisa nickte und lehnte sich weit zurück. „Irgendwie machst Du den Eindruck, mit einer alten Frau aufgewachsen zu sein.“
„Wieso?“
Maria-Luise lachte. „Habe so ein Gefühl.“
„Mein Großvater hat sich von seiner Frau getrennt, weil sie mit ihm nicht in die USA auswandern wollte. Als ich dann bei ihm lebte, blieb er endgültig in Deutschland, obwohl ich gern mit ihm ausgewandert wäre. Seiner Frau warf er vor, dass sie schuld am Tod seines Sohnes gewesen sei. In Amerika wäre Kurt nicht von einem Besatzungspanzer überrollt worden. Davon war er vollkommen überzeugt.“
Maria-Luisa sah Rüdiger ernst an. „Auch in Amerika hätte er verunglücken können.“
„Das hat meine Oma auch behauptet.“
„Ja, wer kann denn auch vorher sowas wissen?“
„Mein Opa, der wusste es und hat sich von ihr getrennt, als sie sich wieder einmal deswegen stritten. Am Ende jeder ihrer Streitereien, warf er ihr vor, nicht genügend auf ihren Sohn aufgepasst zu haben. Kurt war, als er verunglückte, schon 17.“
Rüdiger sah Maria-Luisa in die Augen. Sie wich zum ersten Mal seinem Blick aus. Er räusperte sich. „Ich habe auch manchmal so Vorahnungen. Verstehst du?“
Sie schüttelte ihren Kopf. „Du bist einfach nur ängstlich und ein ganz gewöhnlicher Pessimist.“
„Pessimisten sind auch Optimisten. Sie glauben, dass eintritt, was sie befürchten.“
Sie zog ihn zu sich vor den Sessel und begann ihm den Hosengürtel zu lösen.
Rüdiger wollte sie daran hindern, ließ sie aber gewähren.
Schließlich zog er sie hoch und ins Schlafzimmer.
Er brachte sie offenbar zum Orgasmus, vorausgesetzt, sie spielte ihm den nicht vor. Danach lagen sie nackt nebeneinander und starrten schweigend an die Zimmerdecke.
Schließlich murmelte Rüdiger, Selbsterkenntnis sei der vergebliche Versuch, zu Lebzeiten zu erfahren, wer man wirklich sein könnte.
„Mag ja stimmen. Ist dennoch ein ziemlich blöder Spruch!“
Er drehte ihr sein Hinterteil zu. Maria-Luisa boxte ihn in den Rücken.
Rüdiger stand auf, ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich in den Sessel.
Sie ließ ihn lange warten, kam schließlich und setzte sich auf seinen Schoß.
Er legte seine Arme um sie und sagte leise: „Das wahre Leben verläuft sich zwischen Wahn und Sinn. Und nur wer sich selbst zu verstehen bemüht, hat beim Versuch, andere Menschen zu verstehen, gewisse Chancen.“
„Wie meinst da das?“
Rüdiger lächelte und streichelte ihr vorsichtig die Oberarme. Dann packte er sie an den Schultern. Maria-Luisa stöhnte auf. „Du tust mir weh.“
„Ich brauche Deinen Schmerz.“ Er spürte, wie seine Wut allmählich nachließ. „Zieh Dich an. Du kannst jetzt gehen!“ brüllte er.
Maria-Luisa strich sich die Haare aus dem Gesicht, stand von seinem Schoß auf, lief ins Schlafzimmer, zog sich wortlos an, kam zurück und blieb vor ihm stehen.
Rüdiger stand auf, ging ihr in den Flur voran, öffnete ihr die Wohnungstür, sah zu Boden und dabei auf ihre roten Schuhe, die sie zögernd einen vor den anderen setzte.
Sie nannte ihm weder Tag, Uhrzeit noch einen neuen Treffpunkt.
Als er hinter ihr die Tür ins Schloss warf, las er leise: Wer sich nicht selbst in Frage stellt, verpasst die besten Antworten.
 



 
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