Ansichten eines Gipfelstürmers
[ 6]Bäuchlings auf dem Bett liegend und den Kopf über einen Hochglanzprospekt gestützt baumelte sie wie ein kleines Mädchen mit den Beinen. Die Bilder der schneebedeckten Alpen und malerischen Landschaften der Schweiz faszinierten und lösten zugleich bisweilen schlummernde Erinnerungen aus. Zum Beispiel an Lausanne. Dort gab es eine für europäische Verhältnisse vergleichsweise respektable Kunstsammlung, und besonders im Sommer, wenn dort fast täglich kostenlose Festivals stattfanden, erstrahlte die Stadt in einem unwiderstehlichen Glanz. Als Kantonshauptstadt und Sitz des höchsten Gerichtshofs der Schweiz, dem sogenannten Bundesgericht, war Lausanne sicherlich auch eine gewisse politische Rolle nicht abzusprechen. Die Stammhäuser vieler multinationaler Organisationen und Unternehmen leiteten zudem von dort aus die Geschicke ihrer Niederlassungen in der ganzen Welt.
[ 6]Und nicht zu vergessen Locarno, der verträumt anmutende Ort an den nördlichen Ausläufern des Lago Maggiores. Schon ein flüchtiger Blick auf die in gelungenen Aufnahmen eingefangene Schönheit genügte, und prickelnd verführerische, wenngleich verbotene und vor langer Zeit eingekerkerte Erinnerungen begannen lautstark an den Stäben ihres Verlieses zu rütteln, schlüpften dann doch hindurch und stürmten an den nur einen Moment lang unaufmerksamen Wachen vorbei und hinaus ins Freie. Lebendig gewordene Abbildungen traumhafter Aussichten über die fast subtropische Flora mit Feigenbäumen und Dattelpalmen, Bougainvilleas, Rhododendrons und Aloepflanzen, die das Ufer des malerischen Sees säumten, bemächtigten sie ihrer und durchströmten ihren unwillkürlich von einer Gänsehaut überzogenen Körper.
[ 6]Mit inzwischen geschlossenen Augen drehte sie sich auf den Rücken, um sich dem Zauber der wachgerufenen Bilder und Eindrücke nun vollends hinzugeben. Ursprünglich wollten sie nur ein paar Tage in Locarno geblieben sein und nach St. Moritz weiterreisen, dem bekannt mondänen Urlaubsort mit einer Vielfalt an Sportmöglichkeiten, einigen wirklich ausgezeichneten Restaurants und allem, was zwei lebenshungrige Millionenerbinnen von einem abwechslungsreichen Aufenthalt gehobener Klasse erwarteten. Doch jener verheißungsvoll glühende Blick, in dessen Zentrum zwei kastanienbraune Augen funkelten und jene Aussicht von ihrem kleinen Balkon, die niemals wieder so romantisch wirken konnte wie am Morgen danach, hatte in beiden das Verlangen nach Zeitlosigkeit, dem anhaltenden Auskosten eines vergänglichen Moments aufsteigen lassen.
[ 6]Im Gegensatz zu Lucie neigte sie weitaus weniger zu spontanen Entschlüssen, aber für einige Zeit ließ sie sich mitreißen von dem Schwarm lustig tanzender Fliegen in ihrem Bauch und der kindlichen Ausgelassenheit, mit der Lucie sie zu einem hemmungslosen Ausleben ihrer gemeinsamen Neigung ermutigte. Die über Jahre konsequent gezähmte Leidenschaft war erneut entfacht, doch mit dem Regen setzte auch die Ernüchterung ein, die alle Hoffnungen auf einen vollzogenen Wandel wegspülte, als die Besonnere von beiden zum wiederholten Male und mit ebenso gefühlsroher Entschlossenheit die Verselbständigung der entlaufenden Geister vereitelte.
[ 6]Wie schon in der Vergangenheit weihte sie Lucie lediglich in die bereits gefällte Entscheidung ein, nicht aber in dessen Begründung. Die Schranken, in welche sie sich damit insbesondere selber wies, sollten für alle Zeit Bestand haben, und ihre abschreckende Wirkung unterband nachhaltig jeden weiteren Versuch, den vorübergehend ungesicherten Grenzübergang in jedwede Richtung zu passieren.
[ 6]Aber sie bereute nichts, weder das zeitweilig aufgeflammte Begehren nach Lucies Nähe und dem unbedenklichen Austausch gleichgeschlechtlicher Zärtlichkeiten, zu dem sie sich hatte hinreißen lassen, noch dessen eiserne Zügelung, mit der sie Lucies Gefühle tiefer verletzt hatte als je zuvor. Die Verfolgung höherer Ziele ließ keine dauerhafte Beziehung zu, zumindest keine, in der Vertrauen und Offenheit eine wesentliche Rolle spielten.
[ 6]Das spätere Verhältnis zu Mitchell erwies sich als weniger anstrengend und hatte dennoch seinen ganz eigenen, besonderen Reiz. Es erforderte ein geringeres Maß an Selbstdisziplin, wenn sie seine angebotenen Aufmerksamkeiten zurückwies. Ihr Bedarf an Zärtlichkeit wurde dank seiner Nachgiebigkeit jeweils nur in dem Umfang gedeckt, den sie bestimmte. Gleichzeitig genoß sie das Gefühl der Geborgenheit, das er ihr mit beinahe väterlicher Fürsorge und trotz aller Zurückhaltung vermittelte, mit der sie sich der bloßen Befriedigung männlicher Gelüste entzog.
[ 6]Sie war jederzeit Herr der Lage, und Mitchell schien das zu akzeptieren. Er forderte nichts, das sie nicht zu geben bereit war, und er ging nie weiter als sie es erlaubte. Die Gefahr für eine Notwendigkeit riguroser Entscheidungen bestand bei ihm nicht. Vielleicht war es nicht zuletzt diese Sicherheit, die sie aus bislang unzugänglichen Kraftreserven schöpfen ließ, wenn ihre Entschlossenheit durch ungeahnt wuchtige Rückschläge erschüttert wurde, oder der ihren Zielen trotzende, kontinuierlich zermürbende Widerstand ihre Zuversicht zu brechen drohte.
[ 6]Der Weg zum Gipfel entpuppte sich als Gratwanderung, die nur mit einem ausgeprägten Gleichgewichtssinn zu bewältigen war, ein Balanceakt, der geradewegs zwischen der süßen Versuchung einer vorzeitigen Hingabe an unterdrückte Triebe und den erwartet widrigen Umständen eines beschwerlichen Aufstiegs hindurchführte. Der eingeschlagene Weg bot keinen Raum zum Manövrieren. Der kleinste Fehltritt würde unweigerlich das Scheitern des gesamten Vorhabens bedeuten, und das hätte sie sich niemals verzeihen können, denn wiederholen ließ sich der Versuch nicht.
[ 6]Diese Gewißheit entsprang einer bitteren Erfahrung. Den ihr am Sterbebett abverlangten Schwur zu leisten war ihr ebenso leicht gefallen wie ihn zu brechen, aber die dabei empfundene Erlösung war nur eine vorübergehende Täuschung gewesen.
[ 6]Wut stieg plötzlich in ihr auf, unbändige, entfesselnde Wut. In gewisser Hinsicht war sie zur Zeit nicht besser als er, dessen unerträglich schwitziger Atem sie noch immer verfolgte. Dabei war alles nur seine Schuld! Ihm alleine war es zuzuschreiben, daß es so gekommen war!
[ 6]Arme, unschuldige Lucie! Wohlbehütete, maßlos verwöhnte einzige Tochter eines grausamen Tyrannen, dessen verletzter Stolz als vorgeschobene Rechtfertigung für das Unverzeihliche diente und damit einen Teufelskreis eröffnete, aus dem es kein Entrinnen gab. Ihr Schicksal war in diesem Augenblick bereits besiegelt.
[ 6]Unwissende Lucie! Zu lange war sie von der Unmenschlichkeit, seiner mit Bösartigkeit durchsetzten Gleichgültigkeit verschont geblieben, mit welcher der Gehörnte das Ebenbild der Untreue bedachte. Viel zu lange hatte sie die sadistisch planende Ausbeutung und seine unbarmherzige Rücksichtslosigkeit ignoriert, um auch nur erahnen zu können, welch dunkle Triebe davon hervorgerufen zu schauderhaften Taten befähigten.
[ 6]Ihr stockte der Atem. Es war nötig, daß sie sich von Zeit zu Zeit daran erinnerte, so schmerzhaft es auch sein mochte. Es beflügelte ihren Ehrgeiz und stärkte ihre Willenskraft, die seither immer wieder neuen Prüfungen unterzogen worden war.
[ 6]Selbstzweifel oder gar Schuldgefühle hatte sie deswegen nicht. Sie wußte, daß beide es nicht besser verdient hatten. Die an ihnen verübte Vergeltung war daher gerecht und erforderte lediglich die nötige Kaltblütigkeit.
[ 6]Daran mangelte es ihr ebenso wenig wie an der Geduld, mit der sie den richtigen Moment abpaßte oder der Ausdauer, mit der sie ihre Pläne in die Tat umsetzte. Sie hatte sich des Jochs entledigt, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen und darüberhinaus die erlesenen Früchte geerntet, die ein selbstherrlicher Narr ausschließlich seinem leiblichen Nachwuchs zugedacht hatte. Die ihm angedeihte Sonderbehandlung hatte ihn jedoch zu kraftlos werden lassen, um das geänderte Testament noch notariell beglaubigen zu lassen. Dank der eingetretenen und nicht nachweisbaren Beschleunigung seiner verzehrenden Krankheit, die ihn dadurch nur allzu gnädig dahinraffte, statt ihn die aufweichenden Stadien des Dahinvegitierens erleben zu lassen, war ihr vornehmliches Ziel damit bereits in der Stunde seines Todes erreicht.
[ 6]Naive, überheblich gutgläubige Lucie! Sie hätte wissen müssen, daß es keine Paradiese mehr gibt, keinen Ort, der ausreichend Schutz geboten hätte und keine Hoffnug, die leichter zu verlieren ist als die eigene. Ihr bemitleidenswertes Sträuben gegen die unvermeidbare Vollstreckung der gerechten Strafe war schnell vergessen, und beinahe hätte sie keinen weiteren Gedanken mehr daran verschwendet. Es war ein Geschenk des Himmels, das sie unmöglich ausschlagen konnte, eine nicht wiederkehrende Gelegenheit zur unumstößlichen Etablierung des Geschaffenen. Diese Chance mußte sie einfach ergreifen.
[ 6]Das Unwiderstehliche lag in der Plausibilität, mit der das Verlangen der Öffentlichkeit nach einer Aufklärung befriedigt werden und dessen zu erwartende Akzeptanz ihr die verdiente Erlösung bringen würde. Das Misterium um das Verschwinden der geliebten Schwester würde niemals wieder Gegenstand etwaiger Untersuchungen sein.
[ 6]Und ihr Plan war aufgegangen, zumindest bisher. Der höchste aller Gipfel erhob sich bereits vor ihren Augen majestätisch in naher Entfernung empor und versprach eine grandiose Aussicht über die bezwungenen Schluchten und Täler. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der erfolgreichen Besteigung eines alles überragenden Massivs, für die außer einem Durchhaltevermögen nunmehr keine Ausrüstung erforderlich schien.
[ 6]Eine satanische Schadenfreude durchzuckte ihren Körper wie ein heller Funken und ließ ihre wieder geöffneten Augen aufleuchten. Die Vorstellung, daß die radikal ausgelebte Vergnügungssucht ausgerechnet in der Verkörperung dessen ein jähes Ende gefunden hatte, das der egoistischen Schwester selber so großes Vergnügen bereitet hatte, war Ironie und Genugtuung zugleich. Es mußte die Hölle für sie sein, als willenloses Objekt zur Befriedigung sadistisch perverser Gelüste zu dienen, die endlos peinigenden Qualen der Erniedrigung zu ertragen und an der unbarmherzig durchgesetzten Forderung nach bedingungslosem Gehorsam schließlich zu zerbrechen.
[ 6]Das animalisch primitive Dasein der dressierten Geschöpfe, die paarweise wie Ponys vor eine Art Rikscha gespannt wurden, um zum Amusement zahlungskräftiger Zuschauer an skurrilen Rennen teilzunehmen und auch ansonsten wie Tiere gehalten wurden, währte für die ehemalige Pferdenärrin nun schon vier Jahre. Es war nicht anzunehmen, daß von dem ursprünglichen Charakter noch allzu viel übrig war. Ein weiterer Besuch des außergewöhnlichen Gestüts mit anliegender Rennbahn wäre sicherlich ebenso interessant wie aufschlußreich, aber sie würde sich noch etwas in Geduld üben.
[ 6]Andererseits konnte sie es kaum erwarten, erneut in das Gesicht der nun auf den Namen Tosca hörenden Leibeigenen zu blicken, die für 20 Tausend Dollar in fremdes Eigentum übergegangen war. Sicher würde sie um Gnade winseln und ihr alles versprechen – natürlich vorausgesetzt, daß sie überhaupt noch sprechen konnte. Entgegen der Gepflogenheiten vergleichbarer Einrichtungen, in denen überwiegend junge Frauen für einen bestimmten Anwendungszweck abgerichtet wurden, hielt die für Toscas Umerziehung verantwortliche strikt an der einmal vorgenommenen Einteilung fest.
[ 6]Der übliche Tagesablauf der dort gehaltenen Ponys bestand aus bis zu acht Stunden Konditions- und Lauftraining, zwei leichten Mahlzeiten, einer Stunde Körperpflege und dem trostlosen Ausharren in einer Art Pferdebox ohne jegliche Form der Unterhaltung oder Konversation. Die einer solchen Ausbildung unterzogenen Ponys gehörten zu den erfolgreichsten überhaupt. Ihren Eignern winkte ein Vermögen, sei es durch Siegprämien, immens hohe Wetterlöse oder den Verkauf an gleichgesinnte Liebhaber ausgefallener Einnahmequellen.
[ 6]Was Tosca anbelangte, so hatte sie sich das Vorkaufsrecht gesichert, welches allerdings Ende des Jahres auslief. Spätestens bis dahin sollten alle Weichen gestellt sein, damit eine in jeder Hinsicht Fügsamere ihren Erbteil an sie abtrat, bevor ihr wieder ein Leben zuteil werden würde, das ihr von Geburts wegen zustand.
[ 6]Es war ein gutes Gefühl, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Dennoch würde sie kein Risiko eingehen. Obschon sie ihren Teil dazu beitragen würde, den beiderseits gewünschten Zustand herbeizuführen, mußte zunächst die Zurückzuerwerbende die entscheidende Überzeugungsleistung erbringen, daß sie Gewährung einer zweiten Chance überhaupt verdiente. Sie würde den endgültigen Beweis liefern müssen, der auch den allergeringsten Zweifel ausräumte und damit den Gipfel eines mühsam erklommenen Gebirges markierte.
[ 6]Zufrieden schlug sie den Prospekt wieder zu. Schon bald würden alle ihre Träume in Erfüllung gehen. Locarno mußte eben noch ein bißchen warten.