Anthrax
Prolog
Die Sonne stieg als großer, roter Ball am Horizont aus dem Meer und verwandelte es scheinbar in glühende Lava. Während der Feuerball höher kletterte, erschien die Wasseroberfläche als funkelndes, goldenes Fließ und spiegelte rechts und links davon den blauen Himmel wider. Ein kleines, silbergraues Flugzeug durchschnitt mit dem Krach der zwei turbogetriebenen Propeller die romantische Stille und jagte, sich nur knapp über dem Wasser haltend, über die sich kräuselnden Wellen.Prolog
„Chris, ich hoffe, wir werden auf diese Weise nicht vom Radar der Flugüberwachung erfasst“, sagte ein kleiner, dicker Mann, der den Schweiß, der sich auf seiner Stirn und im Nacken gebildet hatte, mit einem Taschentuch abtupfte.
„Nur keine Sorge, Mister Mayers. Meine Männer wissen, was sie tun“, antwortete der Angesprochene und grinste seinen Gegenüber an.
„Ist auf den Piloten wirklich Verlass? Bist du sicher?“, fragte eine groß gewachsene, brünette Frau mit strenger Miene. „Ich meine ja nur, weil er direkt auf den Küstenstreifen dort drüben links zuhält, wir doch aber in die andere Richtung wollen. Oder sehe ich das falsch?“ Dabei schaute sie aus dem Kabinenfenster der kleinen Maschine und zeigte schräg nach vorn.
Chris traute seinen Augen kaum, sein Gesicht lief augenblicklich rot an. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, zischte er. „Ich kümmere mich sofort darum.“ Behäbig stand er auf. Am Rücken zeichnete sich die Kontur des Griffes einer Waffe unter dem Jackett ab, die in seinem Hosenbund steckte. Leicht gebeugt, mit Zornesfalten zwischen den Augen und mahlendem Kiefer, stakste er nach vorn zu den beiden Piloten. „Jim, kannst du mir vielleicht mal sagen, wo du hin willst? Das ist nicht der richtige Kurs. Unsere Geschäftspartner wollen woanders hin“, fauchte der Mann, durch dessen Gesicht sich eine breite Narbe zog, zu dem Piloten, der das Flugzeug steuerte.
„Das stimmt, Mister Anderson“, gab der rothaarige Pilot, dessen Gesicht von Sommersprossen übersät war, grinsend zu. „Ihr habt mich als Piloten angeheuert, aber nicht als Massenmörder. Da spiele ich nicht weiter mit. Ich werde auf dem Flughafen in Hurghada landen und auspacken. Mir ist das alles zu heiß geworden.“ Im selben Moment zog er die Maschine mit heulenden Turbinen nach oben, um vom Radar der Flugsicherung und der Küstenwache erfasst zu werden.
Chris Anderson reagierte sofort. Er zog seine Waffe, richtete sie auf den Kopf des Piloten, schrie im selben Moment den Mann, der daneben saß an: „Bob übernimm die Maschine. Bring sie sofort wieder unters Radar und zurück auf Kurs!“ Dann drückte er ab.
Ein lauter Knall hallte ohrenbetäubend durch die kleine Maschine. Jim, der Pilot, kippte nach vorn über, vor ihm spritzten Blut, Knochenfragmente und Hirnmasse auf die Frontscheibe.
Im letzten Reflex hatte er aber das Steuerhorn mit aller Kraft mit sich nach vorn gedrückt, bevor der zweite Pilot die Steuerung übernehmen und die Maschine abfangen konnte. Der Jet trudelte unkontrolliert, im Sturzflug, nach unten und schlug wenig später hart auf der Wasseroberfläche auf. Die Wellen schwappten wie gierige Hände über der Piper zusammen und zogen sie weiter nach unten.
Das kleine Flugzeug versank sekundenschnell in den Tiefen, vom Meer verschlungen, als wäre es nie da gewesen. Nur das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen durchbrachen die Stille.
1
Langsam senkte sich die Sonne dem fernen Gebirgszug mit dem Gipfel des Gebel Schāʾib el-Banāt in der arabischen Wüste entgegen und färbte den Himmel purpurn. Die scharfen Konturen der vorgelagerten kleinen Insel wurden zu einer bizarren Silhouette, die allmählich mit dem Nachthimmel verschmolz. Nur das leise Plätschern der Wellen gegen den Bootsrumpf und das ferne Rauschen der Brandung waren noch zu hören. Annemarie und Andreas Wildner saßen auf dem Deck ihrer Motorjacht und genossen, mit ihren Freunden Kim und Sebastian Rothe, das Schauspiel. Nach der Arbeit auf ihren beiden Tauchbasen hatten sie sich eine einwöchige Auszeit genommen, um selbst ein paar schöne Tauchgänge genießen und sich dabei erholen zu können.
Sie hatten sich das Ziel gesetzt, kleinere Riffe und Ergs fernab von den eigentlichen Tauchgebieten zu erkunden, die weniger bekannt waren.
Heute wollten sie sich bei einem Nachttauchgang das vorgelagerte Riff der Insel noch einmal ansehen. Ihr Equipment stand aufgerödelt in den dafür vorgesehenen Halterungen bereit. Bereits am Nachmittag hatten sie diesen Platz betaucht und waren schon gespannt, was sie alles im Dunkel der Nacht entdecken würden. Sie sprachen kurz den Tauchgang durch und legten Tauchtiefe und Tauchzeit fest. Dann machen sie sich für ihren Nachttauchgang fertig.
Anne flocht ihr langes, blondes Haar zu einem Seitenzopf, setzte die Kopfhaube auf und steckte den Rest des dicken Zopfes mit in ihren Anzug und schloss den Reißverschluss bis zum Kinn. Kim streifte ihr schulterlanges, brünettes Haar hinter die Ohren, bevor sie die Neoprenhaube überzog. Andreas und Sebastian trugen schwarze Anzüge, auch der Rest ihrer Ausrüstung war in einem ebenso dunklen Farbton gehalten.
Sie brauchten nicht viele Worte, denn sie waren ausgebildete Taucher und tauchten schon lange miteinander.
Nach einem letzten Buddycheck sprangen sie, mit einem großen Schritt ins Leere, von der Plattform ins Wasser und tauchten nach einem kurzen Okayzeichen mit angeschalteten Unterwasserlampen ab.
Andreas befestigte noch eine blinkende Signallampe an der unteren Sprosse der Ausstiegsleiter, damit die vier Taucher sich daran orientieren und ohne Schwierigkeiten zurück zum Boot finden konnten.
Schnell gewannen sie an Tiefe und hielten sich nördlich, um zu dem Riff zu gelangen, dem sie zuerst in östlicher Richtung, gegen die Strömung folgen wollten. Bereits nach wenigen Flossenschlägen erreichten sie das kleine Plateau, welches an der Riffwand entlangführte und in zwanzig Metern Tiefe lag. Die Lichtkegel ihrer Unterwasserlampen suchten systematisch den Grund und die nahe Umgebung ab. Gespenstig tauchten im begrenzten Schein ihrer Lampen Steinkorallen vor ihnen auf und warfen, je nach dem Einstrahlwinkel, lange oder kurze, manchmal mitwandernde Schattenbilder. Sie entdeckten viele verschiedene Feuerstrahlenfische, die auf Jagd waren. Federsterne standen in voller Pracht auf Hirnkorallen. Seeigel, die sich tagsüber in Riffspalten und kleinen Höhlen versteckten, lagen offen auf dem Grund und ihre langen Stacheln bewegten sich wie nervöse Fühler oder Radarantennen hin und her. Zwei neugierig gewordene Weißspitzenriffhaie beäugten die Fremden aufmerksam. Doch die Taucher hatten keine Angst vor ihnen, sondern erfreuten sich daran, diese Tiere bei ihrer Jagd kurz beobachten zu können. Eine purpurrote spanische Tänzerin schwamm mit ihren grazilen Bewegungen an ihnen vorbei. Sonst träge am Boden liegende Zackenbarsche zogen auf der Suche nach Nahrung durchs Wasser. Immer wieder huschten kleinere Fische, angelockt von den Strahlen der leistungsstarken Unterwasserlampen, heran.
Auf einer Sandfläche knieten die vier Taucher nieder und löschten auf ein Zeichen von Anne ihre Lampen. Dann bewegten sie ihre Arme kreuz und quer durchs Wasser und erfreuten sich am Planktonleuchten, welches durch die Bewegungen wie ein kleines Feuerwerk zwischen ihren Fingern hervorsprühte. Nach einer Weile erhoben sie sich vom Grund, schalteten wieder ihre Unterwasserlampen an und folgten der Riffwand in Richtung Westen zurück zum Boot. Dabei entdeckten sie Papageienfische, die sich in enge Spalten gedrängt mit ihrer Schutzblase umgeben hatten, um nicht zur Beute der nächtlichen Jäger zu werden.
Kurz bevor sie unter ihrem Boot angekommen waren, kreuzte noch ein kleiner Weißspitzenriffhai, angelockt von dem Licht, ihren Weg und verschwand rasch wieder in der Dunkelheit.
Während ihres Sicherheitsstopps schalteten sie bereits ihre Lampen aus. Nach einem kurzen Zeichen tauchten die vier Freunde unmittelbar am Heck des Bootes auf und schauten dabei in den mondlosen Nachthimmel, der über und über mit Sternen, die wie Diamanten auf schwarzem Samt glitzerten, übersät war. Jedes Mal aufs Neue, genossen sie diesen herrlichen Anblick fernab vom Lichtsmog der ständig wachsenden Stadt mit ihren regelrecht aus dem Boden schießenden, hell erleuchteten Hotels, Strandabschnitten und Straßenzügen.
Nacheinander kletterten sie die Leiter nach oben, auf die Taucherplattform, und halfen einander beim Ablegen der Ausrüstung und der eng anliegenden Neoprenanzüge. Schnell schlüpften sie in warme Sachen, denn nachts wurde es auf dem Meer doch recht kühl.
„Wow, das war ein schöner Tauchgang“, schwärmte Andreas, während er noch seine Haare trockenrubbelte.
„Ja, das hat sich wirklich gelohnt“, stimmte ihm Anne zu. „Das Riff ist atemberaubend. Es war schön, auch wieder einmal ein paar Weißspitzen zu sehen. Die sind an den Riffen, an denen wir mit unseren Gästen tauchen, ja schon gänzlich verschwunden.“
„Vielleicht sollten wir uns morgen das Riff mit dem Drop-Off auch mal in westliche Richtung ansehen“, schlug Sebastian vor. „Die Strömung ist nur sehr gering, sodass wir dafür die >Al Salam< nicht erst umsetzen müssen.“
Nachdem sie ihre Anzüge zum Trocknen auf dem Deck, aufgehängt und gegen eventuell aufkommenden Wind gesichert hatten, gingen sie in den gemütlich eingerichteten Salon. Anne brühte für alle Tee auf und setzte sich dann zu ihrem Mann, der sie gleich zärtlich in seinen Arm zog und ihr einen kleinen Kuss gab.
„Ja, das können wir machen“, meinte Andreas, „Nur bitte erst nach dem Aufstehen. Ich möchte endlich mal wieder ausschlafen“, bat er. Sofort stimmte ihm Sebastian zu und trank einen Schluck von dem schwarzen Tee mit Zitrone.
Anne und Kim sahen sich enttäuscht an.
„Na gut, schlaft ihr Männer mal aus“, meinte Anne. „Dann gehe ich eben mit Kim allein früh beizeiten runter.“
„Klar, warum nicht“, gab Sebastian zurück. „Da haben wir das Frühstück fertig, wenn ihr wieder hoch kommt. Ihr könnt uns ja dann beim Essen erzählen, was ihr alles Schönes entdeckt habt, oder könnt es uns zeigen, wenn wir dann gemeinsam noch einmal runtergehen.“ Mit dieser Entscheidung waren sie alle vier einverstanden.
Nach dem Abendessen verzogen sich die beiden Pärchen in ihre Kajüten.
Während Sebastian und Kim schnell einschliefen, lagen Anne und Andreas noch lange wach.
„Wollt ihr wirklich morgen früh schon wieder so zeitig raus?“, fragte Andreas ungläubig.
„Aber ja, warum denn nicht? Wir werden uns den oberen Teil des Drop-Off genauer ansehen und euch davon berichten. Wenn es sich lohnt, gehen wir mit euch noch einmal dorthin und schauen uns eben den unteren Teil danach an“, gab sie zurück. „Oder hast du etwa Angst um uns Frauen?“
„Nein, das bestimmt nicht. Ihr seid ebenso gute Taucher wie wir. Nur ich würde gern früh noch etwas mit dir kuscheln“, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr und nahm sie liebevoll in den Arm. Anne schmiegte sich an ihn und streichelte sanft über die Narben, die quer über seine muskulöse Brust verliefen. „Aber das können wir doch jetzt auch noch, Schatz. Ich bin nur einfach so neugierig, wie das Riff auf der anderen Seite aussieht. Ich weiß ja, dass es nicht wegläuft. Aber ich mag es nun mal ganz früh tauchen zu gehen, wenn das Riff erwacht“, rechtfertigte sie sich.
Andreas verstand genau, was Anne meinte. Aber er freute sich auch darauf, endlich mal wieder etwas länger schlafen zu können.
Leidenschaftlich küssten sie sich. Anne fuhr ihm durch sein schwarzes, lockiges Haar, welches er schulterlang trug und tagsüber mit einem Gummi zusammenhielt.
2
Leise, um die Männer nicht zu wecken, schlichen sich die beiden Frauen aus ihren Kabinen. Es dämmerte gerade, als sie aufs Deck traten, um ihre Tauchanzüge überzustreifen. Sie waren sich einig, mit normalen zwölf Liter Pressluftflaschen zu tauchen, da sie diese, mit dem kleinen Kompressor an Bord selbst wieder auffüllen konnten. Die Nitroxflaschen wollten sie für ihre letzten Tauchgänge nutzen. Nach einer kurzen Absprache entschieden sie sich, über die Leiter von Bord zu steigen und erst dort ihre Flossen überzuziehen, um die Männer mit einem Sprung ins Wasser nicht zu wecken.
Gemeinsam tauchten sie ab und folgten, die rechte Schulter zur Riffwand, deren Verlauf Richtung Westen bis auf eine Tiefe von zwanzig Metern.
Immer wieder machten sie einander auf kleine Nacktschnecken oder selten zu sehende Meeresbewohner aufmerksam. Sie beobachteten Putzergarnelen bei ihrer Arbeit und entdeckten eine Stelle, an der gleich drei Weiße Moränen aus einem Spalt zwischen den Korallen hervorguckten. Sie schauten dem Spiel hunderter, orangefarbener Fahnenbarsche in einem regelrechten Gorgonienwald zu und waren begeistert von dieser unberührten Unterwasserlandschaft, die sie ihren Männern unbedingt später noch zeigen wollten.
Plötzlich sah Anne, wie etwas Unbekanntes weiter unten von den einfallenden Sonnenstrahlen reflektiert wurde, ja regelrecht kurz aufblitzte. Sofort zog sie Kim, die leicht versetzt vor ihr schwamm, an der Flosse und machte sie darauf aufmerksam. Schnell waren sie sich einig, dass sie sich das näher ansehen wollten.
Nebeneinander tauchten sie langsam tiefer. Dabei schauten sie immer wieder auf ihren Tauchcomputer, um ihre Tauchtiefe zu kontrollieren. In der Tiefe von fünfzig Metern stoppten sie. Beide sahen sich mit großen Augen erstaunt an, denn vor ihnen lag auf einem schmalen Riffvorsprung ein Kleinflugzeug, das noch nicht lange dort liegen konnte.
Die Neugierde war groß. Sie mussten sich das unbedingt näher ansehen.
Die linke Tragfläche war komplett weggerissen und lag bestimmt irgendwo weiter hinten und tiefer am Drop-Off. Langsam tauchten sie vom Heck der Maschine zum Bug. Dort angekommen, wischten sie vorsichtig eine kleine Stelle von den Ablagerungen aus Sand und ersten Algen auf dem Glas der Flugzeugkanzel frei, um ins Cockpit sehen zu können.
Mit weit aufgerissenen Augen und beschleunigtem Atem schauten sich Anne und Kim an. Nach dem Blick auf den Tauchcomputer und einem kurzen Handzeichen, stiegen sie langsam wieder auf und kehrten in geringer Höhe, ohne sich noch irgendetwas am Riff anzusehen, zur >Al Salam< zurück.
Unter dem Boot machten sie ihren, der Tauchtiefe und Tauchzeit angepassten, Sicherheitsstopp. Bereits nach fünfundvierzig Minuten kletterten sie, atemlos und ganz verstört, aus dem Wasser.
Die Männer hatten gerade erst damit begonnen, den Tisch zu decken, als sie die beiden Frauen bemerkten.
„Hey, was ist los? Ihr seid ja schon wieder da. Es lohnt sich wohl doch nicht, die Seite zu betauchen?“, fragte Sebastian und half seiner Frau gleich dabei, ihr Equipment abzulegen. Er sah in das Gesicht seiner Frau und stutzte. „Mädels, ihr seht aus, als hättet ihr einen Geist gesehen“, stellte er besorgt fest. Kaum hatte Andreas das gehört, war er sofort mit auf dem Deck und half seiner Frau, die sich noch voll angerödelt, neben ihre Freundin auf die Bank gesetzt hatte.
Die Männer wussten sofort, dass etwas nicht stimmte. Doch nach einem kurzen Blickkontakt waren sie sich einig, dass sie ihren Frauen etwas Zeit lassen und sie nicht bedrängen sollten. Sie halfen ihnen beim Ablegen des Equipments und der Anzüge und legten ihnen dann die Badetücher um.
„Anne, Spatz. Was ist los?“, fragte Andreas leise, während er seine Frau liebevoll trockenrubbelte, und schaute sie besorgt an.
„Kim und ich ... wir haben da unten ein Flugzeug entdeckt“, sagte Anne nach einer Weile und sah ihren Mann mit noch vor Schreck und Grauen weit aufgerissenen Augen an. „Da sitzen noch Menschen drin. Ihre Körper sind aufgedunsen, halb verwest und von Fischen angefressen.“
Kurz nachdem Anne das berichtet hatte, musste sie sich übergeben. Schnell half ihr Andreas hoch und hielt ihr fürsorglich den Kopf, als sie sich über die Reling beugte. Auch Kim würgte es und Sebastian war sofort zur Stelle, um seiner Frau zu helfen.
„Wo habt ihr das Flugzeug entdeckt?“, wollte Sebastian wissen, als die Frauen sich wieder auf die Bank zurückgesetzt hatten.
„Nach einem Gorgonienwald auf zwanzig Meter vielleicht noch zwanzig Flossenschläge. Dann steil auf fünfzig Meter runter, liegt das Heck. Durch die Neigung des Flugzeugs liegt die Kanzel etwa auf fünfundfünfzig Meter westlich auf einem Felsvorsprung“, antwortete Anne, noch immer blass.
„Seid ihr in die Nullzeit gekommen?“, wollte Andreas sofort wissen. Beide Frauen schüttelten den Kopf.
„Wir waren nur kurz so tief“, meinte Kim.
Andreas und Sebastian wussten, dass ihre Frauen gut ausgebildete Tauchlehrerinnen waren und durchaus bis in diese Tiefe tauchen konnten. Etwas, das für ungeschulte Sporttaucher bereits zu riskant gewesen wäre. Denn die empfohlene Tiefenbegrenzung mit einfacher Pressluft liegt bei vierzig Metern. Sonst besteht die Gefahr eines Tiefenrauschs. Wenn dann noch die Nullzeit nicht beachtet und dementsprechend längere Dekompressionsstopps auf unterschiedlichen Tiefen vernachlässigt werden, droht die Gefahr einer Dekompressionserkrankung, auch Taucherkrankheit genannt.
Obwohl Anne und Kim bestätigten, dass sie nicht in die Nullzeit gekommen waren, nahmen die Männer sofort die Tauchcomputer ihrer Frauen und überprüften das Tauchprofil. Als sie feststellten, dass dies in Ordnung war, atmeten sie erleichtert auf. Liebevoll nahmen sie ihre Frauen in den Arm und führten sie in den Salon. Sie setzten ihnen schnell Kaffee und ein Glas Wasser vor. Sebastian holte aus seinem Gepäck Beruhigungsmittel und verabreichte es den beiden Frauen. Geduldig warteten sie, bis es Kim und Anne wieder etwas besser ging.
Nach einer Weile zog Andreas seinen Freund zur Seite.
„Wir müssen da runter und uns das ansehen“, sagte er leise zu ihm, „Ich gehe allein. Du bleibst bei den Frauen.“
„Das kommt nicht infrage“, flüsterte Sebastian. „Wir gehen zusammen.“
„Willst du die Mädels in dem Zustand alleine lassen?“, konterte Andreas und entschied keinen Widerspruch duldend: „Nein, ich gehe alleine und sehe mir das an. Du kümmerst dich um die Frauen. Danach können wir entscheiden, was wir weiter unternehmen.“ Und schon ging er hinaus aufs Deck und zog seinen Tauchanzug über.
3
Andreas hielt sich genau an Annes Wegbeschreibung. Er tauchte in einer Tiefe von zwanzig Metern bis zu dem genannten Gorgonienwald und ging von da aus steil nach unten. Schon wenig später sah er den Felsvorsprung mit dem Flugzeug. Sofort erkannte er den Flugzeugtyp. Es war eindeutig eine größere Piper. Er tauchte vor zur Kanzel der Maschine und entdeckte die Stelle, an der die Frauen die Ablagerungen vom Glas gewischt hatten, um ins Cockpit sehen zu können.
Er zog seine Handschuhe über und wischte den Rest des Kanzelglases frei. Kurz musste er sich abwenden, als er die beiden Leichen sah. Dann aber betrachtete er sie sich genauer und entdeckte, dass der Pilot ein Loch im Kopf hatte, welches von einer Waffe stammen könnte.
Die Frontscheibe auf der Seite des Piloten war gesprungen, aber hielt trotz des vom Andreas vermuteten, starken Aufpralls auf dem Wasser. Langsam umtauchte er das Wrack, so gut es möglich war, und schaute auch durch die anderen Fenster. Dabei entdeckte er zwei weitere Leichen im Inneren der Maschine, die angeschnallt in den Sesseln saßen.
Der Absturz und dann das Absinken der Maschine mussten also sehr schnell gegangen sein. Vielleicht waren die Personen schon vor dem Absturz tot oder bewusstlos, überlegte er.
Eines der kleinen, bullaugenähnlichen Fenster war kaputt, doch dort kam er nicht heran, da es zu nahe an der Riffwand war. Die noch vorhandene Tragfläche sah zwar ramponiert aus, war aber noch dran. Der Flügel links fehlte. Der wurde wohl beim Auftreffen auf die Riffkante weggerissen. Die Seitenruder und das Höhenruder am Heck waren deformiert. Vielleicht hatte der Pilot, die Piper noch hochziehen wollen, sodass die Maschine anstatt mit der Spitze zuerst mit dem Heck auf die Wasseroberfläche aufschlug, versuchte sich Andreas, den Absturz vorzustellen. Gerade als er sich das genauer ansehen wollte, vibrierte sein Tauchcomputer am Handgelenk, der ihn vor der Nullzeit warnte. Ganz ruhig, ohne jegliche Hektik, holte er eine Notboje aus der Tasche seines Jacketts, verknotete das Ende der Schnur an der Funkantenne des Kleinflugzeuges und füllte den signalroten Kunststoffkörper der Boje mit Luft aus seinem Oktopus.
Vorsichtig ließ er die Boje nach oben, an die Wasseroberfläche, steigen. Dann tauchte er langsam auf und kehrte in niedriger Tauchtiefe zum Boot zurück, wo er schon von seinem Freund erwartet wurde.
„Und was ist?“, wollte Sebastian wissen, kaum, dass Andreas aus dem Wasser gestiegen war und auf der Tauchplattform stand.
„Wie geht es den Mädels?“, fragte Andreas, noch etwas außer Atem.
„Wieder gut. Sie frühstücken gerade“, antwortete Sebastian daraufhin leise und fragte ungeduldig: „Und was hast du gesehen?“
„Da liegt eine >Piper < mit deutscher Kennung. Zwei Mann Besatzung und zwei Passagiere, so weit ich gesehen habe. So wie es aussieht, wurde dem Piloten ein mächtig großes Loch in den Schädel gepustet“, gab Andreas zur Antwort, während er den eng anliegenden Neoprenanzug abstreifte.
„Tja, mit ’nem Loch in der Birne, könnte ich auch nicht mehr fliegen“, überlegte Sebi laut.
„Ich habe eine Boje gesetzt. Wir müssen uns unbedingt mit Jens in Verbindung setzen. Er soll sich mal umhören und herausfinden, ob die Maschine vermisst wird. Ich möchte wissen, was da los war“, erklärte Andreas, während er sich abtrocknete.
Nachdem er sich umgezogen hatte, gingen sie in den Salon zu den Frauen, um mit ihnen zu frühstücken. Keiner von ihnen erwähnte das Thema bei Tisch. Sie unterhielten sich stattdessen über ihre Kinder, die zurzeit bei Annes Eltern und ihrem gemeinsamen Freund, dem ägyptischen Generalstabsarzt, Professor Doktor Abdul Mechier waren.
Andreas hielt es aber nicht lange aus. Kurz nach dem Essen griff er zu seinem Satellitentelefon, betätigte die Kurzwahltaste und hörte auf das Freizeichen. „Hallo Doc, hier ist Andy“, meldete er sich, als er die Stimme von Abdul hörte. „Wie geht es den Kindern?“, wollte er wissen.
„Gut. Warum fragst du? Ihr seid doch gerade erst mal zwei Tage weg. Und schon habt ihr Sehnsucht? Franzi und Max planschen gerade mit Annes Eltern im Pool und Anja spielt mit eurem Kater Miekosch. Es ist eine Freude, ihr dabei zuzusehen“, berichtete Abdul vergnügt. Doch dann wurde er stutzig. „Ist bei euch alles in Ordnung?“
„Ich weiß noch nicht, Doc. Die Mädels haben ein Flugzeugwrack entdeckt, was etwas unheimlich ist. Kannst du dich mal mit Mahmud etwas umhören, ob hier in der Gegend ein deutsches Kleinflugzeug, vom Typ Piper, abgestürzt ist und seitdem vermisst wird?“
Abdul versprach, sich darum zu kümmern und sich, sobald er etwas in Erfahrung gebracht hatte, bei ihnen zu melden.
„Ich danke dir Doc. Grüß alle schön von uns und gib den Kleinen ein Küsschen von ihren Eltern. Wir hören wieder voneinander“, verabschiedete sich Andreas von seinem väterlichen Freund und trennte die Verbindung. Kurz danach wählte er eine weitere Nummer, lauschte erst auf das Freizeichen und darauf, dass der angerufene Teilnehmer endlich an sein Telefon ging.
„Hallo Jens, du alter Haudegen“, sagte er, nachdem sich sein Gesprächspartner gemeldet hatte. „Hier ist Andy, die Schneeeule. Hör zu, Sebi und ich, wir machen mit unseren Frauen gerade mal eine Woche Tauchurlaub. ... Ja, du hast recht, dass wir lieber arbeiten sollten, aber der Mensch braucht auch mal Erholung“, antwortete er lachend, als Jens Arend sich beschwerte, dass es ihnen viel zu gut ginge.
„Aber um mir das zu erzählen, damit ich neidisch werde, rufst du doch nicht extra an“, stellte Jens Arend, Flottillenadmiral einer Spezialeinheit der Kampfschwimmer, ernst werdend fest. „Oder habt ihr zwei Sehnsucht nach der Truppe und wollt wieder hier einsteigen und nicht mehr das langweilige Leben von Reservisten führen?“
„Oh nein, lass mal gut sein. Wir fühlen uns ganz wohl in dem langweiligen Leben“, konterte Andreas lachend. Doch dann wurde auch er ernst. „Weshalb ich wirklich anrufe: Anne und Kim sind beim Tauchgang heute früh auf ein Flugzeugwrack gestoßen.“
„Ja, dann freut euch doch. So habt ihr ein Wrack mehr, um es mit euren Urlaubern im Roten Meer zu betauchen. Und soweit ich weiß, sind der Rest ja nur langweilige Schiffswracks. Da kommt solch ein Flugzeug doch gut.“
„Na ja, ich lache da vielleicht später mal drüber“, sagte Andreas nur langsam, „denn es macht sich verdammt blöd, wenn da noch welche drin sitzen, die von den Fischen angeknabbert werden und der Pilot ein großes Loch im Kopf hat.“
„Oh Scheiße“, entfuhr es Jens. „Aber das ist doch dann ein Fall für die ägyptischen Behörden. Warum rufst du die nicht an, sondern mich?“
„Weil die Piper rein zufällig eine deutsche Kennung hat und so wie die Ablagerungen darauf aussehen und der Zustand der Leichen ist, dürfte sie schätzungsweise höchstens einen Monat oder vielleicht auch weniger da unten auf fünfzig Metern liegen. Jemand muss doch die Leute und die Maschine vermissen. Aber mir ist hier nichts von einer großangelegten Suchaktion oder einer vermissten Piper bekannt“, erklärte Andreas seinem Freund. Es trat kurzes Schweigen ein. „Jens? Bist du noch dran?“, wollte Andreas wissen, unsicher, ob vielleicht die Verbindung zusammengebrochen war.
„Ja, ja. Ich bin noch da. Hast du die Flugzeugkennung noch lesen können?“
„Die habe ich, samt Flugzeugtyp“, antwortete Andreas.
„Gut, gib mir, was du hast.“
„Es ist eine >Piper PA-31T Cheyenne< mit der Kennung D-IGLU. Zwei Mann Besatzung und, so weit ich sehen konnte, mindestens zwei Passagiere. Nur ob weiblich oder männlich, konnte ich noch nicht erkennen. Dazu muss ich erst in die Maschine rein“, erklärte Andreas.
„Woher kennst du den Flugzeugtyp so genau?“, wollte Jens wissen.
„Weil ich auf so einer Mühle das Fliegen gelernt habe. Ich kenne solch ein Teil wie den Inhalt meiner Westentasche.“
„Stimmt, du hattest ja eine schnelle Spezialausbildung als Pilot bekommen, um unser Team auf dem Gebiet ergänzen zu können“, erinnerte sich Jens. „Okay Jungs, ich kümmere mich darum und gebe euch Bescheid. Könnt ihr gefahrlos in die Maschine rein und euch da mal etwas umsehen, ob ihr vielleicht etwas zur Identifikation der Leichen findet?“ , fragte er vorsichtig.
„Sebi und ich, wir werden gleich noch mal runter gehen und sehen was sich machen lässt. Vielleicht wissen wir dann schon etwas mehr. Wir geben dir Bescheid, sobald wir was Neues haben“, informierte Andreas und fragte noch: „Und wie ist das Wetter in Deutschland?“
„Vergiss es. Hier regnet es schon seit Tagen junge Hunde und es ist kalt wie am Eisbärenarsch.“
„Komisch, ich dachte, dort ist es warm“, frotzelte Andreas.
„Das kommt daher, weil du da noch nicht dran warst, also kannst du das nicht wissen. Aber wenn der weiße Petz auf dem Eis sitzt, ist es da bestimmt nicht gerade sehr angenehm“, gab Jens lachend zurück. „Okay, grüße Anne, Kim und Sebi von mir. Ich melde mich, sobald ich was in Erfahrung gebracht habe.“
Andreas unterbrach die Verbindung und legte das Satellitentelefon zurück.
Zu der Zeit kam Sebastian vom Unterdeck hoch auf seinen Freund zu. Er informierte ihn kurz, dass sich die Frauen hingelegt hätten, da das Beruhigungsmittel sie müde gemacht hatte. Andreas nickte ihm dankbar zu und zog sein Shirt aus, weil es ihm langsam warm wurde.
Lange Narben, die er sich in einigen Einsätzen zugezogen hatte, zeichneten sich auf seinem braun gebrannten Oberkörper ab. Er band sein schulterlanges, schwarzes Haar mit einem Gummi zusammen und zwinkerte dem Freund aus seinen stahlblauen Augen zu. „Dann lass uns mal zur Boje schippern und tauchen gehen“, sagte er herausfordernd, schon gespannt auf das, was sie da unten entdecken würden.
Sebastian nickte ihm grinsend zu und ging nach oben ans Steuer, während Andreas bereits zum Bug lief, um den Anker zu lichten.
Sie entschieden sich, mit der Motorjacht ein Stück westlich der Boje erneut vor Anker zu gehen.
Sebastian, der am linken Bein eine Unterschenkelprothese trug, weil er bei einem Einsatz, während seines Militärdienstes sein Bein verloren hatte, machte vier Pressluftflaschen an zwei Leinen verteilt fest. Gemeinsam hoben sie die Flaschen über Bord. Sie senkten die ersten beiden auf fünfzig Meter und die beiden anderen auf zwanzig Meter ab und machten die Leinen an einer Klampe fest.
„Wir nehmen alle vier Lampen mit, damit wir im Flieger besser sehen können“, entschied Andreas. „Es ist ziemlich dunkel da drin.“
„Nur gut, dass ich die gestern Abend gleich noch an die Ladestation gehängt habe. Sonst hätten wir jetzt schlechte Karten“, meinte Sebastian, holte die Lampen aus dem Salon und legte sie auf der Tauchplattform am Heck bereit.
Andreas schlich sich in die Kabine, die er sich mit seiner Frau teilte.
Anne lag auf dem Bett. Sie trug ihr blondes, langes Haar offen, das sich spielerisch um ihren Körper legte. Müde lächelnd sah sie ihren Mann an. „Ihr wollt jetzt beide da runter tauchen. Habe ich recht?“, fragte sie leise.
Andreas nickte ihr zu. „Wir haben vorsichtshalber vier Flaschen für längere Dekostopps runter gelassen, Spatz. Wir wissen nicht, ob wir sie brauchen werden, aber besser ist besser, wie du weißt. Mir wäre es lieb, wenn du mit Kim trotzdem etwas darauf achten würdest und zur Not noch was nachschickst. Aber dafür müssen die anderen Flaschen von gestern und von euch heute früh, erst wieder aufgefüllt werden“, erklärte er und streichelte ihr dabei zärtlich über die Wange.
Anne nickte ihm zu und gab ihm einen Kuss. „Ich kümmere mich gleich darum. Bitte passt auf euch auf. Versprich mir das.“ Dabei schaute sie ihrem Mann fest in die blauen Augen, in denen sie jedes Mal aufs Neue versinken konnte.
„Versprochen, Schatz“, flüsterte Andreas. „Ich muss jetzt los. Sebi wartet bestimmt schon.“
Er gab ihr noch einen lieben Kuss und verschwand aus der Kabine, ließ die Tür aber angelehnt.
Sebastian hatte seinen Neoprenanzug übergestreift und legte gerade seinen Gurt um. Dieser sah aus wie ein normaler Taschenbleigurt, doch er beinhaltete kein Blei, sondern Spezialwerkzeuge, Erste-Hilfe-Packs und andere wichtige Utensilien, die für gewöhnlich ausgebildete Kampfschwimmer bei sich führten. Das wenige Blei, das die beiden Männer brauchten, verstauten sie in den Taschen ihrer bleiintegrierten Tarierwesten. Auch Andreas machte sich einen solchen Gurt um, nachdem er seinen Tauchanzug übergezogen hatte.
Während sie das weitere Tauchequipment anlegten, besprachen sie ihren Tauchgang und wie sie am Flugzeug vorgehen wollten.
Nach einem kurzen Buddycheck sprangen sie nebeneinander mit einem großen Schritt ins Leere in das kühle Nass. Sie tauchten sofort, linke Schulter zur Riffwand, steil ab.
Durch die gute Sichtweite erkannten sie das Flugzeugwrack, welches auf dem Felsvorsprung lag, schon von Weitem und hielten direkt darauf zu.
Dort angekommen, umrundeten sie es und suchten nach äußeren Schäden an der Maschine. Doch außer der Beschädigung, die durch den Aufschlag auf der Wasseroberfläche und dann an der Riffwand, entstanden waren, und der eingerissenen Frontscheibe, konnten sie nichts erkennen. Zwei Fenster, die in Richtung der Riffwand zeigten, waren geborsten. Die Blätter des noch vorhandenen Propellers an der rechten Tragfläche waren verbogen und das Heck leicht abgeknickt. Die linke Tragfläche fehlte. Diese lag bestimmt weiter unten auf dem Grund des Drop-Offs.
Den Männern war klar, dass mit Sicherheit jede Menge, je nachdem, wie lange die Maschine schon in der Luft gewesen war, an Kerosin ins Meer gelaufen sein musste, denn die Tanks befanden sich in den Tragflächen des Flugzeugs.
Schnell stellten sie fest, dass sie durch keines der beiden kaputten Fenster in das Innere des Flugzeuges kommen konnten. Der Platz zwischen der Riffwand und dem Rumpf der Maschine war zu schmal für sie, um dazwischen zu gelangen.
Andreas gab seinem Freund ein paar Handzeichen. Sebastian nickte ihm zu und sie tauchten zur Tür am Heck.
Während Sebastian mit der Unterwasserlampe leuchtete, versuchte Andreas, an die kleine verdeckte Klappe heranzukommen, deren Mechanismus dahinter es ermöglichte, die Tür von außen zu öffnen. Doch als er diesen betätigte, passierte nichts. Die Tür musste sich verzogen haben. Außerdem konnten sie die Tür auch so schon nur schwer erreichen, dafür lag der Rumpf zu dicht an der Riffwand. Da war kein Reinkommen.
Nach einem prüfenden Blick auf seinen Tauchcomputer entschied Andreas, abzubrechen und zum Boot zurückzukehren. Sie waren kurz vor der Nullzeit und konnten so noch ganz normal, nach einem Sicherheitsstopp auf fünf Meter, langsam am Heck der >Al Salam< wieder auftauchen.
Kim und Anne warteten bereits auf sie und halfen ihren Männern beim Ablegen des Tauchequipments. Gemeinsam setzten sie sich dann aufs Oberdeck in die Sonne.
„Wir müssen noch mal runter“, verkündete Sebastian. „Wir sind noch nicht in die Maschine reingekommen.“
„So ein kleiner Sprengsatz von Pitt wäre jetzt nicht schlecht, um die Tür auszuhebeln und in die Piper hineinzukommen“, überlegte Andreas leise.
„Ja, aber den haben wir nicht und bekommen ihn auch nicht. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen sehen, dass wir durch die Kanzel reinkommen“, gab Sebastian zu bedenken.
„Aber da sitzen doch die beiden toten Männer“, brachte Kim entsetzt hervor.
„Stimmt Liebling, aber es nützt nichts. Irgendwie müssen wir in die Maschine reinkommen, wenn wir mehr erfahren wollen“, erwiderte Sebastian leise. Er nahm seine Frau in den Arm und strich ihr dabei zärtlich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Nein, wir müssen nicht durch die Kanzel“, überlegte Andreas laut. „Wir schlüpfen durch das erste Fenster links hinter der Pilotenkanzel rein. Wir müssten dazu zwar das Jackett ablegen und extra durchreichen, um reinzukommen, aber es ist möglich. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen, wie und womit wir die Scheiben einschlagen können. Und das ist nicht gerade leicht. Aber es ist machbar. So bräuchten wir keine der Leichen bewegen“, erklärte er.
Gemeinsam berieten sie, wie sie das Fenster, mit den Mitteln, die sie zur Verfügung hatten, am besten eingeschlagen bekämen. Schließlich handelte es sich dabei nicht um normales, dünnes Fensterglas.
Nach zwei Stunden machten sich die beiden Männer erneut fertig, um zum Flugzeugwrack zu tauchen. Dieses Mal hatten sie noch zusätzliches Werkzeug dabei.
Am Wrack angekommen, machten sie sich an die Arbeit und hatten wenig später die erste der drei Acrylscheiben geknackt und beseitigten vorsichtig die scharfen Kanten, um sich beim Hineintauchen nicht daran zu verletzen. Die zweite und dritte der Verbundscheiben waren dann schnell komplett herausgehebelt.
Andreas legte sein Jackett mit der Pressluftflasche ab und reichte es Sebastian, dann zwängte er sich als Erster durch die enge Öffnung. Kaum dass er in der Maschine war, reichte ihm Sebastian zuerst den Atemregler und schob danach das Jackett durch das Fensterloch. Nachdem Andreas sein Jackett wieder angelegt hatte, zog Sebastian seine Tarierweste aus und reichte sie seinem Freund in das Innere der Piper. Gekonnt schlängelte auch er sich durch den schmalen Einstieg. Sofort half Andreas ihm beim Anlegen seiner Tarierweste mit der daran befindlichen Pressluftflasche.
Im Inneren des Flugzeugwracks angekommen, schalteten sie ihre Unterwasserlampen an und schauten sich vorsichtig um. Andreas tauchte nach vorn zu den Piloten ins Cockpit, während sich Sebastian vorsichtig in der Passagierkabine umschaute. Sie machten von allem, was sie sahen und entdeckten, Fotos mit ihren digitalen Unterwasserkameras, bevor sie etwas berührten oder gar veränderten.
Als der Tauchcomputer an Andreas’ Handgelenk vibrierte und damit vor der Nullzeit warnte, kehrte er aus dem Cockpit zurück in den Passagierraum, wo Sebastian gerade dabei war, die Kleidung einer der Leichen nach Dokumenten zu durchsuchen.
Noch auf dem Weg zu seinem Freund stach ihm ein Aktenkoffer aus schwarzem Leder ins Auge. Der unter einem der beiden Tische lag und dort mit einer Kette am fest installierten Tischbein befestigt war. Schnell schoss er ein Foto, dann zog er eine Zange aus dem mitgebrachten Werkzeugnetz und mühte sich ab, die Kette damit zu knacken.
Geschafft, dachte er erleichtert und zog den schwarzen Koffer vor und nahm ihn an sich. Dann tippte er Sebi an und zeigte auf seinen Tauchcomputer. Der nickte ihm zu und nacheinander, sich gegenseitig helfend, verließen sie das Wrack der Piper wieder.
Ihr Luftvorrat war fast erschöpft. Also tauchten sie von dem Wrack weg und wechselten ihre leeren Druckluftflaschen gegen die vollen, die sie schon vor ihrem ersten Tauchgang auf fünfzig Metern unter dem Boot positioniert hatten.
Langsam, ihre Dekompressionszeiten einhaltend, hangelten sich die beiden Männer an dem Seil der gesetzten Boje immer weiter nach oben. Als ihre Tauchcomputer anzeigten, dass sie wieder aus der Nullzeit heraus waren, stiegen sie langsam auf und kamen nach drei Stunden, zurück an die Wasseroberfläche, wo sie von Anne und Kim ungeduldig erwartet wurden.
Andreas schob zuerst den Aktenkoffer aufs Tauchdeck, dann reichte er Anne seine Unterwasserkamera, zog die Flossen aus und warf sie auf die Taucherplattform, bevor er die Leiter hochkletterte. Er nahm Sebastian die Kamera ab und half ihm dann aus dem Wasser.
„Kim werfe bitte den Rechner an. Wir wollen uns die gemachten Fotos genauer ansehen“, bat Sebastian seine Frau, während er noch sein Equipment ablegte und den Anzug auszog. Andreas tauchte die Unterwasserkameras in einen bereitgestellten Eimer mit Süßwasser und wusch so das Salzwasser von den Unterwassergehäusen. Danach trocknete er die Gehäuse gründlich ab. Im Salon holten die beiden Männer die Digitalkameras aus den Unterwassergehäusen und entnahmen ihnen die kleinen Speicherkarten.
„Anne Schatz, ich glaube, diese Bilder werden nicht so das Richtige für dich sein“, flüsterte Andreas einfühlsam, als sich seine Frau mit zu ihnen vor den Computer setzen wollte. „Dich hat es davon schon heute früh ausgeschert, du musst dir das nicht noch einmal antun.“
„Du hast recht. Aber habt ihr nicht auch Bilder gemacht, wo diese … Leichen … nicht mit drauf sind?“, fragte sie und schaute ihren Mann dabei unsicher an.
„Ja, haben wir auch“, antwortete Sebastian. „Wenn es so weit ist, dann holen wir euch mit dazu. Einverstanden?“
Kim und Anne nickten den Männern zu und verzogen sich in die kleine Kombüse, um etwas zu essen zu machen.
Zuerst steckten sie den Speicherchip aus Andys Kamera an und luden die Fotodatei auf den Rechner. Nacheinander schauten sie sich die Bilder an.
„Hey, da ist ja noch ein Kerl im Cockpit“, stellte Sebastian völlig überrascht fest, als er das erste Bild genauer betrachtete.
„Ja, ich habe ihn eingeklemmt hinter, den Pilotensitzen liegend entdeckt. Kannst du den langen Striemen auf dem Rest seines Gesichts erkennen? Ich glaubte erst, dass es eine Alge oder eine andere Ablagerung ist. Aber ich bin mir nun ziemlich sicher, dass es sich dabei um eine sehr markante Narbe handelt“, erklärte Andreas und zeigte genau darauf. „Ich glaube es ist auch der Mann der dem Piloten das unfeine Loch im Schädel verpasst hat, denn wie du siehst hält er die Beretta M9 immer noch in der Hand. Er muss Linkshänder gewesen sein. Siehst du“, sagte er noch, dann stutzte er kurz und zeigte wieder auf den Monitor.
„Kannst du mir den Ausschnitt hier mal vergrößern? ... Na bitte, da haben wir doch sogar die Seriennummer, der Bleispritze“, stellte Andreas freudig fest und notierte sich schnell die Zahlen.
„Ich hoffe das hilft uns weiter, denn ich schätze mal, du hast bei den anderen auch keine Papiere gefunden. Zumindest war es bei meinen beiden Kunden so, wovon übrigens einer eine Frau war“, sagte Sebastian. Dann sahen sie sich die nächsten Bilder an.
„Halt mal. Was ist das dort hinten in der Ecke?“, fragte Andreas kurz darauf. „Kannst du das Bild noch etwas heller und schärfer machen?“, bat er seinen Freund.
Sebastian legte das Foto ins Bildbearbeitungsprogramm und begann mit seiner Arbeit. Nach kurzer Zeit hatten sie den gewünschten Bildausschnitt vergrößert, aufgehellt und scharf vor sich auf dem Monitor. Erstaunt sahen sich die beiden Männer an. Halb verdeckt waren da drei große, übereinander gestapelte Kisten zu sehen, welche die Aufschrift >US-Army< trugen.
„Da stinkt doch etwas ganz gewaltig zum Himmel. Riechst du das nicht auch?“, fragte Sebastian leise. Andreas nickte ihm nur zu. Dann schlug er vor, den noch draußen liegenden Aktenkoffer zu öffnen, um da mal einen Blick hineinzuwerfen.
Sie nahmen sich eine Decke mit nach draußen und breiteten sie auf dem Deck aus. Andreas holte den Koffer und legte ihn auf die Decke.
„Der Inhalt des Koffers muss dem Kerl wichtig gewesen sein, wenn er ihn am Tischbein angekettet hatte. Ich hoffe, das Ding ist nicht noch zusätzlich gesichert. Nicht, dass uns das Teil gleich um die Ohren fliegt, wenn wir den Deckel gewaltsam öffnen. Oder hast du zufällig den Zahlencode im Kopf?“, fragte Sebastian.
Andreas grinste ihn an, zuckte mit den Schultern, stand wieder von der Decke auf und holte sein Spezialwerkzeug.
„Dann müssen wir die Büchse eben ganz vorsichtig öffnen. Wenden wir doch an, was wir mal vor langer Zeit gelernt haben. Ich will wissen, was da drin ist“, antwortete er seinem fast zwei Köpfe kleineren Freund.
„Aber nicht jetzt Jungs. Erst einmal wird gegessen“, sagte Kim, die gerade aus der Kombüse kam.
„Wir stellen uns schließlich nicht umsonst an den Herd. Ihr könnt dann weiterspielen“, mischte sich auch Anne ein und begann den Tisch zu decken.
Schnell räumten die Männer den Laptop zur Seite, aber ließen ihn an. Immer wieder schauten sie auf den Monitor, auf dem noch das vergrößerte Bild der drei Kisten mit dem Emblem und dem Schriftzug >US-Army< zu sehen war.
4
Zur selben Zeit in Deutschland.Flottillenadmiral Jens Arend fuhr in seinem schwarzen Volvo am Rande des Rollfelds eines Flugplatzes entlang, der hauptsächlich von Segelfliegern und kleineren Privatmaschinen genutzt wurde. Sein Ziel war ein abgelegener Flugzeughangar einer privaten Fluggesellschaft.
Er brachte den Wagen direkt vor dem großen Tor zum Stehen. Gerade als er aussteigen wollte, kam schnell ein Mann in einem verschmierten Overall auf ihn zugelaufen und wedelte wikd mit den Armen durch die Luft.
„Hey, bring deine Schrottmühle hier weg, sonst hole ich den Sicherheitsdienst vom Flughafen. Hier ist kein Parkplatz“, schrie er, „du Idiot, oder sollen wir dich platt …“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, als der Mann in Marineuniform, die ihn als Flottillenadmiral auswies, aus dem Wagen stieg. Er sich zur vollen Größe vor ihm aufrichtete, ihm entgegen grinste, während er gelassen seine Sonnenbrille abnahm, mit der Hand über sein kurzes, dunkelblondes Haar fuhr und dann seine weiße Schirmmütze aufsetzte.
Geduldig wartete der Offizier, bis der kleine Mann nahe genug war, dann fragte er.
„Was wollen Sie mich? Ich habe den Rest des Satzes nicht ganz verstanden. Sind Sie Herr Hartmann? Habe ich mit Ihnen wegen der Piper am Telefon gesprochen?“ Dabei sah er den Mann streng an. Doch innerlich amüsierte es ihn, wie der junge Mann vor ihm strammstand.
„Oh, ent…, entschuldigen Sie bi…, bitte. Ich wus…, wusste ja nicht…“, stotterte der Mann vor Schreck. „Nein, Herr Flott…, Flottillenadmiral, da, da hab…, haben Sie bestimmt mit mei…, meinem Chef gesprochen. De…, der ist da hinten in der Baracke. Ich bringe Sie gern zu ihm.“
„Sie können sich wieder rühren, oder sind Sie hier beim Bund?“, sagte Jens belustigt.
„Nein Herr Flottillenadmiral, aber ich habe meine zweijährige Dienstzeit gerade erst rum. Da steckt das wohl noch ein bisschen drin“, entschuldigte sich der junge Mann verlegen, nun aber gelassener.
„Wo haben Sie denn gedient?“, wollte Jens wissen, während sie gemeinsam zu der kleinen, weiß gestrichenen Baracke gingen.
„Ich war bei den Feldjägern und ein halbes Jahr mit in Afghanistan“, antwortete der Junge und schaute zu dem, um einen Kopf größeren, kräftigen Mann in Uniform auf. Am Ärmel erkannte er das Zeichen einer Spezialeinheit und er fragte sich, was dieser hochrangige Offizier wohl von seinem Chef wolle.
Kurz vor der Tür zur Baracke wandte sich der Offizier dem Mann im verschmierten Overall zu. „Danke mein Junge, den Rest des Weges finde ich bestimmt allein. Ich bin ja schon groß.“ Dabei lächelte er ihn an. Verlegen nickte der Mechaniker und ging zum Hangar, an seine Arbeit zurück.
Jens Arend klopfte an und öffnete die Tür der Baracke, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ein älterer Mann mit weißem, lichtem Haar stand mit dem Rücken zu ihm und goss sich gerade in aller Ruhe einen Kaffee ein. „Was ist nun schon wieder los, Kai? Hast du nichts zu tun? Mach dich raus und sieh zu, dass die Cessna fertig wird“, sagte er mit rauer Stimme, ohne sich umzudrehen.
„Verzeihen Sie bitte. Aber Kai ist bei der Arbeit. Sind Sie Herr Hartmann? Ich bin Flottillenadmiral Jens Arend. Ich glaube wir haben vor drei Stunden miteinander telefoniert“, meldete sich Jens mit fester Stimme.
Langsam und wenig beeindruckt drehte sich der alte Mann um und besah sich den vor ihm stehenden Offizier über seine, auf der Nasenspitze sitzende, Lesebrille. „Ja, ich erinnere mich. Sie haben sich nach meiner Piper erkundigt. Setzen Sie sich doch. Wollen Sie auch einen Kaffee? Ich brauch jetzt einen, sonst schlafe ich gleich ein. Habe die halbe Nacht über dem Papierkrieg hier zugebracht“, nuschelte der ältere Mann. Dabei zeigte er auf seinen Schreibtisch.
Ohne die Antwort seines Gastes abzuwarten, füllte er einen zweiten großen Kaffeepott und schob ihn auf die Seite des Tisches, wo der Mann in Uniform auf einem, eher unbequemen Stuhl Platz genommen hatte und sich in dem Raum umsah. „Und was wollen Sie wissen?“, fragte er, ohne dabei neugierig zu wirken, sondern eher gelangweilt.
„Sie sind der Besitzer der Piper PA-31T Cheyenne mit der Kennung D-IGLU?“, begann Jens.
„Ja, aber so weit waren wir auch schon vor einer Stunde am Telefon“, antwortete der Altere. „Dafür hätten Sie sich nicht extra herbeimühen müssen.“ Dabei lächelte Hartmann den Mann vor sich an und hob seinen Kaffeebecher, aus dem er laut schlürfend einen Schluck nahm.
Auch Jens führte den Becher zum Mund und trank vom noch heißen Kaffee. „Oh Mann, ist der stark“, stellte er fest. „Mein lieber Scholli. Da steht ja der Löffel drin.“
Der alte Mann lachtelaut auf und ließ dabei seinen Goldzahn aufblitzen. „Ja, der ist gut, was? Ich sagte doch, dass ich munter werden muss.“ Dann wurde er aber schnell wieder ernst, als er fragte: „Was ist mit der Maschine, dass Sie deshalb den weiten Weg auf sich genommen haben?“
„An wen haben Sie die Maschine vermietet?“, wollte der Flottillenadmiral wissen.
„An keinen“, kam kurz die Antwort.
„Aber wissen Sie überhaupt, wo sich die Maschine jetzt im Moment befindet?“, fragte Jens weiter.
Der alte Mann lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, schlug seine Arme übereinander und schaute den Offizier mit hellwachen Augen herausfordernd an. „Warum fragen Sie das?“
„Weil ich es vielleicht weiß.“
„Na, nun bin ich mal gespannt“, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch, neugierig geworden. „Dann klären Sie mich mal auf, wo mein liebstes Stück jetzt gerade steht.“
„Sie steht nicht, sondern sie liegt. Und zwar in fünfzig Metern Tiefe vor der Küste von Ägypten im Roten Meer auf einem Felsvorsprung und wird von bunten Fischen umschwärmt“, antwortete Jens und war auf ein erschrockenes Gesicht des Eigners gefasst.
Doch dieser lächelte ihn nur an und schüttelte leicht den Kopf. Dann nickte er, wie es schien, anerkennend. „Wirklich gut Herr Arend. Ja. Den Witz muss ich mir merken.“
Jetzt verstand Jens erst einmal gar nichts mehr. Wie konnte der Mann so ruhig bleiben und das als Witz abtun? „Aber es ist wahr. Taucher haben die Piper heute früh dort entdeckt. Sie müssen die Maschine und ihren Piloten doch schon längst vermissen.“
„Also dann sollte ich mich wohl mal schnell selbst als vermisst melden und einen Kranz für mein eigenes Seebegräbnis kaufen“, stellte Gerhard Hartmann trocken fest. Als sein Gast ihn noch immer ungläubig ansah erklärte er: „Die Pieper Cheyenne fliege nur ich und sonst kein anderer. Das ist mein Baby.“
Nun verstand Jens gar nichts mehr. „Aber wenn die Ihr Baby ist, wieso haben Sie die dann weggegeben und wer ist der tote Pilot? Oder wurde sie Ihnen gestohlen und Sie haben es nur noch nicht bemerkt?“, fragte Jens verwirrt.
„Jetzt wird es mir zu bunt“, brummte der Alte, stützte seine Hände auf die Schreibtischplatte und stemmte sich leise stöhnend hoch. „Kommen Sie mit.“ Ohne darauf zu warten, dass sich sein Gast von dem Stuhl erhob, lief der Mann zur Tür und raus übers Rollfeld Richtung Hangar.
Gefolgt vom Flottillenadmiral ging er durch eine Seitentür in den graugestrichenen Hangar, in dem mehrere kleine ein- und zweimotorige Flugzeuge standen. Sie durchquerten die große Halle und gingen zu der Tür an der anderen Seite, die Gerhard Hartmann quietschend öffnete. Er schob dann den Flottillenadmiral einfach durch. „Hier sind wir.“
Als Erstes entdeckte Jens einen Hubschrauber vom Typ >SA-319 Alouette III<, wie er auch bei der Bundeswehr verwendet wird.
„In dieser Halle befinden sich meine Babys, die nur ich fliege und auch noch drauf ausbilde“, erklärte Hartmann voller Stolz, als sie am Hubschrauber vorbeigingen. „Und hier steht meine Piper 31T. Ich habe damit gestern erst ein paar Geschäftsleute mit herumkutschiert. Sieht so eine Maschine aus, die auf dem Meeresgrund liegt?“
Jens blieb wie vom Blitz getroffen stehen und schaute auf die vor ihm stehende Maschine, als sähe er einen Geist. Die Kennung stimmte auch.
„Da haben eure Taucher wohl Tomaten auf den Augen oder leiden an Wahnvorstellungen. Ihr solltet sie vielleicht öfter mal untersuchen lassen. Ich hab ja schon gehört, dass Tauchen blöd machen soll“, meinte Hartmann und grinste den Offizier herausfordernd an.
„Nein, diese Männer sind absolut zuverlässig“, antwortete Jens noch immer wie geistesabwesend und schaute auf die Kennzeichnung am Heck der Maschinen.
Gerhard Hartmann zog die Schultern hoch. „Ja, dann hat da wohl einer meine Kennung auf seine Maschine gepinselt. Anders kann ich es mir nicht erklären. Aber ich lasse mein Baby nicht aus den Augen. Habe darauf und auf dem Hubschrauber schon solche wie dich ausgebildet und die beiden Schmuckstücke der Bundeswehr abgekauft, als ich dort weg bin. Seitdem hat die Piper auch diese Kennung“, erklärte der alte Mann. Dann stellte er sich als Oberst der Luftwaffe, außer Dienst, vor.
„Sie haben welche von uns darauf ausgebildet? Wie viele?“, wollte Jens hellhörig geworden, wissen.
„Von eurem Haufen waren es drei, wenn ich mich recht entsinne. Ich erinnere mich da an einen Steffen Körner, einen Ralf Richter und einen … kleinen Moment, ich komme gleich wieder auf seinen Namen“, sagte Hartmann überlegend.
„Andreas Wildner.“, sprach Jens für ihn weiter.
„Ja genau, so hieß der Bursche. Die drei waren sehr gut, haben verdammt schnell gelernt. Aber sie waren auch unmögliche Lausbuben. Hatten immer Blödsinn im Kopf und es faustdick hinter den Ohren. Ich hatte viel zu lachen, aber auch meine liebe Not mit den Kerlen. Sie kennen sie?“
“Ja, und wie ich die kenne. Sie dienten mit mir zusammen“, antwortete Jens versonnen lächelnd.
„Und wie geht es ihnen? Erzählen Sie schon“, forderte Hartmann den Offizier auf.
„Steffen Körner ist vor drei Jahren in einem Einsatz gefallen“, sagte Jens traurig.
„Oh ja, ich glaube ich habe davon gehört. Das tut mir sehr leid. Es war ein hervorragender Mann mit guten Führungsqualitäten. Und was macht Ralf jetzt?“, fragte Hartmann weiter.
„Er war nach seinem Ausstieg erst auf einem Forschungsschiff als Techniker und sozusagen Allzweckpilot. Jetzt ist er verheiratet, hat Steffens Zwillinge nach Steffens Tod mit seiner Frau zusammen adoptiert und ist jetzt Pilot eines Rettungshubschraubers. Er wird gern für knifflige Flüge angefordert. Also hat er wirklich sehr viel von Ihnen gelernt“, antwortete Jens und lächelte seinen Gegenüber an.
„Und Andy, was macht der inzwischen?“, wollte Hartmann dann wissen.
„Andreas Wildner hat ihre Piper heute früh auf dem Meeresgrund gefunden. Er kann sich nicht in der Kennung geirrt haben“, antwortete Jens Arend ernst. „Außerdem hat er auch genau den Typ der Maschine erkannt. Schließlich hat er auf so einer bei Ihnen gelernt.“
„Ja dann würde ich sagen … dass da etwas oberfaul ist. Ist Wildner noch vor Ort?“, wollte Hartmann nun wissen.
Jens nickte ihm zu und erklärte: „Ja, Andreas ist noch dort. Er ist in Ägypten stolzer Besitzer einer Tauchschule. Auf einem privaten Tauchgang hat seine Frau, in fünfzig Metern Tiefe die Maschine entdeckt. Als er dann untertauchte, um sich das anzusehen, erkannte er sofort den genauen Typ der Maschine und hat mir das Hoheitszeichen und die Kennung durchgegeben. Denn er war der Meinung, dass etwas nicht damit in Ordnung ist, weil sich darin noch Leichen befinden und der Pilot ein großes Loch im Kopf hat.“
Nachdem der alte Oberst das gehört hatte, zog er Arend einfach mit sich mit. „Kommen Sie mit zurück in mein Büro“, forderte er. Noch während sie die Halle durchquerten, fragte er: „Können Sie ihren Mann dort jetzt erreichen?“
„Ja, wenn er nicht gerade wieder zum Wrack runtertaucht, schon. Warum?“
„Ich will ihn sofort sprechen“, sagte Hartmann. „Vielleicht kann ich euch ja etwas helfen, wenn ihr mich lasst.“
Gern nahm Jens Arend die angebotene Hilfe des erfahrenen Mannes an. Sofort liefen sie zur Baracke zurück.
„Hier wählen Sie die Nummer“, forderte Gerhard Hartmann und reichte Arend den Apparat. „Stellen Sie auf laut, so können wir ihn beide hören und mit ihm sprechen“, schlug er vor. Er zog den unbequemen Stuhl, auf dem zuvor Jens Platz genommen hatte, weg und rollte stattdessen einen anderen, bequemen Bürosessel vom anderen Ende des Raums heran und bot ihn dem Gast an. Gerhard Hauptmann setzte sich in den Sessel hinter seinen Schreibtisch und füllte die Becher wieder mit heißem Kaffee auf, den er von der Kaffeemaschine holte.
5
„Wow, habt ihr zwei wieder gut gekocht“, lobte Sebastian die Frauen. „Davon kann man nicht genug bekommen. Allerdings macht mich das so richtig träge, Mädels.“ Dabei lachte er und strich sich über den Bauch, den er provokativ hervorreckte. Gemeinsam räumten sie den Tisch ab und die Männer übernahmen freiwillig den Abwasch, während Anne und Kim sich aufs Oberdeck verzogen, um sich etwas zu sonnen.Gerade als Ralf und Andreas wieder raus aufs Deck wollten, um sich um den Aktenkoffer zu kümmern, klingelte das Handy.
„Mann, wer ist das denn jetzt? Ich will doch endlich wissen, was in dem verdammten Koffer drin ist“, beschwerte sich Andreas und ging zurück in den Salon, um sein Telefon zu holen. Als er auf der Anzeige eine unbekannte Nummer sah, meldete er sich nur mit: „Ja.“
„Hier Bussard. Kannst du dich nicht richtig melden“, hörte Andreas die bekannte, aber gerade schroff klingende Stimme in seinem Hörer.
„Hier Wanderfalke und Schneeeule bei der Arbeit“, meldete er sich belustigt und fragte dann aber ernst weiter: „Was gibt’s, Bussard? Seit wann hast du eine neue Nummer? Wem gehört denn nun die Mühle? Hast du was rauskriegen können?“
„Seit wann ist eine Piper PA-31T Cheyenne eine alte Mühle?“, meldete sich protestierend eine mürrische, fremde Stimme.
„Jens, wen hast du da mit an der Strippe?“, wollte Andreas, unsicher geworden, wissen.
„Deinen Fluglehrer Oberst a.D. Hartmann. Dem gehört nämlich die Piper mit der Kennung und auf der hast du sogar gelernt. Und nun staune mal, mein Kleiner. Sie steht frisch geputzt und glänzend, fein aufgeräumt in seinem Hangar. Ich habe sie selbst gesehen“, erklärte Jens.
„Hallo Herr Oberst Hartmann. Schön, Sie wieder mal zu hören. Aber was habe ich da hier unter meinem Boot liegen, wenn es nicht ihre Piper ist?“, fragte Andreas vorsichtig nach.
Andy, du kennst die Piper, auf der du gelernt hast. Also erinnere dich daran. Jede Piper hat kleine Eigenheiten im Außen- oder Innenausbau. Was hast du gesehen, als du dort unten warst? Konntest du auch in die Maschine rein?“, fragte sein ehemaliger Flugausbilder.
Andreas erklärte ihm, dass sie im Inneren der Piper waren und detaillierte Fotos davon gemacht hatten, aber zum genaueren Nachsehen zu wenig Zeit war, da sie sich erst einmal für die Identität der fünf Leichen interessiert hatten.
Jens fragte, ob sie ihm das Material mailen könnten. Andreas konnte das bejahen und erklärte, dass sie die Möglichkeit über eine Satellitenverbindung hätten. Er ließ sich die E-Mail-Adresse geben, verpackte die Bilder in eine komprimierte Datei und schickte sie sofort auf die Reise.
„Aber ich weiß noch von Ihnen, dass dieser Typ eine Gesamtproduktion von 823 Stück weltweit hatte. Das ist eine Suche nach der bekannten Stecknadel im Heuhaufen, Herr Oberst“, gab Andreas zu bedenken.
„Gut aufgepasst, mein Junge“, lobte Gerhard Hartmann. „Aber las mal den Dienstrang weg. Wir sind, so wie ich von Flottillenadmiral Arend schon weiß, beide Zivilisten. Und da ich der Ältere bin, biete ich dir gern das Du an. Ich heiße Gerhard.“
Gern nahm Andreas das Angebot an. Doch dann wollte er wissen, wie sein Fluglehrer bei der Masse an Flugzeugen herausbekommen will, welches von denen es ist, wo sie doch nun festgestellt hatten, dass das unter seinem Boot eine falsche Kennung hatte. Außerdem beschäftigte ihn die Frage, warum es unter falscher Kennung unterwegs war.
Gerhard erklärte kurz, dass er als sein Hobby alles über diesen Flugzeugtyp gesammelt hatte, was er an Informationen bekommen konnte.
„Okay Andy, die Bilder sind da. Du hättest uns wirklich warnen können“, meinte Jens als er sie sich im Schnelldurchlauf ansah. „Da kommt mir doch der Kaffee wieder hoch. Und das haben Kim und Anne gesehen?“
„Ja, die haben danach erst einmal die Möwen füttern müssen und sich das Essen vom Vortag noch mal durch den Kopf gehen lassen. Aber jetzt geht es ihnen schon wieder gut“, erzählte Andreas locker.
Gerhard versprach, sich sofort dranzusetzen und sich wieder zu melden, wenn er etwas über das Flugzeug im Meer herausbekommen konnte. Andreas machte Jens dann noch auf das Bild mit den Kisten aufmerksam und informierte ihn auch, dass sie einen Aktenkoffer mit hochgebracht hatten, der ebenfalls auf einem der Bilder zu sehen war und den sie gleich öffnen wollten. Jens ermahnte sie dabei vorsichtig zu sein, für den Falle, dass er noch extra gesichert ist.
„Klar doch Papi, daran haben wir auch schon gedacht. Wir sind doch keine blutigen Anfänger“, beruhigte Andreas seinen Freund und ehemaligen Vorgesetzten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander und wünschten sich gegenseitig viel Glück.
Sebastian hatte alles mitangehört und saß noch völlig in Gedanken versunken am Tisch. „Ich glaube, da will jemand den Deutschen was in die Schuhe schieben und hatte oder hat noch immer eine große Schweinerei vor“, sagte er leise.
Andreas stimmte ihm zu. „Und genau das sollten wir rauskriegen. Also los, komm, schauen wir mal ob uns der Inhalt von der Wundertüte da draußen, dabei weiterhilft.“
Beide setzten sich auf die Decke zu dem Aktenkoffer und entfernten mit einem Skalpell vorsichtig das Oberleder einer Seite. So arbeiteten sie sich langsam Schicht für Schicht tiefer, bis sie eine kleine Sprengladung an der Innenseite des Öffnungsmechanismus entdeckten, die auch die letzte Stoffschicht des Innenfutters vom Koffer mit
„Na toll, ein Knallfrosch, und Pitt ist natürlich nicht in der Nähe, wenn man ihn braucht“, kommentierte Sebastian die Entdeckung trocken.
„Lass das Gejammre, Kleiner. Das schaffen wir auch allein. Also rück mal das Spezialwerkzeug raus. So lange bin ich noch nicht raus aus dem Geschäft. Das kriegen wir hin“, verkündete Andreas selbstsicher.
„Ja klar, und wenn was schiefgeht, soll ich dann Schaufel und Besen holen, um die schöne Jacht auf dem Meeresgrund zusammenzukehren? Hast du auch mal an die Frauen gedacht, die mit auf dem Boot sind?“
„Ja habe ich. Aber sieh doch selbst. Für solch einen Knall, wie du ihn dir ausmalst, ist der Sprengsatz viel zu klein. Ich denke eher, dass er dazu da ist, um bei unbefugtem Zugriff den Kofferinhalt zu vernichten. Also her jetzt mit den Werkzeug.“
„Wie der Herr wünscht“, erwiderte Sebastian, stand auf und verbeugte sich mit gespielt höfischer Etikette und verschwand unter Deck. Wenig später tauchte er mit einem kleinen Lederetui auf, reichte es Andreas und setzte sich wieder neben ihn.
Wie eine OP-Schwester reichte Sebastian Andreas nacheinander die gewünschten Instrumente und unterstützte ihn, wenn eine dritte Hand gebraucht wurde.
Vorsichtig setzten sie den Zündmechanismus, der trotz der langen Zeit im Wasser, noch immer aktiv war, außer Betrieb. Nach einer halben Stunde schweißtreibender, konzentrierter Arbeit kamen sie endlich gefahrlos an den Inhalt des Aktenkoffers heran.
Alles darin war nass, vom Salzwasser durchtränkt. Vorsichtig breiteten sie die Sachen, die sie darin fanden, auf der Decke aus und machten eine erste Bestandsaufnahme.
Ganz besonders interessierte sie dabei eine rote Mappe. Die Blätter darin waren durchgeweicht. Sie legten die losen Seiten einzeln auf die Decke und sicherten sie an den Ecken mit Bleigewichten und dem, was sie sonst noch zur Verfügung hatten, damit sie nicht vom Wind weggetragen werden konnten. Auch verschiedene Pässe fanden sie in dem Koffer. Überall die gleichen Gesichter, doch unterschiedliche Namen und Nationalitäten. Andreas stellte fest, dass allein für den Mann mit der Narbe im Gesicht, vier Pässe existierten.
Ganz unten in dem Aktenkoffer fanden sie eine Landkarte. Als er sie auf dem Deck ausbreitete, entdeckte er darauf einen mit Kugelschreiber gemalten Kreis mit einem Kreuz darin.
„Sebi, ich habe hier was“, sagte er und zeigte seinem Freund den Ausschnitt der Karte.
„Mekka“, stellte Sebastian fest und schaute dann genauer hin. „Und das Kreuz ist bei Masdschid al-Haram, da steht doch im Innenhof der großen Moschee die Kaaba.“
Als Andreas seinen Freund fragend ansah, meinte er: „Mein Gott, du weißt aber auch nichts.“ Er erklärte ihm, wie ein Hochschullehrer, dass dies das zentrale Heiligtum des Islam ist und die gläubigen Muslime zu Tausenden jedes Jahr dorthin pilgerten. Vor allem zum Freitagsgebet fänden sich dort die meisten Pilger zum Gebet ein. „Zu solch einem Freitagsgebet sind die Moscheen regelrecht überfüllt“, sagte er abschließend.
„Freitags sagst du?“, fragte Andreas nach und schlug einen Kalender auf, den sie ebenfalls im Koffer gefunden hatten. „Dann schau mal hier.“ Dabei zeigte er auf das rot angekreuzte Datum.
„Das war der Freitag vor sechs Wochen“, stellte Sebastian fest, und beide Männer sahen sich fragend, aber auch schon etwas ahnend an.
Als die Blätter aus der roten Mappe schnell in der Sonne getrocknet waren, sammelten sie diese wieder ein und legten sie vorsichtig in den Hefter zurück. In dem Moment kamen Kim und Anne vom Oberdeck zurück.
„Können wir euch helfen, Jungs?“, fragte Anne, als sie sah, wie die Männer das Zeug aus dem Aktenkoffer gerade zusammenräumten.
„Ja, das wäre gut. Wir haben hier etliches zu lesen. Wenn jeder was davon liest, sind wir schneller durch und puzzeln uns dann alles zusammen“, schlug Andreas vor.
Sie setzten sich bei einem Glas Tee in den Salon, und jeder von ihnen nahm sich ein Blatt vor. Schnell stellten sie fest, dass der gesamte Text in Englisch verfasst war.
Es war ganz ruhig im Salon der Motorjacht geworden. Nur ab und an war das Knistern von Papierseiten zu hören, wenn einer sich ein neues Blatt aus der Mappe nahm.
Draußen das schöne Wetter, das Meer und ihr eigentlicher Urlaub, um auszuspannen, waren vergessen. Alle vier arbeiteten konzentriert und sorgfältig. Sie kamen nur sehr langsam beim Lesen voran, weil sie die Handschrift schwer entziffern konnten und das Salzwasser das Seine dazu beigetragen hatte. Außerdem enthielt der Text viele Fachbegriffe, mit denen sie nichts anfangen konnten weil ihre Englischkenntnisse nicht so weit reichten.
Es wurde bereits dunkel, als Anne die Stille durchbrach. „Jungs, was ist wenn ich es richtig gelesen und übersetzt habe, Waffen-Anthrax?“, fragte sie unsicher. Sebastian und Andreas sahen sich sofort erschrocken an.
„Wo steht das?“, wollte Andreas sofort wissen und nahm seiner Frau auch schon das Blatt aus der Hand. Die beiden Männer sahen wie gebannt auf das Stück Papier und lasen die gesamte Seite genau durch. Dann sahen sie sich wieder an und stürzten sofort zum Computer. Schnell suchten sie die Bilder, die Andreas vom Äußeren des Kleinflugzeuges gemacht hatte, und zoomten nach und nach jedes Einzelteil heran und schauten sich alles genauer an.
„Hier ist was“, stellte Andreas leise, voll konzentriert fest. Sebastian vergrößerte den Bereich, den er ihm zeigte, noch einmal und bearbeitete die Schärfe. Dann sahen sie sich das Bild erneut an.
„Das gehört nicht an eine Piper. Sondern das wurde nachträglich angebaut“, stellte Andreas fest.
„Sieht aus wie Sprühdüsen oder so was“, meinte Sebastian unsicher und sah sich den Ausschnitt genauer an.
„Und was ist nun diese Waffe?“, wollte Anne wissen.
Andreas erklärte ihr, so einfach wie möglich, dass es sich dabei um waffenfähige Erreger von Milzbrandsporen handelt, die extra dafür gentechnisch modifiziert wurden.
„Und so wie es sich hier liest, handelt es sich um einen Erreger für Lungenmilzbrand“, fasste Sebastian kurzdarauf zusammen.
„Also eine biologische Waffe“, stellte Kim fest.
Beide Männer nickten.
Als Anne wissen wollte, wie diese Form von Milzbrand wirkt, erklärte Andreas leise, dass die Krankheit mit Husten und Fieber beginnt, dann Schüttelfrost und Atemnot dazu kommen und das Sekret, welches durchs Husten wieder hervorgebracht wird, hochinfektiös ist. „Der Tod tritt nach drei bis sechs Tagen ein“, erklärte er ernst. „Und es gibt noch keinen wirklich guten Impfstoff dagegen.“ Dann entschuldigen sich Andreas und Sebastian, weil sie jetzt doch noch unbedingt Jens anrufen mussten.
Schnell wählte Andreas die Nummer ihres gemeinsamen Freundes und stellte gleich auf laut, damit alle in der Runde mithören konnten. Die vier Freunde brauchten nicht lange zu warten, dann meldete sich Jens. Andreas und Sebastian erzählten abwechselnd, was sie im Aktenkoffer gefunden hatten.
„Jens, wir haben hier auch so etwas Ähnliches wie Tagebuchaufzeichnungen gefunden. Sie sind auf Englisch, handgeschrieben. Soweit wir daraus lesen konnten, handelt es sich wohl um einen Wissenschaftler, der beim Angriff auf das World Trade Center am 11. September seine Frau und seinen Sohn verloren hatte und auf eineneigenen Rachefeldzug gehen wollte. Wir vermuten nun, dass dieses Flugzeug eigentlich nach Mekka unterwegs war und dort ein Angriff geplant war. In den Aufzeichnungen ist von neu modifizierten Waffen-Anthrax die Rede. Daraufhin haben wir uns noch einmal die Fotos von der Piper genauer angesehen und haben dort am Rumpf eine Art von Sprühdüsen entdeckt, die, so wie es aussieht, erst nachträglich angebaut wurden. Die Vermutung liegt nun nahe, was in den drei Kisten sein könnte. Oder?“, endete Andreas seinen Bericht.
„Die Düsen sind Gerhard auch schon aufgefallen“, erwiderte Jens. „Außerdem gehen wir hier alle Dateien durch und die Drähte laufen heiß. Bisher konnten wir feststellen, dass es auf keinen Fall eine Piper aus Deutschland ist. Habt ihr vielleicht auch den Namen von dem Wissenschaftler in den Aufzeichnungen gefunden?“
„Negativ. Wir haben hier jede Menge Pässe und alle lauten auf unterschiedliche Namen und Nationalitäten. Aber ich könnte wetten, dass keiner davon echt ist“, gab Sebastian zurück. „Aber wir haben noch nicht alles durchgelesen. Wir setzten uns gleich wieder ran.“
„Wenn ihr mit eurer Vermutung, was das Anthrax betrifft, richtig liegen solltet, dann lasst die Finger von dem Wrack“, riet Jens. „Ich informiere mich ob irgend wo drei Kisten von dem Zeug bei der US-Army verschwunden sind. Ich melde mich wieder. Gerhard und ich sind voll am Wirbeln.“ Damit unterbrach Jens die Verbindung abrupt, so wie es die Freunde von ihm schon gewohnt waren.
Anne, Kim, Sebastian und Andreas aßen kurz eine Kleinigkeit und gingen danach für ein paar Minuten aufs Deck, um sich die Beine zu vertreten. Dabei schauten sie mit gemischten Gefühlen auf die Notboje hinter ihrem Heck, die in den Wellen schaukelte und deren Ende der Schnur am Wrack des Flugzeuges befestigt war. Als sie zurück in den Salon gingen, der nun von drei Lampen hell erleuchtet war, machten sie sich wieder über die handgeschriebenen Seiten her und lasen weiter.
6
Mit den neuen Informationen von Andreas und Sebastian konnten Jens und Gerhard ihre Suche weiter eingrenzen. Jens hatte seine Uniformjacke schon längst ausgezogen und einfach über den leer stehenden Stuhl gehängt. Die Krawatte war locker gezogen, der Kragen geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt.
Die Kaffeemaschine von Gerhard Hartmann war im ständigen Einsatz.
Kai wurde, kaum dass er ins Büro kam, um sich zu verabschieden, weil er Feierabend hatte, dazu verdonnert, etwas Essbares heranzuschaffen.
Als er damit zurückkam, staunte er nicht schlecht über das rege Treiben der beiden Männer.
„Ist schon gut Kai. Knall das Zeug irgendwo auf den Tisch dahinten. Danke.Das Geld gebe ich dir dafür morgen zurück. Du kannst jetzt gehen. Schönen Feierabend“, sagte sein Chef kurz angebunden und wartete bis sein Angestellter den Raum wieder verlassen hatte.
Der junge Mann konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, was der Alte, wie er ihn heimlich nannte, mit dem hochrangigen Offizier zu tun hatte. Noch dazu, dass dieser Flottillenadmiral am Telefon voll konzentriert auf Englisch sprach und sein Chef ebenfalls einen Telefonhörer in der Hand hielt. Kai fragte sich, was da wohl gerade los war. Doch schnell vergaß er es wieder, als er seine Freundin vor seinem Haus warten sah.
„Okay“, sagte Jens, als er aufgelegt hatte. „Nun haben wir wenigstens schon mal den Besitzer der Beretta M9 ermitteln können. Die amerikanischen Kollegen schicken uns per E-Mail die Personalangaben und versuchen, den Mann ausfindig zu machen, um mehr zu erfahren. Und wie sieht es bei dir aus?“
„Ich habe gerade rausbekommen das ein Spanier seine Piper erst vor acht Wochen an einen angeblichen Deutschen, einen gewissen Alexander Müller, verkauft hat. Doch diese Maschine wurde noch nicht hier angemeldet. Außerdem war Enrico Savalis der Meinung, dass der Mann einen starken amerikanischen Akzent hatte.“
„Und konnte er was über den Müller sagen?“, wollte Jens wissen.
Gerhard Hartmann schüttelte den Kopf. „Mehr als den Namen und eine Adresse, die es nicht gibt, haben wir nicht. Aber die Farbe Silbergrau würde schon mal stimmen. Die alte Kennung und das Hoheitszeichen zu übersprühen und neue draufzuzaubern, ist nicht gerade eine große Kunst. Um das aber nachzuweisen, müsste die Maschine schon aus dem Wasser oder die Jungs müssten noch mal runter und an der Stelle alles sauber wischen und ordentlich unter die Lupe nehmen. Hier auf dem Foto ist es nicht zu erkennen. Aber ich glaube schon, dass wir die Maschine haben“, meinte Hartmann. Er schob sich kurz mit den Beinen ab und rollte mit dem Bürostuhl zum Bord hinter sich, wo auf der Maschine gerade der Kaffee fertig durchgelaufen war. Mit der Kanne in der Hand rollte er zurück, schon wieder den Telefonhörer am Ohr. Er schenkte Jens und sich einen frischen Kaffee ein und stellte dann die Glaskanne auf die Heizfläche der Kaffeemaschine zurück. Dabei sprach er bereits schon mit einem alten Freund in Washington D.C., den er mit seinem Anruf, gerade von der Kaffeetafel geholt hatte. „Hallo Nils“, meldete sich Gerhard vergnügt, obwohl ihm in Wirklichkeit fast die Augen zufielen und er begonnen hatte, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen, sodass bereits das Büro in einer einzigen Nebelschwade lag.
Gerhard Hartmann hatte Nils Fletscher bei einer gemeinsamen NATO-Übung kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Nach seiner Dienstzeit in Deutschland, wurde Fletscher als Lieutenant General der US-Air Force, zurück nach Washington versetzt. Trotzdem blieben die beiden Männer in Kontakt und besuchten sich auch gegenseitig. Gerhard hoffte, dass er ihm, mit seinen weitreichenden Kontakten ins Pentagon, weiterhelfen könnte.
„Gerhard, du weißt aber schon, dass du mich gerade von einem schönen Stück Kuchen mit Schlagsahne weggeholt hast? Also, ich hoffe, du hast einen triftigen Grund dafür“, maulte Nils.
„Schön für dich“, antwortete Gerhard lachend. „Bei mir gab es heute nur paar belegte Brötchen, mir knurrt der Magen und mein Herz springt bald aus dem Hals vom vielen Kaffee.“
„Wie wäre es, wenn du es mal mit Schlafen versuchst? Das soll helfen. Spät genug dürfte es bei euch dafür doch sein“, meinte der alte Freund lachend. Aber dann stutzte er. Es musste einen Grund haben, wenn Gerhard das mit dem vielen Kaffee so betonte. Dann hörte er das typische Geräusch, eines Rauchers, wenn er den Qualm seiner Zigarette ausbläst. „Sag mal, was ist los?“, fragte er irritiert, „Ich denke du hast mit dem rauchen aufgehört, aber ich höre es. Du rauchst wieder. Da muss bei dir wohl die Kacke am dampfen sein. Also schieß los, wie kann ich dir helfen?“
Gerhard Hartmann erzählte seinem amerikanischen Freund von der Piper, die seine Kennung trug, es aber nicht war, und von allem, was sie bisher herausgefunden hatten. Er schickte ihm zeitgleich per E-Mail die Aufnahmen von dem Flugzeug, welches im Roten Meer gefunden wurde. Dabei wies er besonders auf die Bilder von den Kisten hin.
Nils Fletscher fragte noch einmal nach der Seriennummer der Beretta 92FS M9 Parabellum und dem Namen des Besitzers, den sie schon ermitteln konnten. Er notierte sich die Daten schnell auf einen Zettel. „Ich kümmere mich sofort darum“, versprach er und fragte: „Wie lange bist du heute noch erreichbar, sollte ich schnell was rausbekommen.“
„Rund um die Uhr. Sollte statt mir ein Jens Arend ans Telefon gehen, wenn du anrufst, dann sag es ihm. Er ist Flottillenadmiral unserer Spezialeinheit von Kampfschwimmern und hat das Rad hier ins rollen gebracht. Er sitzt neben mir. Wir arbeiten zusammen“, erklärte Gerhard noch schnell.
„Und die Männer vor Ort sind zuverlässig?“, fragte der Amerikaner vorsichtig nach.
„Ja, es sind Fregattenkapitän Andreas Wildner und Korvettenkapitän Sebastian Rothe, beides Reservisten mit Sondervollmachten. Sie waren Mitglieder meiner Kampfschwimmereinheit“, meldete sich nun Jens zu Wort. „Sie sind zu hundert Prozent zuverlässig.“
„Sie sollen verdammt gut auf den Vogel da im Wasser aufpassen. Wenn wirklich Waffen-Anthrax in den Kisten ist, so wie ihr vermutet, dann ist das Zeug auch bei Terroristen sicher heiß begehrt und ein Leckerbissen, sollten sie schon etwas davon wissen“, gab der Lieutenant General zu bedenken. Nach weiteren Absprachen verabschiedeten sich die Männer voneinander.
Gerhard Hartmann legte das Telefon zurück auf die Schreibtischplatte, erhob sich aus dem Bürosessel und streckte seine Glieder. Dann ging er zum Fenster und riss es weit auf. Draußen regnete es in Strömen.
Langsam verflog der Zigarettenqualm und wurde durch frische, kalte Luft ersetzt. Beide Männer atmeten tief durch. Sie brauchten unbedingt eine Pause.
In der Zwischenzeit meldete der Computer den Eingang einer E-Mail. Schnell lief Jens zum Schreibtisch und rief die Nachricht auf. „Es ist das Datenblatt des Besitzers der Beretta aus der Piper. Sogar mit Passfoto“, informierte er Gerhard, der noch immer am Fenster stand.
„Zeig mir mal die Visage“, bat er und kam vom Fenster zurück zum Schreibtisch.
Auf dem zweiten Rechner zoomten sie das Bild des Mannes aus dem Flugzeug heran, der die Waffe in der Hand hielt. Viel war von dem Gesicht der Leiche nicht mehr zu erkennen. Aber die Narbe, welche sich über das Gesicht zog, glich der Narbe des Mannes auf dem Passfoto.
„Bingo.“, stellte Gerhard fest. „Damit haben wir schon mal was, womit wir etwas anfangen können.“
Fortsetzung folgt
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