Apokastasis

Krabodings

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Apokastasis


„Dort wirst du nichts finden.“

Irritiert schaute Mark hoch. Mit einem Ruck setzte sich er sich völlig auf und zog den Arm zurück, mit dem er träge auf der anderen Betthälfte umher getastet hatte.
Auf seinem Tisch saß eine Frau etwa Mitte zwanzig, nur wenig jünger als er selbst, mit schulterlangen, dunklen Haaren. Leichter Spott spielte in ihren Augen, während sie auf die sauber zusammengelegte Decke neben Mark deutete: „Wen oder was auch immer du zu finden hoffst, da ist nichts, was du nicht selbst dorthin gelegt hast.“
Mark grunzte unwirsch und ließ sich ins Bett zurücksinken.
„Neues Hobby? Und, wie oft habe ich in der Nacht mit dem Fuß gezuckt?“
„Ach Mark“, antworte die Frau mit einem breiten Grinsen, „mittlerweile sollte dir doch klar sein, dass du für mich etwas ganz besonderes bist. Und es spielt doch überhaupt keine Rolle, was ich tue, mir ist doch sowieso alles bekannt, was du siehst, machst und denkst.“
„Ja, na klar“, grummelte Mark, „wieso hab eigentlich ausgerechnet ich so einen vorlauten Avat...“
„Bleib doch einfach bei Tara,“ schnitt ihm die Frau ungehalten das Wort ab, „du weißt doch, wie sehr ich solche einengenden und besitzanzeigenden Kategorisierungen hasse. Außerdem, hast du überhaupt keinen Grund, dich zu beschweren. Dir ist doch eine gutaussehende Frau auch lieber, als ein unförmiger Tentakelblob.“
„Guter Punkt“, musste Mark widerwillig zugeben.
„Schön“, fuhr Tara erkennbar befriedigt fort, „jetzt, wo wir das geklärt hätten, können wir uns vielleicht wirklich wichtigen Dingen zuwenden. Nein, nicht dass ich dir erzähle, worüber du im Schlaf sprichst, sondern warum ich überhaupt hier bin.“
Mark hob fragend eine Augenbraue.
„Und magst du mich vielleicht auch darüber aufklären?“, hakte er schließlich nach, als Tara keine Anstalten machte, von sich aus weiterzusprechen.
„Aber natürlich“, jauchzte sie begeistert, „Mark, du musst mehr unter Leute. Du wirst langsam komisch.“
„Bitte, was? Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Ach, da gibt es genügend Anzeichen dafür. Gehen wir zum Beispiel nur einmal ein paar Minuten zurück. Normalerweise liegt neben allein Wohnenden beim Aufwachen nur dann jemand, wenn sie sich diesen vor dem Einschlafen auch selbst mitgebracht haben. Ich weiß jetzt zwar nicht, wie du auf die Idee kommst, dort jemanden vorzufinden - ob du inzwischen glaubst, während des Schlafs Personen materialisieren zu können, oder schon so verzweifelt bist, dass du sie dir herbei fantasierst - aber auf jeden Fall untermauert das meine Aussage: Du wirst langsam komisch.“
„Moment mal“, stutzte Mark, „meintest du nicht eben, dir ist alles bekannt, was ich...“
„Lenk jetzt nicht ab“, unterbrach ihn Tara ungehalten, „hier geht es jetzt nicht um mich, sondern darum, dass du mal wieder raus kommst. Ich bin nur hier um dir den Arschtritt zu verpassen, den du anscheinend brauchst. Für jemanden, der so viel Wert auf freie Entfaltung legt, hast du dich in letzter Zeit ziemlich engstirnig und eingleisig verhalten.“
„Als ob du den Grund nicht kennen würdest“, brummte Mark, „ich war ... bin beschäftigt.“
Tara schnaubte gereizt: „Oh ja, ist mir schon klar, „die Welt retten“, „die eigene Existenz sichern“ - Weißt du, ich habe da eine sensationelle, neue Erkenntnis für dich: Es gibt immer irgendeine existentielle Krise. Hätte dir eigentlich auch schon aufgefallen sein müssen.“
Tara atmete einmal tief durch.

„Also“, fuhr sie deutlich ruhiger aber nicht weniger bestimmt fort, „jetzt ist gerade Semesterbeginn. Da gibt es für jede Uni, teilweise sogar für jeden größeren Fachbereich, mindestens eine Studentenparty. Kurz: eine Menge. Zu einer davon wirst du heute Abend gehen. Du musst mal auf andere Gedanken kommen, und das geht nun einfach einmal am besten mit jungen Leuten voll Kreativität und Begeisterung, die auch gerne Neues und Ungewöhnliches ausprobieren. Du weißt schon: Sex, Drogen und Musik und so.“
Mark runzelte die Stirn. „Sollte so eine Ansprache nicht eigentlich andersherum verlaufen? Eher in die Richtung, dass ich endlich erwachsen werden und mehr Verantwortung übernehmen soll, anstatt mich ständig auf Partys herumzutreiben? Ehrlich gesagt habe ich im Moment wirklich genug damit zu tun, dass ...“
„Ich bin nicht deine Mutter“, schnappte Tara, „und da du sowieso schon davon angefangen hast, denk mal an deine Verantwortung, deiner persönlichen Entwicklung gegenüber, trotz Krisen und meine Verantwortung, dir bei deiner freien Entfaltung zu helfen. Genau deshalb wirst du heute Abend zu einer Party gehen, mir völlig egal welche.“
Mark kicherte. „Natürlich, und ausgerechnet du willst mich dazu bringen, die außer mir sonst niemand sehen kann.“

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Vielleicht hätte er doch lieber zu den BWL-ern gehen sollen, dachte sich Mark. Im Nachhinein betrachtet wäre wahrscheinlich nur die Juristenparty noch langweiliger gewesen, als die der Biologen. Grund genug, frühzeitig zu verschwinden, auf jeden Fall. Und offensichtlich war er nicht der einzige, der das so sah.
Mark wischte den Gedanken beiseite. Die Party war vielleicht mies gewesen, dafür war aber die Afterparty um so besser. Und kleinere Gruppen mochte er sowieso lieber, als die vielen hundert Leute, und die Villa mit Garten, zu der einer der Studenten sie gebracht hatte, gefiel ihm auch deutlich besser, als die Enge und die laute Musik.
Tara hatte recht gehabt, dies tat ihm gut. Es brachte ihn auf neue Ideen und lies seine Gedanken und Gefühle freier umherschweifen, genauso wie er den anderen half, sich von selbst gesteckten Zwängen und Grenzen zu befreien.
Natürlich hatte Mark ein wenig nachgeholfen, er hatte ihnen etwas vom guten Stoff gegeben. Um die Nebenwirkungen würde er sich später noch kümmern, schließlich wollte er ihnen nur zu neuen Ansichten verhelfen und sie nicht zu Junkies machen. Alles unter Kontrolle also, der Abend und die Nacht konnten nach viel zu langer Zeit endlich wieder einmal sehr angenehm werden.
Besonders die kleine Französin hatte es ihm angetan. Wie war noch einmal ihr Name? Zoé? Irgendetwas war an ihr. Ja, natürlich, sie war attraktiv, aber das war es nicht. Es war Mark nicht gelungen, ihre Gedanken oder Gefühle zu erkennen, und das kam nur äußerst selten vor. Bei den anderen der Gruppe hatte er damit, erwartungsgemäß, keine Probleme gehabt. Selbstverständlich faszinierte es ihn.

Vielleicht …

Mark streckte seine Sinne aus.



„Was machen Sie hier“, ertönte eine Stimme, während sich eine breitschultrige Figur aus dem Dunkel schälte, „dies ist Privatbesitz, hier dürfen Sie nicht sein.“
Mark sah, wie sich Zoés Augen vor Schreck weiteten, während sie die näher kommende Gestalt fixierte. Sie begann, eine Melodie zu summen und sich hin und her zu wiegen. Marks andere Sinne zeigten ihm die Musik, welche mit einem Mal, unhörbar für normale Ohren, um Zoé herum erklang, sie durchdrang, ihre Melodie begleitete, zu ihren Bewegungen anschwoll und abebbte. Mark nahm sich einen kurzen Augenblick, um den nur von ihm zu vernehmenden Instrumenten zu lauschen.
Moment – war das nicht ein falscher Ton? Der gehörte dort nicht hin. Zoé wurde arhythmisch, verhaspelte sich. Die Musik wandelte sich unvermittelt zu einer brüllenden Kakophonie, welche durch ihren Körper fuhr, Fleisch zerriss, Glieder verdrehte, Knochen zertrümmerte. Mark konnte sich nur die schmerzenden Ohren zuhalten und schnell seine Sinne zurückziehen, während die Studentin vor seinen Augen starb.

Nein, dachte er, das darf nicht sein. Nicht jetzt, wo ich weiß, was das Besondere an ihr ist. Ich kann sie nicht zurückbringen – noch nicht – aber eine Möglichkeit habe ich doch.
Ohne zu zögern versenkte sich Mark tief in sein Innerstes, betrachtete die Welt um sich herum, brachte sich mit ihr in Einklang. Dann bewegte er sich zurück und mit sich die Welt. Er konnte sehen, wie das Blut in den reglosen Körper zurückfloss, wie Zoé sich erhob, als sich Knochen zusammensetzten und Gliedmaßen einrenkten, wie sie sich in ungewohnt und physikalisch falsch erscheinenden Bewegungen wiegte, wie die Gestalt mit dem Dunkel verschmolz.


„… dürfen Sie nicht sein“, erklang die Stimme.
„Zoé, nicht“, rief Mark.
Die junge Frau zuckte erschreckt zusammen, drehte sich hektisch zu ihm, sprang auf. Ein peitschender Knall ertönte, und erneut brach sie blutüberströmt zusammen, während der nähergekommene Wachmann erschreckt auf die Waffe in seinen Händen und den Körper am Boden starrte.
„Ich, …, ich dachte, ...“, stammelte er, aber den Rest des Satzes bekam Mark gar nicht mehr mit.
Verdammt, noch einmal, fluchte er still, das hätte nicht passieren sollen. Na gut, dann halt ein anderer Weg.
Erneut stimmte Mark sich auf die Welt um ihn herum und den Ablauf der Dinge ein, und diese auf ihn, während er gleichzeitig gedanklich die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten durchging. Erneut drehte er die Welt zurück, Zoé erhob sich, der Wachmann verschwand im Dunkel. Mark brach der Schweiß aus, aber noch hörte er nicht auf. Weiter, weiter, und noch ein kleines bisschen, bis er genügend Zeit hatte. Genügend Zeit, sich eine Pfeife zu stopfen.



Mark lehnte am Zaun und zog an seiner Pfeife, als er den Wachmann schon aus einiger Entfernung auf sich zukommen sah.
„Gehören Sie zu denen dort hinten auf dem Grundstück? Sie wissen, dass das Privatbesitz ist?“
„Ey, was für ein Zufall“, meinte Mark, „dass ich dich hier treffe, hätte ich ja nicht gedacht!“, während er dem Wachmann den Pfeifenrauch ins Gesicht blies.
Kurz trat Verwirrung in dessen Blick, so als würde der Rauch auch seine Gedanken vernebeln. Dann wich diese plötzlichem Erkennen, und ein Lächeln breitete sich in den Zügen des Wachmannes aus.
„Boah, das ist ja schon ewig her“, bestätigte er, „schön dich zu sehen. Du sag mal, kennst du die da hinten auf dem Grundstück? Ich muss da drauf aufpassen, während der Besitzer nicht da ist, und da darf keiner rauf.“
„Na klar“, beruhigte ihn Mark, während er dem Wachmann jovial den Arm um die Schultern legte, und ihn über die Straße geleitete, weg von den Studenten, „das sind Bekannte von mir. Pass auf, ich will natürlich nicht, dass du Ärger bekommst, ich mach dir daher einen Vorschlag: Du gehst nach Hause, ich kümmer mich darum, das die vom Grundstück verschwinden und ihre Party woanders machen, und nachher komm ich dich besuchen. Ich weiß ja noch wo du wohnst. Na, wie klingt das?“
„Ok, gut“, erwiderte der Wachmann erfreut, „ dann wohl bis nachher.“
Mark sah dem Wachmann nach, als dieser davon stapfte, ungläubig den Kopf schüttelnd, sich noch einmal umdrehte und ihn freundlich lächelnd zum Abschied grüßte.

„Ein alter Freund von dir?“, ertönte Zoés Stimme von der Straße hinter ihm.
„Keine Spur“, entgegnete Mark, als er sich umdrehte und gerade noch das Auto sah, welches ohne Licht vor ihm um die Ecke schlingerte. Der Fahrer bremste nicht einmal, auch nicht nach dem Aufprall. Im Gegenteil, er beschleunigte und verschwand ebenso schnell wieder, wie er aufgetaucht war.
„Aah, scheiße“, brüllte Mark in die Nacht, als er die Frau vor sich auf dem Asphalt liegen sah, „verdammt, es muss einen Weg geben. Ich weiß, dass ich sie retten kann.“
„Bist du dir sicher“, antwortete ihm Tara, „vielleicht ist es ja ihr Schicksal, zu sterben.“
„Schön, dass du auch schon auftauchst“, fauchte Mark sie wütend an, „und nein, das ist es sicher nicht, zumindest nicht jetzt, zu diesem Zeitpunkt. Außerdem, predigst du nicht immer von der Vielfalt der Möglichkeiten? Dazu passt so ein Konzept wie ein festes Schicksal überhaupt nicht.“
„Na wenn du meinst“, gab Tara pikiert zurück, „dann brauchst du meine Hilfe ja auch nicht. Du weißt ja ohnehin schon, was du als nächstes tun willst.“
„Stimmt“, erwiderte Mark, „weiß ich. Ich brauche einfach mehr Zeit, welch Ironie.“
Tara verdrehte die Augen. „Na dann fang schon an. Hopp, hopp“, und verschwand.



Erneut zog Mark die Welt mit sich zurück, deutlich weiter als je zuvor. Oder vielleicht zog er sie auch nicht, sondern schob sie vor sich her? Auf jeden Fall spürte er den Widerstand, der sich ihm entgegenstemmte, keine Wand, die er wegdrücken konnte, sondern eher etwas ungreifbares. Ein Widerstand wie… Er konnte es noch nicht genau sagen, aber er kannte dieses Gefühl. Bei Gelegenheit würde Mark darüber auch einmal genauer nachdenken können, aber nicht jetzt. Jetzt hatte er gerade mit seinen verkrampften und schmerzenden Kiefermuskeln zu kämpfen, mit dem Schweiß, der ihm in die Augen lief, und mit dem dumpfen Hämmern im Kopf, welches allmählich stärker wurde. Trotzdem kämpfte er sich weiter.



Mark schlenderte auf die Gruppe dicht am Ausgang zu und versuchte, möglichst normal zu wirken.
„Na die Party war ja wohl ein Griff ins Klo“, hörte er, „und was machen wir jetzt noch mit dem Abend?“
„Weiß ich auch nicht“, entgegnete Zoé, „aber besprecht das doch einfach, ich hol so lange schon einmal unsere Sachen.“
Das ist die Gelegenheit, dachte sich Mark, während er leicht abschwenkte und wie zufällig ihren Weg kreuzte.
„Hey Zoé, ich hab da eine viel bessere Idee“, sprach er sie an, während er ihr den Pfeifenrauch ins Gesicht blies, „du lässt die anderen einfach machen, was auch immer sie wollen, und kommst heute Nacht mit zu mir.“
Zoé hustete. „Geht‘s dir noch gut, was soll der Mist? Und wer bist du überhaupt? Mach mich nicht an und verpiss dich. Scheiß Raucher!“
Stimmt ja, da war ja die Sache mit ihren Gedanken und dass sie Mark nicht zugänglich waren. Wie hatte er das nur vergessen können? Verdammt.
Mark murmelte schnell eine Entschuldigung und sah zu, dass er möglichst unauffällig Abstand gewann.

„Na das lief ja großartig“, begrüßte ihn Tara, die an einem Tresen lehnte, „schneller hätte ich sie auch nicht verjagen können.“
„Danke für gar nichts“, raunte Mark leise, „ich dachte, du bist hier, um mir zu helfen. Dumme Bemerkungen machen kann ich auch alleine.“
„Stimmt, und darin bist du deutlich besser als ich. Außerdem dachte ich, du brauchst meine Hilfe nicht, zumindest erwähntest du so etwas.“
Mark funkelte sie wütend an. „Bitte“, stieß er gepresst hervor, wobei er jede Silbe einzeln betonte, „bitte hilf mir, Tara.“
„Also schön, wenn du schon so nett fragst, kann ich nicht nein sagen. Wobei genau möchtest du denn meine Hilfe?“
Mark stöhnte gequält. „Lass die Spielchen. Ich möchte“, sagte er betont langsam und deutlich, „dass du mir dabei hilfst, zu verhindern, dass Zoé zu der Villa geht und dort stirbt. Bitte.“
„Ach soo, na dass ist einfach, das bekommst du sogar alleine hin. Aber du wolltest es ja unbedingt bei der einen Person hier probieren, die du nicht so leicht beeinflussen kannst.“
Mark starrte sie noch einen Moment an, dann machte die Wut in seinem Gesicht Konzentration und Begeisterung Platz. „Du hast absolut recht. Wenn die Villa nie erwähnt wird, wird sie keine Veranlassung haben, dorthin zu gehen. Problem gelöst.“
„Na siehst du“, meinte Tara in leicht herablassendem Tonfall, „das war doch jetzt gar nicht so schwer. Und deine Pfeife hattest du dir ja ohnehin schon wieder angezündet.“

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„Und“, fragte Tara, „heute früh schon Nachrichten gelesen?“
Mark wedelte schlaftrunken mit dem Arm ungefähr in Richtung Tisch. „Da liegt das Tablet. Lass mich in Ruhe und schau selbst.“
„Ha ha, sehr witzig. Komm, jetzt beweg dich und lies. Das man dich immer erst treten muss...“
Mark erhob sich gähnend, wankte zum Tisch und startete die App.
„Sehr gut so“, ermunterte ihn Tara, „nein, da noch nicht, immer noch nicht, noch ein Stück weiter scrollen, halt, stopp, da ist es! … Wohnheim … Kabelbrand … nur geringer Sachschaden … kaum Verletzte dank schnellen Eingreifens der Feuerwehr … nur ein Todesopfer, eine Zoé Peyrot. Na, irgendwas, was dir bekannt vorkommt?“
Mark stöhnte lange und vergrub den Kopf in den Händen. „Verdammt, ich dachte, diesmal hätte ich es. Also schön, noch einmal.“
„Mark“, ermahnte ihn Tara, „du kannst das nicht ewig wiederholen.“
„Ich weiß“, erwiderte Mark resigniert, „es wird jedes mal schwerer. Aber ich bin mir sicher, dass es eine Lösung gibt, und dass ich ihr nahe bin. Nur dieser eine Versuch noch. Vielleicht finde ich ja auch eine Möglichkeit, das ganze zu vereinfachen. Jedes mal, wenn ich die Zeit zurückgedreht habe, habe ich den Widerstand gespürt. Erst nur schwach, bei den folgenden Versuchen immer stärker, so als würde ich das doppelte Gewicht ziehen müssen, dann das dreifache. Es fühlt sich an … ein wenig, wie durch zähen Brei zu waten, während jemand oder etwas versucht, mich umzustoßen. Und jedes mal haut er kräftiger zu. Wenn ich nur einen Weg hätte, das irgendwie zurückzusetzen… Ein paar Versuche mehr, und ich finde die Lösung mit Sicherheit.“
„Ist dir überhaupt klar, was du dir da wünschst?“, fragte Tara, „Eigentlich wollte ich dir die Nachrichten zeigen, damit du endlich einsiehst, dass es für den Verlauf der Ereignisse keine Rolle spielt, wo Zoé ist und was sie macht, und dass du aufhören musst. Mark, du versuchst gerade gegen den Lauf der Zeit selbst anzukämpfen. Und egal, wie sehr du dich anstrengst, irgendwann wird sie dich mitreißen. Vielleicht solltest du dich damit abfinden, das manche Dinge einfach passieren müssen.“
„Gegen den Lauf ankämpfen … mitreißen … passieren müssen … - Ein Strom! Tara, du bist großartig“, jubelte Mark, „ich weiß jetzt endlich, woran mich das Gefühl erinnert und was ich tun muss. Ich danke dir, du warst eine unglaubliche Hilfe.“
„Siehst du, das sag ich doch immer, genau dafür bin ich da.“

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Mark saß im Dunkeln im Gras und ging noch einmal im Einzelnen seine Vorbereitungen durch. Er hatte einen Kräutersud verteilt, natürlich mit einem gewissen Extra versetzt, damit ihn sicher auch alle tranken. Er hatte Zoé – nun ... zu einer Handmassage hatte er sie überreden können, das musste reichen. Er hatte seine Räucherschalen um sich herum verbreitet, seine Rassel lag für alle Fälle in Reichweite und er hatte sich auf seine Umgebung eingestimmt. Ja, er war so gut vorbereitet, wie es ging. Natürlich hatte er sich die Ereignisse noch einmal angeschaut und ihren genauen Ablauf seinem Gedächtnis bis aufs kleinste Detail eingeprägt, so viel hatte er noch zuwege gebracht. Das war auch notwendig, es musste alles klappen, ohne den geringsten Fehler. Mark war sich nicht sicher, ob er es noch einmal schaffen würde, diesen Augenblick zurückzudrehen.
Er hatte sich rechtzeitig von den anderen abgesondert, um sich vorbereiten zu können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt überprüfte er zur Sicherheit noch einmal das gut verpackte Bündel hinter sich, und dann wartete er.


Da ertönte die Stimme, da erschien der Wachmann, da brach Zoé zusammen.
So weit, so gut. Alles verlief nach Plan. Mark merkte erst jetzt, dass er gespannt die Luft angehalten hatte, und erlaubte sich ein erleichtertes Ausatmen.
Eine kurze Zeit lang beobachtete er die Studenten, die teils in Ratlosigkeit, teils in Panik verfallen zu sein schienen, und sich über die reglose Gestalt am Boden beugten.
„Verdammt, sie atmet nicht.“
„Ist sie tot?“
„Quatsch, fühl mal den Puls.“
„Mann, wir müssen Mund-zu-Mund-Beatmung machen, die lebt bestimmt noch.“
Mark kümmerte sich nicht weiter um sie, er kannte das Ergebnis.
Er erhob sich und ging zu Zoé hinüber, welche sich die Seite hielt, mit schmerzverzerrtem Gesicht von einem zum anderen hinkte, und vergeblich versuchte, irgendjemanden auf sich aufmerksam zu machen.

„Das mit deinem Bein und der Rippe war nicht gewollt“, bemerkte er, „aber nur mit einer Handmassage konnte ich in der kurzen Zeit einfach nicht mehr für dich tun, da hast du dann wohl doch ein bisschen was abbekommen. Aber auch da kümmere ich mich gleich noch drum, in wenigen Minuten bist du so gut wie neu.“
„Endlich reagiert mal jemand auf mich“, atmete Zoé erleichtert auf, ohne auf Marks Äußerungen einzugehen, „Außer dir scheint mich niemand sehen zu können. Und warum liegt dort mein Körper auf dem Boden, während wir miteinander reden? Bin ich tot und ein Geist?“
Mark schüttelte langsam den Kopf. „Nein, wärst du nur beinahe gewesen. Und ich musste die Realität austricksen, um dich zu retten.“
Zoé schaute ihn verwirrt an. „Wie das, und warum?“
„Weil“, Mark atmete einmal tief durch, „weil du so bist wie ich. Oder zumindest, wie ich einmal war. Aber da dir das als Antwort sicher nicht reicht, versuche ich mich kurz und verständlich auszudrücken. Die anderen sehen und erleben im Moment nur das was ich sie sehen lassen möchte. Und das sind nicht wir beide, wie wir uns unterhalten, sondern das, was eigentlich hätte passieren sollen, nämlich das du stirbst und dort liegst. Das schwierigste war, ohne jemanden umzubringen einen Körper aufzutreiben, der hier an deiner Stelle zurückbleiben kann, dem ich aber vorher trotzdem noch dein Aussehen geben konnte. Ich hab‘s nämlich nicht so mit unbelebter Materie, weißt du.
Für alle Welt, für die Realität, bist du jetzt tot, für dich selbst aber lebendig. Es tut mir leid, wenn das ein wenig unbequem ist, aber es war die einzige Möglichkeit, die ich gefunden habe.“
Mark lächelte Zoé an und deutete mit dem Kopf auf das Bündel.
„So, und jetzt hilf mir mal bitte, die Leiche da rüber zu schaffen, damit wir hier verschwinden können.“
 



 
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