Arlington Park

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Mit Chicago wurden sie nicht recht warm. Das war ein zu kühner Entwurf, weder zu Ende gebaut noch zu Ende gedacht. Es war etwas Erregendes an der Stadt, etwas Elementares, etwas Verlorenes …Die beiden Europäer standen am Fenster ihres Hotelzimmers im zwölften Stock und sahen die Nebelfetzen vom See herantreiben. Oft waren es riesige Nebelbänke, die in Sekunden halbe Stadtviertel verschluckten und dann ebenso schnell wieder freigaben. Hohe Türme, plötzlich weggewischt wie die antiken Fresken in Fellinis Roma beim Bau der Untergrundbahn. Das Hancock Building war für anderthalb Minuten ausgelöscht gewesen – jetzt stand es wieder da in der klaren, durchsichtigen Atmosphäre eines Mainachmittags: breitbeinig, unerschütterlich, ein Förderturm für Geld und Mehrwert.

Der Sears Tower wirkte von weitem wie ein seltsam verschobener altbabylonischer Stufentempel. Von nahem, aus der Tiefe der Franklin Street, gelang es nicht, seine höchsten Stufen ins Auge zu fassen. Man bekam den Koloss nicht als Ganzes zu sehen. Sie fuhren hinauf. Von oben zerfiel die Welt von Chicago klar in drei Teile: der riesige, fast leere See, leer wie die Hochsee – dann, hart am See, das schmale, lange Band der geballten, hohen Türme – und nach Westen anschließend der breite und scheinbar unendlich ausgedehnte Teppich flachster Vororte. Unverbunden, unversöhnlich, alles fiel auseinander wie Elemente, die sich nicht vermischen, vollkommen unharmonisch, brutal – eben darin bestand das Suggestive. Südlich vom Turm wies die Stadt weite leere Flächen auf. Hier hatten die abgerissenen Schlachthöfe, die aufgegebenen Bahnhöfe gestanden. Das war der Platz für die Stadt der Zukunft, wie das den Blick anzog!

Unglaublich schnell brachte der Expresslift sie in die Eingangshalle zurück. Sascha suchte den Waschraum auf, bevor sie in die Cafeteria gingen (der Welt größte, wie alles in Chicago). Von innen hörte er Martin im Durchgang keuchen und bellen. Spastische Tracheobronchitis war schon einmal die Diagnose gewesen. Er sagte ihm, er hätte vielleicht besser aufs Land fahren sollen, und dann mischten sie sich unter die lunchenden Angestellten.

Am nächsten Tag wollten sie ins Grüne. Von der Lake Street nahmen sie die Hochbahn Richtung Westen. Fast alle Passagiere waren Schwarze. Sie selbst hatten keine Ahnung, wohin sie eigentlich fuhren. Es war die Richtung nach Oak Park. Das sagte ihnen gar nichts, von Frank Lloyd Wright hörten sie erst später. Bis zur Stadtgrenze fuhr der Zug durch meilenweite Slums. Sie bestanden aus zweistöckigen Reihen alter Holzhäuser mit hölzernen Außentreppen und Veranden, auf denen sich die Bewohner mit Vorliebe aufhielten. Zwischen der zum Trocknen aufgehängten Wäsche saßen arbeitslose Männer. Gelegentlich wiesen die regelmäßigen Zeilen Lücken auf. Erst später erfuhren sie, dass hier Brände getobt hatten, während der Unruhen in den Sechzigern. Um die Häuser grünte und blühte es noch reicher als in den Parks am Seeufer. Es war ein fröhlicher Verfall, eine Art Operettenslum, jedenfalls solange man nur mit der Bahn durchfuhr. Die Fahrt verlief rasch und ohne Zwischenfälle.

Scharf unterschied sich Oak Park als Vorort der oberen weißen Mittelschicht von den städtischen Slums davor: ältere freistehende Villen, meist auch aus Holz, an breiten, grünen Alleen. Es schien verlockend, hier spazieren zu gehen. Aber als sie einige Blocks umrundet hatten, empfanden sie bloß noch Langeweile. In ihrer perfekten Gleichförmigkeit reizten diese Quartiere zum Gähnen. Sie fuhren bald zurück.

An einem der folgenden Tage saßen sie in einem Vorortzug Richtung Nordwesten. Dieser massige gelbe Doppeldecker sollte sie doch einmal an den Rand der unendlichen Stadt bringen, meinten sie. Sie hatten Fahrkarten nach Arlington Park in der Tasche. Nicht dass ihnen der Ort irgendetwas bedeutet hätte – in der Bahnhofshalle hatten große Plakate für verbilligte Rückfahrkarten dorthin geworben. Die Reklame, obwohl allgemein gehalten, schien sich dafür zu verbürgen, dass Arlington Park ein unbedingt lohnendes Ziel am Rand von Chicago sei; sie war unwiderstehlich. Es war mitten am Nachmittag. Der Zug stand noch lange in der Halle, bevor er abfuhr. Nur stündlich wurde die Strecke bedient. Die beiden Decks füllten sich allmählich mit weißen Angestellten. Dann schob der Zug sich hinaus, zunächst ins schon Bekannte, die Zone der Bahnanlagen und Fabrikhallen. In den Slums hielt er nicht. Nun glitten eine Stunde lang weiße Vororte draußen vorbei – wie langsam glitten sie vorüber! Die Suburbia war sich wohl bewusst, ein großes Ganzes aus ununterscheidbarem Einzelnem zu bilden. Daher die riesigen Lettern auf den hohen runden Wassertürmen: MOUNT PROSPECT … DES PLAINES … Einmal hielt der Zug auf freier Strecke. Sie sahen in ein Wohnzimmer hinein, wo auf flimmerndem Bildschirm gerade Palmen am Meer zu sehen waren. Vielleicht war es Fort Lauderdale, Florida. Martin dachte, wenn der Bewohner für einen Augenblick ans Fenster treten sollte, so würde ihn die Schrift auf dem hohen Wasserturm daran erinnern, dass er Bürger von Mount Prospect war und nicht von Des Plaines oder Fort Lauderdale.


In Boston hatte ihre Reise begonnen. Nicht dass es sie besonders nach Boston gezogen hätte – es gab einen billigen Flug von Amsterdam dorthin. Während des Fluges las Martin in seinem Führer, von den großen Städten an der Ostküste erinnere Boston am stärksten an Europa. Sie beschlossen, dort drei Tage zu bleiben, um sich leichter einzugewöhnen. Wegen irgendeines nationalen Kongresses waren alle Hotelbetten belegt. Sie kamen schließlich an der Huntington Avenue unter, in dem mausgrauen YMCA-Kasten, der etwas von einem Elefanten in Wartestellung hatte. Rundherum hundert Jahre alte Wohnblocks mit klassizistischen Fassaden, die die verwahrlosten Wohnungen dahinter nur unzureichend kaschierten. Wie in Europa war es bis zum nächsten McDonald’s-Laden nicht weit, er war schräg gegenüber. Nach einem ersten Bummel durch die Nachbarschaft reihten sie sich ein in die Schlange der Slumbewohner, die ihr warmes Abendessen bei McDonald’s bestellten, um es styroporverpackt in die umliegenden Wohnhöhlen zu tragen. Ein städtischer Polizist – ein Auge auf die Kasse und die Waffe bereit – sorgte dafür, dass die Geschäfte sich im bürgerlichen Rahmen abwickelten. Den Erdbeershake fand Sascha viel zu süß.

Der Weg in die Stadtmitte führte sie täglich an der Zentrale der Christian Science vorbei. Das war ein Sammelsurium unterschiedlichster Bauten und Stile, Mutterkirche und Großdruckerei, Sonntagsschule und Verwaltungshochhaus. Und zwischen den Gebäuden ein zweihundert Meter langes, genau rechteckiges Wasserbecken. Der Wasserspiegel schloss auf den Millimeter mit der niedrigen Umfassungsmauer ab, und wenn wieder einmal Mary Baker-Eddys Geist über den Wassern schwebte, floss ein Bruchteil in die umlaufende Rinne ab. Dieser Vorgang entzückte Martin stets aufs Neue. Wasser, Luft und Wind bildeten ein empfindliches Gleichgewicht. Jede Störung oder Reizung musste das Überfließen herbeiführen. Nie war vorherzusehen, wo das Wasser den letzten, so geringen Widerstand überwinden würde. Es sah eher so aus, als zögere es, den entscheidenden Schritt zu tun und überzufließen. Wenn aber nur ein kleiner Abschnitt des Damms, der keiner war, überflutet wurde, so floss das Wasser bald auf breiter Front ab. Der Wasserspiegel sank dank unsichtbarer Quellen niemals merklich unter das Niveau des Mäuerchens. An dieser heiligen Stätte war Überfluss nie mit Mangel verbunden. Jemand erklärte ihnen, dass das Becken der Aircondition des Bürohochhauses diene. Sie begriffen nicht ganz, wie das funktionierte.

Sie nahmen den Zug nach New York und rollten fünf Stunden lang durch Neuengland. Sie kannten die Landschaft aus Filmen und von Fotografien. Aber sie erkannten sie nicht ohne weiteres wieder. Die Natur schien sich im Herbst, dem bekannten lang hingezogenen, trockenen Herbst mit seinen prächtigen Farben verausgabt zu haben. Jetzt war nur zaghaftes Grün zu sehen, ab und zu eine kleine Stadt, steinige Meeresufer. Mitten auf der Strecke näherte sich der Zug einer etwas größeren kleinen Stadt mit kleinen Wolkenkratzern in der Mitte, einer richtigen kleinen Downtown. Wie war der Name der Stadt? – „Providence“, murmelte der Schaffner ungefragt, „Providence“, murmelte er, indem er durch den Wagen schlenderte. Er sprach so undeutlich, dass sie es mehr errieten als verstanden. Der Schaffner sah die beiden Europäer bedeutsam an. Ob sie sich die Weiterfahrt nicht noch einmal überlegen wollten, schien er anzuregen. Aber nein, sie wollten nicht in Providence aussteigen.

„Rye, New York – Rye, New York!“ jetzt rief er es laut und triumphierend mit prächtig daherrollendem Akzent. Und er sah niemand dabei an, niemand war persönlich gemeint. Es war wie ein Appell an alle: Macht euch bereit, letzter Bahnhof vor Manhattan!

Nach Rye gewann der Zug an Fahrt. Sie hätten wohl schon die Stadtgrenze erreicht, vermutete Martin. Es war die Bronx. Die Trasse verlief in tiefem Einschnitt zwischen steilen Böschungen. Halbwüchsige waren über den hohen Zaun geklettert und erwarteten sie auf halber Höhe über den Geleisen. Plötzlich flogen Steine. Manfred sah schwere Brocken heranfliegen und wich instinktiv aus. Ein Aufprall, ein Aufschlag wie Steinschlag im Gebirge – das dicke Waggonfenster hatte es abgehalten. „Nachts kannst du hier nur mit heruntergelassener Jalousie durchfahren, sonst wirst du erschossen“, sagte Sascha. Woher er das wissen wolle, entgegnete Martin gereizt.


Die Tage in New York waren Regentage, dunkle, windige Regentage. Sie konnten doch nicht die ganze Zeit bei Bloomingdale’s verbringen. Sie hatten gar keinen Sinn für diese Art von Luxus, die vor allem in luxuriöser Präsentation von Waren bestand. Draußen die Lexington Avenue lud keineswegs zum Flanieren ein. Die Überreste von Regenschirmen, von Windböen zerknickt und zerfetzt und von den Besitzern weggeworfen, verstopften die Öffnungen der Gullys. Abflusslose Seen aus Regenwasser, Benzin und Motorenöl machten sich am Straßenrand breit. Das Mauseloch neben ihnen war ein Eingang zur U-Bahn. Es war eine Linie nach Queens. Die Bahn erreichte nach kurzer Zeit die Oberfläche, um als Hochbahn weiterzufahren. Sie freuten sich einen Moment lang. Sie würden den Blick über den East River genießen, von der Höhe der Brücke auf Long Island und Manhattan und die anderen Brücken sehen können. Aber starke Regengüsse pladderten aufs Dach, Sturzbäche liefen an den Seiten herunter. Die Fenster bedeckte ein dichter Tropfenvorhang. Dazu drang Feuchtigkeit ins Innere des Wagens; eine dampfige Atmosphäre breitete sich aus; die Scheiben beschlugen von innen. Sie fuhren wie zwischen Milchglaswänden dahin. Die Stadt war schon wieder unsichtbar geworden. Natürlich war es, bei diesem Wetter, in Queens nicht weniger scheußlich als in Manhattan. Sie fuhren bald zurück.

Ein anderes Mal fuhren sie in einem langen Tunnel unter Brooklyn dahin, Richtung Atlantik. Sie schwiegen während der Fahrt. Martin studierte die Reklametafeln. Für Kakerlakenfallen wurde geworben. Gegenüber sorgte sich ein Verleger um den Absatz seiner Ware. Jeder, aber auch wirklich jeder – everyone, absolutely everyone – müsse das neue Buch lesen, also kaufen. Diese Werbung kam einmal ohne Schmus aus. Mannhaft verkündete es der Verleger: Ich produziere, und ihr alle, alle müsst kaufen, und an dieser Tatsache lasse ich nicht den geringsten Zweifel zu. Inzwischen war der Zug ans Tageslicht gekommen. Auf der ersten Station nach der Rampe hielt er ungewöhnlich lange. Fahrgäste wurden ungeduldig, stiegen aus, um nachzusehen, kamen nicht zurück. Martin und Sascha blickten durch die offenstehende Tür und konnten nichts Besonderes entdecken. Draußen auf dem Bahnsteig sahen sie es dann: Aus dem letzten Wagen drangen dunkle Qualmwolken ins Freie. Im gleichen Augenblick lief auf dem anderen Gleis ein Zug ein. Sie sahen sich bloß an und stiegen sofort um und fuhren zurück nach Manhattan.

Die Wolkenkratzer von Midtown und Downtown ließen sich nur ausnahmsweise bestaunen. Ihren Namen allzu wörtlich nehmend, ließen sie es zu, dass ständig Wolken sie tief herunter verhüllten. Man hätte irgendwo nachlesen oder jemand fragen müssen, ob ein Gebäude dreißig, siebzig oder hundert Stockwerke hatte. Aber es zu wissen, hätte sie auch nicht gefreut. Nur in den Nächten gab es längere Abschnitte ohne Regen, ohne Sturm. Sie gingen dann gewöhnlich getrennte Wege. Martin erinnerte sich später, wie er in einer Nacht in Chelsea von einem Passanten angesprochen worden war: ob er Feuer habe. Und dabei rauchte der neugierige Frager gerade eine Zigarette. Martin stand unter einer Laterne und ließ sich ruhig betrachten. Dann gingen sie ohne weiteres auseinander.

Auch zum Botanischen Garten fuhr Martin allein. Es war der letzte Tag vor der Weiterreise. Das Wetter war endlich umgeschlagen, es war schwül-warm. U-Bahn-Fahren war hier wie Fahren mit einem Fahrstuhl. Rasend wie sonst die Stockwerke neben einem glitten die Blocks unsichtbar über einem dahin: Zwoundsiebzigste, Sechsundneunzigste, Hundertzehnte … Einzeln patrouillierende Polizisten in den Zügen. Sie sahen besser aus als in Boston, von Hamburg gar nicht zu reden. Es waren gesunde, Knüppel schwingende Mannsbilder. The medium is the message. Gewalt ist schön, signalisierten sie und spielten mit der Keule. Sie warfen den Knüppel ein kleines Stück in die Luft und fingen ihn spielerisch auf. Sie ließen sich gern begaffen – aber mehr auch nicht. Sie hatten den Schwanz auf dem rechten Fleck.

Draußen zogen die zerstörten Viertel der Süd-Bronx vorbei. Man hätte sich Besseres vorstellen können nach der Rückkehr zur Oberwelt. Wann war eigentlich der Film über die Ruinen der Bronx im Dritten gelaufen, fragte sich Martin. Dann musste er aussteigen. Der Park war nicht weit von der Station, die Gegend zum Glück nicht ganz so heruntergekommen wie weiter im Süden. Schade, dass er nicht noch einmal in den Garten kommen konnte, er hätte ihn gern Sascha gezeigt. Der Garten gefiel auch vielen New Yorkern, von denen manche sogar zum Picknick hierhergekommen waren, und dabei war es ein Werktag. Martin musste an Willi denken, der hier Samen von Akazienbäumen gesammelt hatte. Er ließ ihn dann drüben keimen. Nun wuchsen schon kleine Akazien aus der Bronx in Oberösterreich heran. Die alten Bäume, die Samenspender, standen noch als braune Gerippe herum. Über dem Park lag die Lärmglocke der Großstadt, ein fein zermahlener Geräuschbrei ohne herausragende Einzeltöne. Er verließ den Garten und ging zehn, fünfzehn Blocks nach Westen. Hier war alles solide und geschäftig. Es kam ihm wie Eimsbüttel vor, wie ein in die Breite gegangenes und in die Höhe geschossenes Eimsbüttel, mit mehr Lärm, mehr Dreck und mehr Leben.

Der Zug nach Philadelphia verließ Manhattan natürlich auch in einem langen Tunnel. Sie stiegen unterirdisch in der Penn Station ein, und als sie drüben in New Jersey herauskamen und zurückschauten, war alles verschwunden bis auf die oberen Hälften des World Trade Center, zwei Riesenfeuerzeuge in einem diesigen, brandigen Himmel, sonst nichts.

„New York … New York … Mal sehen, was uns in der Stadt der brüderlichen Liebe erwartet.“


Nichts gegen Joe. Sascha kannte ihn von Europa her. Sie logierten zwei Nächte bei ihm in der Pine Street, in einem alten Mietshaus mit viel Holz. Auf den Dielen des Gästezimmers krochen Massen kleiner Insekten herum, die Martin nicht kannte. „Sie sind sogar im Kulturbeutel. Sind es Termiten?“ – Sascha lachte: „Bestimmt nicht. Termiten bekommst du gewöhnlich nicht zu sehen, sie hausen in den Wänden. Das hier ist irgendein gewöhnliches Kroppzeug. Kommt vom alten Holz und der feuchtwarmen Luft.“ – „Sie haben sich sogar über die Schokolade hergemacht, ekelhaft.“

Es war am Tag nach der Ankunft in Philadelphia, schon ziemlich spät am Morgen. Joe hatte sie am Abend noch durch eine Reihe von Bars schleifen müssen. Sie sollten ihn mittags in der Bank treffen. Manfred dachte an den Barmann in einem der Läden. Mit einer Art Kohlenschaufel war er zu einem Wandschrank gegangen und mit der Schaufel voller Eisstücke zur Bar zurückgekommen. Er verteilte den klirrenden Bruch im Eisschrank und lagerte ein bis zwei Dutzend Bierdosen darauf. Lowenbrau stand auf den Dosen oder Tuborg oder Budweiser; sie sprachen es amerikanisch aus, und es schmeckte auch amerikanisch. Coke und Seven up schoss der Barkeeper aus langen Schläuchen mit Spritzpistolen in die Gläser, die er zuvor zur Hälfte mit dem Eisbruch gefüllt hatte.

Da es schon so spät war, kamen sie auf dem Weg zur Bank bloß zu einem Schlenker durch das Geschäftszentrum. Die City Hall sah aus wie das Rathaus in Brobdingnag. Joe erwartete sie bereits am Portal der Savings Bank. Er schien gut gelaunt und besser ausgeschlafen zu sein als sie selbst. Zuerst schlenderte er mit ihnen durch die Abteilung, in der er arbeitete. Datenverarbeitungsanlagen schnurrten oder ratterten. Eine Menge von Aluminiumbüchsen mit Bändern lag herum. Es sah unordentlich aus, ohne malerisch zu wirken. Er stellte sie den meisten Kollegen in der Abteilung vor und sagte, er werde jetzt mit seinen Gästen aus Europa essen gehen. Zu Gesprächen kam es nicht. In der Kantine drehte sich alles um Salate. Salate seien wichtig für die Reinheit der inneren wie äußeren Organe, sagte Joe, für die Reinheit der Haut zum Beispiel. „Wenn es vier Uhr ist und ich noch eine Stunde zu arbeiten habe, denke ich schon: Habe ich zu Hause auch alles für meinen Salat?“ Martin verspeiste zum Nachtisch ein gelbes Stück Kuchen, schwer und süß, das auch noch ein wenig nach Erdnüssen schmeckte.

Joe zeigte ihnen, wo sie das benutzte Geschirr zurückgeben konnten. Er stellte ihnen auch die Küchenhilfe vor, die die Tabletts leer räumte. Es war eine Deutsche, sie war gleich nach dem Krieg herübergekommen. Für ein paar Augenblicke wurde die verbraucht wirkende Frau lebhaft; es hielt aber nicht lange an. Sie beklagte sich, dass die Straßen unsicher seien und man auch zu Hause nicht in Sicherheit lebe. Immer breiter mache sich das Verbrechen. Sie sprach Deutsch mit einem pfälzisch-amerikanischen Akzent, der Martin zugleich bekannt und fremd in den Ohren klang. Wenn sie unsicher sagte, so begann sie mit dem gedehnten U wie seine Tanten in der Pfalz. Auch das sonderbare CH, ein Laut irgendwo zwischen ich und Gischt, kannte er. Aber beim Auslaut ließ sie den Kiefer nicht herunterklappen, wie er vermutet hätte. Ihrem Mund war diese rheinfränkische R-Faulheit längst ausgetrieben. Gehorsam wölbte sich der Kiefer zu einem Laut wie am Ende des englischen Wortes war.

Mein Gott, wie lange die Mittagspause eines Angestellten in Philadelphia sein konnte. Und wie langweilig die kurze Geschichte der Stadt. Joe schleifte sie annähernd zwei Stunden durch das historische Philadelphia. Hier war die erste Flagge der Union genäht worden und dort der erste Pisspott geschmiedet. Als sie wieder allein waren, kopierte Sascha ihren Gastgeber: „Und in diesem Haus hat General Soundso sich 1781 nach seinem Marsch von achtundachtzig Tagen zum ersten mal wieder rasiert. Brrr …“ Sie schüttelten sich und lachten. Joe war eifrig, ganz bei der Sache, die beiden Europäer hörten bald gar nicht mehr zu.

Immer wieder fielen ihnen städtische Autobusse mit derselben Botschaft auf den Seitenflächen auf: RIZZO FIGHTS FOR YOU. Sie unterbrachen ihren Führer schließlich in seinem gelehrten Vortrag, und Joe erklärte ihnen, dass Rizzo der Bürgermeister sei und demnächst wiedergewählt werden wolle; im Übrigen sei er ein korruptes Schwein. Er war zornig, fasste sich aber schnell wieder. Sie beschlossen ihren Rundgang dann auf Society Hill. Scheinbar sehr fern, diese Stahl-und-Glas-Apartmenthäuser, aufs weiche, grüne Kissen gesetzt. Hier seien vor kurzem noch üble Slums gewesen. (Hatte Rizzo sie abreißen lassen?) Eine Menge Geld müsse haben, wer hier wohnen wolle, eine unanständig große Menge Geld. Und in Philadelphia heiße es, dass einige der Bewohner mit dem Fernglas ihre voyeuristischen Gelüste befriedigten und dabei onanierten …

Auch Philadelphia hatte eine Subway. „It has a small one.“ Es waren bloß zwei oder drei Linien. Er verbot ihnen geradezu, sie zu benutzen. “Nehmt lieber den Autobus.” Es war ein Verbot wie im Märchen, und sie mussten natürlich dagegen verstoßen. Unten auf der Station begriffen sie schnell, was Joe ihnen hatte ersparen wollen. Von der Decke tropfte es, an den Wänden rieselte es, der Bahnhof war schmutzig und schlecht beleuchtet; das ganze Bauwerk verfiel offenbar seit längerem. Im Unterschied zu New York, wo alle Klassen die U-Bahn benutzten, waren hier fast nur arme Leute zu sehen. Sie fuhren zwei Stationen mit und gingen dann zu Fuß zurück.

Joe kam am nächsten Vormittag zum Zug, als sie abreisten. Es war nicht mehr viel Zeit. Sie luden ihn nach Hamburg ein. Vielleicht werde er irgendwann kommen, sagte er, er habe nur zwei Wochen Urlaub im Jahr, und es sei schwierig, damit auszukommen. Sie trennten sich in der Halle. Er verschwand im Untergrund, denn auf dem Rückweg zur Bank nahm er die Subway, die er ihnen nicht hatte zumuten wollen.


Es sah aus, als zwinkere der Obelisk Tag und Nacht. Unaufhörlich wechselte das rote Signal von einer Höhlung zur anderen, ein Augenpaar hoch über der flachen Stadt. Mehrfach wand sich die Schlange der Besucher um den breiten Sockel des Obelisken. Eine Stunde Anstehen oder mehr, das war den beiden zu viel. Sie verzichteten auf die Auffahrt und den Überblick. Massen von Touristen aus der Provinz überall, auch am Weißen Haus, wo sie stundenlang am Parkgitter der Südseite Spalier standen, um in die Schauräume eingelassen zu werden. Sascha und Martin wollten nicht hinein, sie versprachen sich nichts vom Präsidenten.

Die Stadt hielt Abstand zum Palast. Gegenüber seiner Nordfassade war ein Block ausgespart und nannte sich Lafayette Park. In diesen Hohlraum sickerte ein, was die Stadt als unbrauchbar ausgeschieden hatte. Es stimmte, was die Zeitungen in Europa damals schrieben: Der Präsident und die Penner, sie nächtigten in Rufweite. Aber sie scherten sich wenig umeinander. Wenigstens von dem Alten, der in der Dämmerung die vorderste Bank bezog, konnte Martin sagen, dass er dem Präsidenten den Rücken kehrte. Vielleicht hielten es diese Obdachlosen in den Ghettos nicht aus, die den größten Teil des District of Columbia ausfüllten. Am ersten Abend wagte Martin noch den Scherz, die Atmosphäre sei so düster und zugleich schmierig, als würde hier gerade die Dreigroschenoper neu verfilmt. Aber er verspürte zum ersten Mal drüben Angst und wollte danach nachts draußen nicht mehr herumlaufen. Auch die Tage verbrachten sie dann nur noch in den weißen Enklaven der Stadt oder in ihren Vororten.

Mittags aßen sie manchmal in einer Cafeteria nicht weit vom Hotel. Der Laden war bei den Angestellten der Umgebung beliebt; die Schlange reichte vom Tresen bis hinaus auf den Gehweg. Man stand nie lange an, man stand überhaupt nicht an, alles war in fließender Bewegung. Personal und Gäste waren gut aufeinander eingespielt. Die Kunden rückten einer dicht hinter dem anderen vor und glitten mühelos durch die Drehtür. Hier störten Sascha und Martin bereits das rhythmische Gleiten. Sie benötigten für dieses kleine Manöver immer mehr Zeit und Raum als die anderen. Drinnen am langen Tresen, der um zwei Ecken ging, war die Auswahl beträchtlich. Aber was bedeutete das? Jeder vor und hinter ihnen hatte sein Lunchprogramm genau im Kopf. Wie zweibeinige Disketten spulten sie es rasch ab, grapschten im Weitergehen nach Tellern und Gläsern, bestellten und empfingen beinahe im Laufschritt – und jeder genau Seines. Es war wirklich ein Schnellrestaurant. Der Büffetier kam in seinem aktiven Wortschatz mit nur einem Einsilber aus: „Next … next … next!“ Ohne einmal zur Besinnung gekommen zu sein, fanden die beiden sich in einer Nische ganz hinten wieder und wunderten sich, wofür sie diesmal an der Kasse bezahlt hatten.

Ähnlich funktionierte die U-Bahn, die erst einige Jahre alt war. Alles war elektronisch, schnell, sauber. Keiner verkaufte Fahrkarten in der Wanne wie in Philadelphia, eine lächerliche Vorstellung. Kein Drehkreuz konnte man mit 25-Öre-Münzen betrügen wie in New York (- davon hatten sie gehört). Mit codierten Streifen, aus einem Automaten bezogen, öffnete jeder für sich die Schleuse beim Eingang und beim Ausgang. Ein ferner Rechner verglich in Sekundenbruchteilen Fahrpreis mit Guthaben und saldierte. Unaufhörlich klappten die Schranken: auf und zu, auf und zu. In der Rush hour war es reines High-Tech-Ballett – und natürlich tanzten sie auch hier aus der Reihe. Bei ihnen klappte es eben nur manchmal. Immer wieder öffnete sich die Schranke nicht, da ihr Saldo negativ war und sie nachzahlen mussten, oder der codierte Schnipsel blieb einfach liegen. Dann kam es zu Stockungen.

Silver Spring war ein hübscher Name. Sie fuhren hin und sahen, dass es sich da leben ließ. Sie gingen einen Waldhang hinunter, an den Wegkreuzungen blühende Sträucher. Unten im Tal standen lauter einzelne Holzhäuser, jedes vereinzelt im Wald. Die Grundstücke waren nicht groß, die Häuser standen nah beisammen. Aber die Baumgruppen zwischen ihnen bewirkten die Illusion, dass jedes allein in einsamer Landschaft stände. Auf kleinen ausgesparten Flächen blühten die Rhododendren. Ihre Pastelltöne – lachsfarben, mauve, kirschrosa – hoben sich vom dunklen Grün der Nadelbäume wie vom dunklen Braun der Hausfassaden überdeutlich ab. Einige Häuser waren auch bunt angestrichen, dunkelrot oder dunkelblau. Sie dachten an Japan.

Sie besuchten auch den Rock Creek Park. Während sie jetzt durch die Vorstädte Chicagos geschaukelt wurden, wusste Martin, dass er sich dort am wohlsten gefühlt hatte. Sie waren nur zwei Stunden da gewesen, aber es hatte genügt, ihn die Stadt und das ganze Land für eine Weile vergessen zu lassen. Da waren nur noch der Wald, das Tal mit dem Bach und der steile Hang. Die hohen alten Bäume hielten den Abhang fest, waren mit ihren Wurzeln in ihn eingekrallt. In seiner Erinnerung überlagerte sich der Park am Rand von Washington D.C. schon mit einem Tälchen, das er im Jahr davor entdeckt hatte. Der kleine Weg führte vom Schloss Rosenau nach Niederneustift. Es war keine richtige Schlucht, aber der Wald war so dicht, dass man sich während eines Spaziergangs dort der Welt entrückt fühlte. Kein Geräusch von außerhalb, nicht einmal der Wind ließ sich hören. Auf lichteren Plätzen wuchsen Schierlinge, ungewöhnlich große Exemplare mit riesigen weißen Dolden. Auch die Huflattiche waren ihm dort größer als woanders vorgekommen. Ich will mir nach der Reise Huflattichtee besorgen, dachte Martin, ich muss etwas für meine Bronchien tun.


„Wir sind da. Arlington Park.“ Sascha sah als Erster das Stationsschild.

Einige Fahrgäste stiegen mit ihnen aus und schlugen vom Bahnhof den Weg nach rechts ein, wo die gewöhnlichen Vorstadtstraßen begannen. Sascha und Martin sahen sich erst einmal um und entdeckten auf der anderen Seite das halbrunde, hohe Bauwerk, das dem Bahnhof den Rücken kehrte. Sie erkannten nicht sofort, worum es sich handelte.

„Es könnte ein Einkaufszentrum sein“, sagte Martin, „lass uns hinübergehen.“

Das komplexe Gebäude schien noch zu wachsen, als sie näher kamen. Es wirkte ziemlich abweisend mit seiner bunkerähnlichen Rückseite und ihren geschlossenen Stahltüren. So sah kein Einkaufszentrum aus. Sie gingen um die Seite herum, da wo das Halbrund aufhörte. Nun konnten sie das weite unbebaute Gelände jenseits des konkav geschwungenen Riegels überblicken, und die Art der ganzen Anlage machte ihnen sofort klar, dass Arlington Park – die Rennbahn von Chicago war. Es fanden jetzt keine Rennen statt, die Tribüne war fast leer. Einzelne Männer, die Pferde trainierten, und einige Zuschauer verloren sich in der weitläufigen Anlage.

„So geht’s, wenn man ins Blaue fährt.“ – „Wir sind die richtigen Weltenbummler.“ Sie lachten beide.

„Und dabei bin ich zu Hause noch nie auf der Trabrennbahn gewesen. Würde mir nicht einfallen, deshalb nach Bahrenfeld zu fahren.“

Sie interessierten sich gar nicht für Pferderennen. Dann versuchten sie, jenseits der Bahn spazieren zu gehen. Aber die Straßen waren ohne Gehwege angelegt, und außer ihnen ging keiner hier zu Fuß. Es machte keinen Spaß. Die restliche Zeit bis zur Rückfahrt verbrachten sie daher in einem Hamburgerladen im Bahnhof.


Man hätte denken können, es wären lauter Fähnchen, Millionen von Fähnchen. Beflaggt und bewimpelt schien der ganze Park. Alles gelb, rosa und weiß, eine Explosion von Blüten: Rhododendren, Hartriegel und Zierkirschen. Der Frühling kam spät hier an den See, der groß war wie ein Meer; und wenn er kam, hatte er etwas Gewalttätiges.

Der Himmel war bedeckt. Vom See strich ein leichter Wind über den Park. Leichthin berührte er Bäume und Sträucher; sie schwankten nicht, nur die Blütenblätter kräuselten sich. Widerstand fand der Wind vom See erst an der Front der Michigan Avenue, die ihn kanalisierte und mit Druck in die westöstlich verlaufenden Straßen des Loop hineinströmen ließ. Die beiden Touristen waren zu Fuß vom Hotel zum Seeufer gegangen. Sie wohnten nördlich vom Fluss, waren von Norden über eine Brücke gekommen und hatten dabei einen Blick auf den verschnörkelten Kaugummipalast geworfen. An den Kreuzungen war es zugig und böig gewesen. Als lind und belebend empfanden sie nun den Wind in seiner natürlichen Stärke. Sie würden in Kürze das bekannte Bild von Seurat sehen – im Original!

Hinein – und drinnen im Art Institute fühlten sie sich wie im Louvre oder im Reichsmuseum in Amsterdam. Die Masse der Besucher und die Masse der Objekte verschmolzen zu einem erregenden und erregten Ganzen, einem mitreißenden Prozess, der keinen Stillstand duldete und jede Konzentration aufs Einzelne ausschloss. Man fühlte sich angesogen und weitergespült und wartete innerlich schon aufs Ausgespucktwerden. In solcher Lage suchen Gehirn und Gemüt nach einem Ruhepunkt und finden ihn regelmäßig in einer Zwangsvorstellung. Der ganze quälende, ungenießbare Museumsbetrieb reduziert sich nun auf ein Kunstwerk, ein Bild, in dem man die Essenz des Ganzen vermutet. Die Mona Lisa und die Nachtwache, sie sollen die Mühe lohnen, die sechsunddreißig überfüllten Säle davor, voller Nervosität und zahlloser Angriffe auf das Sehvermögen, das so rasch ermüdet. Die Verwaltung des Museums trägt ihm Rechnung, diesem Bedürfnis, ans Ziel zu gelangen, sich nicht ablenken zu lassen und nicht auf Umwege zu geraten. Daher überall die deutlichen Hinweise, die spitz zulaufenden Blechschilder oder Kunststofftäfelchen: To the Nightwatch – to the Nigthwatch. Abgeschossen wie ein Pfeil gelangt so jeder rasch und unfehlbar ans Ziel, jeder aus den Heerscharen von Japanern, Amerikanern und Deutschen. Dort verspüren sie Genugtuung. Sie haben es geschafft, es beinahe hinter sich gebracht. Das Gefühl, auf einem Höhepunkt der eigenen Biographie angelangt zu sein, durchdringt sie und ist ganz unabhängig von dem Bild, dem sie da in einer Riesentraube von Menschen gegenüberstehen. Der Abstand zum Bild erlaubt gar keine Betrachtung der Details. So überlassen sie sich ihrem Gesamteindruck, einer Mischung aus Ehrfurcht und Erleichterung. Das ist Kunst! Und sie eilen zum Ausgang der Touristenmühle.

Martin indessen gab zu, er sei enttäuscht. Das Bild sei eben nur sehr groß. Im Übrigen wirke das Original nicht anders auf ihn als die viel kleinere Reproduktion in seinem Schlafzimmer zu Hause.
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Eine seelenlose Reise

Lieber Arno,

wenn wir uns einmal die Reiseroute veranschaulichen (Chicago, Oak Park, dann Arlington Park, dann mittels Flashback nach Boston, weiter über Providence nach New York, anschließend Philadelphia, Washington und Silver Spring, letztendlich wieder Chicago), dann erschließt sich dem Leser nur schwer, warum ausgerechnet Arlington Park dieser Erzählung den Titel verleiht.

Es fängt gut an: dem Leser eröffnet sich eine Stadt, eine amerikanische Stadt, aus der Perspektive zweier Europäer, die mit der Stadt nicht viel anzufangen wissen. Meine Erwartungshaltung: Martin und Sascha gewinnen den literarisch vielfach bearbeiteten USA eine neue Note ab, schauen mit zugleich fremden und doch eigenen Augen(schließlich sind wir Europäer) auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie treffen auf Menschen, die ihnen aus Fernsehserien und Nachrichten vertraut erscheinen, aber im reellen Leben dann doch so eigenartig, fast verstörend vorkommen. Sie erleben sich selbst ganz neu in diesem Umfeld, ihre Beziehung, ihr Vertrauensverhältnis kristallisiert sich heraus durch unerwartet eintreffende Begebenheiten, Situation, Notfälle.

Stattdessen bekam ich: unendlich lange Beschreibungen über Gebäude, Parks, Gegenden, Transportmittel, architektonische Besonderheiten, die man einem Wikipedia Artikel entnehmen könnte. Martin hat spastische Tracheobronchitis und Sasha findet den Erdbeershake zu süß, viel mehr erfäht man nicht über die Beiden. Irgendwann trennen sie sich auch mal, warum? Egal! Es gibt keine Dialoge, keine interessanten Situationen, seelenlos, so scheint es, durchqueren sie das Land, teilnahmslos nehmen sie alles mit und entdecken weder das Land, noch sich selbst neu. Das erhoffte Zusammenspiel : miteinander vertraute Menschen gemeinsam in der Fremde findet nicht statt.

Aus diesem Grund funktioniert für mich persönlich der Text leider nicht.

Nun ist das so eine Sache mit den Erwartungshaltungen (meine Erzählung Hundertfünfzehn Kilometer hat nämlich auch Erwartungen enttäuscht): Vielleicht war es genau das, was du zeigen wolltest. Gelangweilte, seelenlose Menschen in einer eigentlich öden, riesigen Gegend. Wenn es autobiographische Anleihen nimmt und du es so erlebt hast, dann kannst du es nicht anders beschreiben. Und wer die Orte kennt, die du beschreibst, wird vielleicht eigene Erlebnisse und Wahrnehmungen wiedererkennen. Wer aber Fellinis Roma nie gesehen hat und noch nie in Chicago war, dem wird dein Text wenig sagen.

Liebe Grüße,

CPMan
 
Lieber CPMan,

danke für die ausführliche Beschäftigung mit meinem Text. Deine Schlussfolgerungen kann ich zu einem guten Teil nachvollziehen. Insbesondere trifft zu, was du am Anfang deines letzten Absatzes vermutest. Der Text ist durchgehend kritisch, soll das eigentlich Müßige an solchen Unternehmungen aufzeigen. Er verarbeitet zu diesem Zweck in freier Form Eindrücke von zwei USA-Reisen, ohne dass Personal und Reiseroute hier wirklich identisch mit dem realen Ablauf damals wären.

Du vermisst ja das persönlich Begegnende. Ganz ausgeschieden ist es freilich nicht, vgl. den Philadelphia-Abschnitt (Sascha, alte deutsche Immigrantin). Dennoch ist da was dran, und zwar das: Alles auf diesem Gebiet Wesentliche habe ich in dem Text "Die Reise nach Fire Island" untergebracht. (Achtung, keine Reklame, nur Eingehen auf Leserrüge.) Ich bin mir bewusst, dass diese Trennung des Materials problematisch ist. Erklärung: Die zwei Texte richten sich an zwei recht unterschiedliche mögliche Leserkreise.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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