Arm und alt im Wedding

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Die Filiale der Großbäckerei verkauft Brötchen für sieben Cent das Stück, in anderen Stadtteilen verlangt dieselbe Firma dafür zehn - man richtet sich nach der Kundschaft. Durch die Schaufensterscheibe sehe ich mir den Menschenstrom draußen auf der Müllerstraße an, während ich mein Stück Kuchen verzehre. Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben - hat Marie Antoinette das wirklich mal gesagt?

Mein Blick fällt auf die gegenüberliegende hohe und fensterlose Giebelwand. Da wirbt ein Elektronikkonzern für seine nächstgelegenen Filialen. Eine ist am Alexander Platz, zwei Wörter, kein Bindestrich und Platz eine Zeile tiefer mittig. Hübscher Eigenname, denke ich, und stelle mir die Reklamewand als Grabstein vor: Hier ruht ALEXANDER PLATZ …

Rechtschreibung und Zeichensetzung gehören für den Großteil der Kundschaft hier vermutlich zu den weniger bedeutenden Angelegenheiten. Zum Beispiel für die alte Frau, die jetzt an der Reihe ist - ihre Erscheinung entspricht allen gängigen Vorstellungen: rüstig, sauber, ordentlich - und eben ärmlich. Sie möchte wieder, sagt sie, einen Pfannkuchen vom Vortag für dreißig Cent. (Für die Auswärtigen: Gemeint ist das anderswo als Berliner bekannte Schmalzgebäck.) – Haben wir heute nicht, nur frische. – Was kostet einer? – Sechzig. – Sechzehn? – Nee, sechzig. – Zu teuer. – Sie gehen gemeinsam das Angebot durch, dann erwirbt die Alte einen Kameruner vom Vortag für dreißig Cent. Sie scheint zufrieden, sie hat ihr Budget nicht überzogen und verstaut Wechselgeld und Kuchenpaketchen mit Selbstverständlichkeit. Sie übertreibt es damit nicht, macht kein Getue und flüchtet sich nicht in unpassende Würde. Arm ist sie halt und weiter nüscht. Sie hat meine Sympathie, auch wenn sie davon gar nichts hat.

Einige Tage später im 247er Bus … Es ist schon dunkel, ich will vom Gesundbrunnen zum Leopoldplatz. Der Bus hat beträchtliche Verspätung und als er kommt, quetschen sich vier Elternteile mit vier Kinderwagen in den Mittelbereich. Soll das was fürs Guinness-Buch werden? Wir anderen Zugestiegenen stauen uns im Gang davor, während weiter hinten noch acht, neun Sitzplätze frei sind – kein Durchkommen. Erst an der Reinickendorfer Straße habe ich so viel Luft angehalten und mich so dünn gemacht, dass ich wie ein Schemen durch einen kleinen Spalt passe und backbords auf einen Gangplatz sinken kann.

Mein Nachbar am Fenster hält mir im Nu seine Pfote hin, begrüßt mich mit Handschlag. Aber wir kennen uns doch gar nicht? Er ist Anfang sechzig, sehr hager und nicht gerade overdressed. Nein, wir kennen uns wirklich nicht, aber er will mich gern kennenlernen und stellt mir rasch hintereinander seine Fragen: Wo willste denn hin? – Zum Leo. – Sind da Lebensmittel drin? (Er deutet auf meinen Stoffbeutel.) – Nee, nur Seifenartikel. – Und wo wohnste? – Englisches Viertel. (Meine Stimme klingt ein bisschen unsicher, das ist nämlich die bessere Gegend im Wedding.) – Haste `ne Frau? – Nee, hab ich nicht. – Biste Berliner? – Ach, ich hab immer mal wieder hier gewohnt. – Haste Geld? – Na ja, was man so dabei hat, ein paar Münzen halt … - Haste `ne Frau? – Nee, aber das haste schon mal gefragt. – Bald reicht es mir und ich sage ihm: Keine Lust mehr auf deine Fragen hier im Bus. Damit bin ich für ihn erledigt, ich muss ihn vorbeilassen, er steht den Rest der Strecke lieber.

Am Leopoldplatz steigt er vor mir aus. Er spricht draußen schnell die erstbeste junge Frau an, die auf der Bank im Wartehäuschen sitzt. Was er sagt, ist nicht zu verstehen, ihre Antwort auch nicht. Sie schüttelt energisch den Kopf – bei ihr ist nichts zu machen, bedeutet das. Und er hastet sofort weiter, erwischt noch das Grün an der Müllerstraße, verschwindet schon im Geschiebe Ecke Luxemburger, ein Hektiker ohne viel Hoffnung, den nur noch die Gewohnheit zusammenhält. Weiter, weiter, es muss doch noch was zu machen sein, im Leben noch irgendwas zu machen sein …
 
E

equinox

Gast
Guten Abend Arno,
nette und so wahre Geschichte über die Berliner, die nicht nur im Wedding zufinden sind.
Die Kinderwagenrallye im Bus, dabei sind nur 2 erlaubt... was will man machen :)


Gern glesen und
liebe Güße

von der Berliner Göre
equinox
 
Danke, equinox, für die freundliche Reaktion. Ja, es war nur eine zufällige Auswahl von Eindrücken, wie sie in Berlin leicht zu haben sind. Allerdings scheint mir, je nach Stadtteil und Milieu gibt es dabei doch unterschiedliche Schwerpunkte.

Schönen Gruß
Arno Abendschön
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Arno,

Diesen Text habe ich gern gelesen, auch wenn das keine durchstrukturierte Geschichte ist, sondern eigentlich nur eine Folge von Impressionen, die wie zufällig aneinander gereiht wirken. Aber vermutlich macht gerade das den Reiz aus. Gelungen ist auch die Kombination und wechselseitige Durchdringung von Beobachtetem und Erzählerkommentar, der verschiedene Stimmungslagen spiegelt von mitfühlend bis genervt und immer getragen ist von einem untergründigen Humor.

Du hast ein Gefühl für sprachliche Stimmigkeit, allerdings greifst auch du manchmal daneben, zum Beispiel hier:

"sie hat ihr Budget nicht überzogen und verstaut Wechselgeld und Kuchenpaketchen [red]mit Selbstverständlichkeit[/red]. Sie übertreibt es damit nicht, macht kein Getue und flüchtet sich nicht in unpassende Würde."

Dieses "mit Selbstverständlichkeit" passt irgendwie nicht, außerdem fehlt überhaupt nichts, wenn du es weglässt. Der Folgesatz erklärt doch alles.

Tanti saluti cordiali,

Ofterdingen
 
Die Filiale der Großbäckerei verkauft Brötchen für sieben Cent das Stück, in anderen Stadtteilen verlangt dieselbe Firma dafür zehn - man richtet sich nach der Kundschaft. Durch die Schaufensterscheibe sehe ich mir den Menschenstrom draußen auf der Müllerstraße an, während ich mein Stück Kuchen verzehre. Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben - hat Marie Antoinette das wirklich mal gesagt?

Mein Blick fällt auf die gegenüberliegende hohe und fensterlose Giebelwand. Da wirbt ein Elektronikkonzern für seine nächstgelegenen Filialen. Eine ist am Alexander Platz, zwei Wörter, kein Bindestrich und Platz eine Zeile tiefer mittig. Hübscher Eigenname, denke ich, und stelle mir die Reklamewand als Grabstein vor: Hier ruht ALEXANDER PLATZ …

Rechtschreibung und Zeichensetzung gehören für den Großteil der Kundschaft hier vermutlich zu den weniger bedeutenden Angelegenheiten. Zum Beispiel für die alte Frau, die jetzt an der Reihe ist - ihre Erscheinung entspricht allen gängigen Vorstellungen: rüstig, sauber, ordentlich - und eben ärmlich. Sie möchte wieder, sagt sie, einen Pfannkuchen vom Vortag für dreißig Cent. (Für die Auswärtigen: Gemeint ist das anderswo als Berliner bekannte Schmalzgebäck.) – Haben wir heute nicht, nur frische. – Was kostet einer? – Sechzig. – Sechzehn? – Nee, sechzig. – Zu teuer. – Sie gehen gemeinsam das Angebot durch, dann erwirbt die Alte einen Kameruner vom Vortag für dreißig Cent. Sie scheint zufrieden, sie hat ihr Budget nicht überzogen und verstaut jetzt Wechselgeld und Kuchenpaketchen. Sie übertreibt es damit nicht, macht kein Getue und flüchtet sich nicht in unpassende Würde. Arm ist sie halt und weiter nüscht. Sie hat meine Sympathie, auch wenn sie davon gar nichts hat.

Einige Tage später im 247er Bus … Es ist schon dunkel, ich will vom Gesundbrunnen zum Leopoldplatz. Der Bus hat beträchtliche Verspätung und als er kommt, quetschen sich vier Elternteile mit vier Kinderwagen in den Mittelbereich. Soll das was fürs Guinness-Buch werden? Wir anderen Zugestiegenen stauen uns im Gang davor, während weiter hinten noch acht, neun Sitzplätze frei sind – kein Durchkommen. Erst an der Reinickendorfer Straße habe ich so viel Luft angehalten und mich so dünn gemacht, dass ich wie ein Schemen durch einen kleinen Spalt passe und backbords auf einen Gangplatz sinken kann.

Mein Nachbar am Fenster hält mir im Nu seine Pfote hin, begrüßt mich mit Handschlag. Aber wir kennen uns doch gar nicht? Er ist Anfang sechzig, sehr hager und nicht gerade overdressed. Nein, wir kennen uns wirklich nicht, aber er will mich gern kennenlernen und stellt mir rasch hintereinander seine Fragen: Wo willste denn hin? – Zum Leo. – Sind da Lebensmittel drin? (Er deutet auf meinen Stoffbeutel.) – Nee, nur Seifenartikel. – Und wo wohnste? – Englisches Viertel. (Meine Stimme klingt ein bisschen unsicher, das ist nämlich die bessere Gegend im Wedding.) – Haste `ne Frau? – Nee, hab ich nicht. – Biste Berliner? – Ach, ich hab immer mal wieder hier gewohnt. – Haste Geld? – Na ja, was man so dabei hat, ein paar Münzen halt … - Haste `ne Frau? – Nee, aber das haste schon mal gefragt. – Bald reicht es mir und ich sage ihm: Keine Lust mehr auf deine Fragen hier im Bus. Damit bin ich für ihn erledigt, ich muss ihn vorbeilassen, er steht den Rest der Strecke lieber.

Am Leopoldplatz steigt er vor mir aus. Er spricht draußen schnell die erstbeste junge Frau an, die auf der Bank im Wartehäuschen sitzt. Was er sagt, ist nicht zu verstehen, ihre Antwort auch nicht. Sie schüttelt energisch den Kopf – bei ihr ist nichts zu machen, bedeutet das. Und er hastet sofort weiter, erwischt noch das Grün an der Müllerstraße, verschwindet schon im Geschiebe Ecke Luxemburger, ein Hektiker ohne viel Hoffnung, den nur noch die Gewohnheit zusammenhält. Weiter, weiter, es muss doch noch was zu machen sein, im Leben noch irgendwas zu machen sein …
 
Danke, Ofterdingen, besonders auch für die Detailkritik. "Mit Selbstverständlichkeit" war genau die Art überflüssiger Verdoppelung, die nachträglich auszumerzen ich mich immer bemühe. Nur findet man selbst auch bei häufigem Durchlesen nie alle in Frage kommenden Stellen. Dieses hier habe ich jetzt rasch geändert.

Auch deine allgemeinen Feststellungen zum Text finde ich durchaus zutreffend.

Schönen Morgengruß
Arno Abendschön
 
U

USch

Gast
Hallo Arno,
schön geschriebene Milieustudie. Gibt´s auch in Hamburg.

Erst an der Reinickendorfer Straße habe ich so viel Luft angehalten und mich so dünn gemacht, dass ich wie ein Schemen durch einen kleinen Spalt passe und [red]backbords [/red]auf einen Gangplatz sinken kann.
Bei dem Wort backbords kommt für einen, der am Wasser lebt, sofort "Schiff" ins Gehirn. Ich würd´s streichen. Ein Ländler weiss wahrscheinlich nicht einmal, welche Seite gemeint ist. Ist für deine story natürlich nicht wichtig, aber ein Bus ist halt kein Schiff.
LG USch
 
Dank auch an dich, USch. Was "backbords" angeht, so hast du sachlich wohl Recht, es sollte an der Stelle ein wenig ironisch verfremdend sein, ist vielleicht nur halb geglückt. Immerhin schaukeln sowohl Schiffe wie Busse beim Fahren und führen zu ähnlich vorsichtigem Gehen. Ich lasse es mal stehen als dunkle Anspielung auch darauf, dass der Verfasser selbst jahrzehntelang in und um Hamburg gelebt hat und da noch immer nicht ganz weg ist.

Noch zum Vergleich der beiden Städte: Was ins Auge springende, weit verbreitete Armut angeht, kommt Hamburg an Berlin nicht heran. Ich habe neulich mal das Angebot eines Billig-Warenhauses - den Namen nenne ich nicht - in Hamburg-Harburg mit dem im Wedding verglichen. Das Ergebnis war ähnlich wie bei den Brötchen oben im Text.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Lieber Arno,

der Text hat mir gefallen. Ich habe selbst sieben Jahre im Wedding gewohnt, allerdings vor fast zwei Jahrzehnten. Die Erinnerungen kommen - ein Zeichen für die Qualität des Textes.

P.
 
Danke vielmals, Penelopeia. Dein Lob hefte ich mir hier an die Wand, wobei "hier" gerade nicht in Berlin ist. (Ich pendele noch.)

Angeblich soll der Wedding ja im Kommen sein, hoffentlich nicht auf Kosten der ärmeren Leute dort.

Schönen Abendgruß
Arno Abendschön
 



 
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