- überarbeitete Fassung in der Vergangenheitsform -
Kapitel 3 - Flucht
Wie lange er so dagesessen hatte, Iliah in den Armen wiegend, konnte er nicht sagen. Irgendwann stand Tanako hinter ihm und versuchte, beruhigend auf ihn einzureden. Andero verstand die Worte nicht, nahm seine Umwelt nur durch einen Schleier war. Tanako trat neben Andero und versuchte, den leblosen Körper der verstorbenen Elbin aus den Armen des jungen Witwers zu nehmen. Doch dieser wollte seine Frau nicht frei geben. Erst mit etwas mehr Druck entgleitete ihm Iliah aus der schützenden Umarmung, wurde sie ihm genommen, endgültig. Tanako legte sie zurück in das Bett und bedeckte ihren Leichnam vollständig mit der Decke.
„Sie sieht doch so aus, als wenn sie schlafen würde, Tanako. Warum bedeckt Ihr denn ihr Gesicht mit der Decke? Sie muss doch atmen können.“ Andero streckte die Hände aus, um die Decke von Iliahs Gesicht zu nehmen, doch der große Elb an seiner Seite hinderte ihn daran.
„Andero, sie weilt nicht mehr unter uns. Lasst sie ruhen.“
„Nein, Ihr irrt Euch. Sie schläft doch nur.“ Verwirrt schaute der Mann menschlichen Ursprungs den Elbenkrieger an.
„Wie könnt ihr nur so was sagen? Sie wird jeden Moment ihre Augen öffnen. Und dann sagt sie dasselbe wie jeden Morgen: ,Guten Morgen, mein Schatz. Ich liebe dich.’ Ja, wirklich.“
Er versuchte, sich aus Tanakos Griff zu befreien, jedoch ohne Erfolg. Erneut stiegen Tränen in seine Augen, rollten die Wange herunter und blieben in seinem Drei-Tage-Bart hängen.
„Nie mehr wird sie die Augen öffnen, Andero. Es tut mir sehr leid.“ Solch eine Gefühlsregung war für einen Elben sehr erstaunlich.
„Ja, Tanako, Ihr sagt es. Nie mehr kann ich in ihren Augen versinken, nie mehr wird sie mich anlächeln, nie mehr wird sie mir mit ihrer liebevollen Art das Leben versüßen. Nie mehr!“ Die letzten Worte hatte Andero geschrien.
Und warum das alles?, überlegte Andero. Nur wegen so einer blöden Prophezeiung. Aus Trauer wurde plötzlich Wut und er schaute Tanako mit zorngerötetem Gesicht an. Seine Lippen verwandelten sich in einen schmalen Strich. Wäre dieser Elb nicht vor drei Tagen zur Morgenstunde in sein Haus gekommen, hätten sie nicht gehen müssen, Iliah wäre noch am Leben, hätte die Zwillinge ganz in Ruhe bekommen können und wäre nie erkrankt. Ja, seine geliebte Frau wäre ohne Tanako noch am Leben. Sein ganzer Zorn richtete sich augenblicklich gegen seine Gefährten, vor allem gegen Tanako.
Dieser schien Anderos Wut zu spüren und hebte beschwichtigend die Hände.
„Andero, bitte.“ Doch weiter kam er nicht, da hatte ihn der große Mann bereits am Kragen gepackt.
„Wieso wir? Wieso Iliah? Konntet ihr euch nicht jemanden anders für eure scheiß Prophezeiung aussuchen? Wieso musstet ihr ausgerechnet zu meiner kleinen Familie kommen? Haben wir euch jemals etwas getan? War Iliah nicht immer nett zu euch und freundlich? Womit hat sie diesen Tod verdient? Warum habt ihr sie umgebracht?“ Mit jedem Satz wurde er lauter, bis er schließlich nur noch schrie und Tanako hin und her schüttelte.
„Andero, bei allem nötigen Respekt, aber Ihr geht zu weit“, drang eine Stimme aus dem Hintergrund an Anderos Ohr. Er drehte sich um, ließ von Tanako ab und blickte Sindor wütend an. „Was mischt ihr...“ wollte er den Kundschafter aus Tharul fragen, als dieser ihm ins Wort fiel.
„Tanako kann nichts für den Tod Eurer Frau. Glaubt mir, wir alle leiden mit Euch. In der kurzen Zeit ist uns Iliah auch ans Herzen gewachsen. Ihr Tod schmerzt sehr. Dies war nicht gewollt. Dennoch müssen wir...“ Doch weiter kam er nicht, da wurde er unterbrochen. Jedoch nicht mit Worten, sondern mit einer kräftigen harten Faust, die Andero direkt auf sein Kinn platzierte. Dies schickte den Elben direkt zu Boden, wo er bewusstlos liegen blieb. Augenblicklich eilten Lordor und Tanako zu dem wütenden Mann, während Denir sich um Sindor kümmerte. Andero wollte seinem Opfer gerade nachsetzen, als Lordor ihn erreichte und seinen rechten Arm festhielt, den er zum zweiten Schlag erhoben hatte. Er bog den Arm auf Anderos Rücken. Dieser wehrte sich wie besessen gegen den Griff des Elben, jedoch hatte er dem eisenharten Griff nichts entgegen zu setzen. Tanako griff sich seinen linken Arm, damit er nicht weiter um sich schlagen konnte. Andero gebärdete sich verzweifelt, wollte seiner hilflosen Wut freien Lauf lassen.
„Lasst mich los, ihr Mörder. Ihr seid schuld an ihrem Tod. Wir haben euch vertraut!“, schrie er weiter seine Gefährten an, „und ihr tötet sie einfach. Verdammt sollt ihr dafür sein.“
Seine Beine gaben nach und er sackte völlig in sich zusammen. Es schien, als sei jegliche Kraft aus ihm heraus geströmt. Schluchzend krümmte er sich auf dem Boden, wußte nicht, wie er über Iliahs Tod hinweg kommen sollte. Was gibt es jetzt noch für mich? Eine Hand legte sich beschwichtigend auf den von Weinkrämpfen bebenden Rücken.
„Für Euch gibt es sehr viel, Andero“, meinte Tanako. Da bemerkte Andero, dass er den letzten Satz laut ausgesprochen hatte.
„Andero, ich weiß, dass Euer Schmerz und Euer Verlust unbeschreiblich sein müssen“, sagte der große Elb mitfühlend und kniete sich zu dem weinenden Mann auf den Boden. Es klang ehrlich, wie es der Elb aussprach.
„Aber ich weiß auch, dass eure Kinder Euch jetzt brauchen. SIE sind am Leben. Doch ihr Leben kann auch nur von kurzer Dauer sein, wenn wir sie nicht in Sicherheit bringen. Perdur kommt mit jeder Minute näher. Er wird unsere Flucht bereits bemerkt haben.“ Tanako schaute ihn ernst an.
„Perdur wird sich darüber klar sein, dass wir auf dem Weg nach Tharul sind. Wir müssen fliehen. Sofort.“
Doch Andero schien nicht zugänglich zu sein für eine elbische Logik.
„Ihr Elben scheint wohl gar keine Gefühle zu haben“, zischte Andero dem völlig verdutzten Elben zu.
„Ich weiß, dass Euer Schmerz und Euer Verlust unbeschreiblich sein müssen.“ machte Andero den Elben mit verstellter Stimme nach.
„Ihr glaubt doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich Euch weiter folgen werde?“
„Ja, aber...“
„Nein, nichts aber. Ich vertraue Euch nicht mein Leben und das meiner Kinder an. Ich werde mit meinen Zwillingen in die Berge fliehen“, beschloss Andero mit neuer Tatenkraft. „Das Yanuzi Gebirge ist mein Zuhause, hier bin ich aufgewachsen und kenne mich bestens aus. Ich finde genügend Stellen, wo man sich für längere Zeit verstecken kann.“
Grimmig schaute er sein Gegenüber an, doch Tanako schüttelte nur den Kopf.
„Das ist unmöglich, Andero“, richtete Sertor das Wort an ihn. Andero drehte sich zu dem Magier um und schaute ihn fragend an.
„Warum?“
„Weil die Zwillinge eine magische Aura umgibt.“
„Eine was?“
„Eine magische Aura. Davon ist bereits in der Prophezeiung die Rede und tatsächlich spürte ich eine Erschütterung in der Magie, als beide geboren wurden.“
„Ja und? Was hat das damit zu tun?“, hakte Andero nach. Der Elbenmagier hebte die Arme.
„Wie gesagt, umgibt die Kinder eine magische Aura. Diese ist sehr stark und von jedem Magier wahrzunehmen. Spürt Ihr etwas, Andero?“ Dieser nickte nur. Er verspürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut.
„Seht Ihr. Das meine ich damit. Sicherlich könnt Ihr es nur spüren, weil Ihr Euch in unmittelbarer Nähe der beiden befindet. Aber ein Magier spürt diese Aura viele Meilen weit.“
„Ja und?“
Sertor verzog ärgerlich das Gesicht vor solcher Dummheit, mahnte sich aber in Gedanken, geduldig zu sein.
„Die Magier, die von der Prophezeiung erfahren haben, wissen jetzt, dass der Asranyias geboren ist. Und diese Aura, die beiden Kindern zu Eigen ist, wird alle auf unsere Spur bringen. Das ist, als ob ein Hund die Witterung aufnimmt. Sicherlich ist eine Verfolgung der magischen Spur schwieriger, aber ein sehr guter Magier ist dazu in der Lage. Darum könnt Ihr nicht allein fliehen. Sie würden Euch schneller finden als Ihr denkt.“
„Das ist nicht Euer Ernst, Sertor?“, grollte Andero, wußte aber in seinem Innersten, dass der Magier Recht hatte.
„Das hieße“, setzte er nach, „dass meine Kinder nirgends sicher sind. Auch nicht in Tharul“, schrie er schließlich den Elbenmagier an.
„Wie wollt Ihr sie denn dann ein Leben lang schützen?“, zischte er.
„Wir haben vor“, mischte sich Tanako wieder in das Gespräch ein, „beide Kinder von Landory weg zu bringen.“ Andero fuhr zu Tanako herum.
„Fort von Landory? Wohin?“
„Die Frage müsste nicht nur lauten, wohin, sondern in welche Zeit.“
„Jetzt seid Ihr durchgedreht.“
„Nein, es stimmt, was ich Euch sage. Wir wollen die Kinder zuerst nach Tharul und anschließend nach Anagard bringen, um sie durch das Zeitportal in eine andere Welt zu schicken.“
„Wie, eine andere Welt?“
„Eine andere Welt eben. Mehr wissen wir auch nicht.“
„Und da sollen sie sicher sein? In einer Welt, die Ihr nicht kennt, wo Ihr nicht wisst, was dort für Verhältnisse herrschen?“
„Die Prophezeiung rät uns dazu und ihr Wissen ist nicht in Frage zu stellen“, erwiderte der Elb knapp.
„Ha, also doch durchgedreht. Zeitportal, Vergangenheit. Was soll da schon sein und dann wohl noch allein?“
„Nein, es war geplant, Iliah und Euch mit den Kindern durch das Portal zu schicken. Euch begleiten sollten ausgesuchte Elben, Historiker, die sich mit verschiedenen Lebensweisen beschäftigt haben, soweit dies ging. Auch ich und Sertor sollten Euch begleiten, um Eure Sicherheit zu gewährleisten. Dieser Plan besteht immer noch, nur eben ohne Iliah. Nur wenn wir dies schaffen, sind die Zwillinge sicher, da dann die magische Aura nicht mehr zu spüren wäre.“
„Und dann?“
„Nach zwanzig Jahren, so die Prophezeiung, wenn sich ihr magisches Potential entwickelt hat, hätten wir sie zurückgeholt, um gegen Anaruba zu kämpfen. Wir müssen beide nach Anagard schicken, da wir nicht wissen, welcher der Asranyias ist. Einer von beiden muss es sein.“
„Aber beide können es nicht sein?“
„Nein, in der Prophezeiung ist von einem Asranyias die Rede, nicht von zweien.“
Betretenes Schweigen breitete sich in dem Raum aus.
„Wie soll ich Euch noch trauen, Tanako?“, wendete sich Andero an den ehemaligen Kaufmann und brach so die angespannte Stille.
„Ihr habt uns ein halbes Jahr lang belogen. Ihr habt versprochen, dass Iliah nichts passieren wird. Sagt es mir, Tanako, sagt es mir!“, verlangte Andero zu wissen.
„Ich kann mich nur noch mal bei Euch entschuldigen. Dennoch habe ich Euch auch die Wahrheit gesagt. Mein Vater war Kaufmann und nach seinem Tod bin ich in seine Fußstapfen getreten. Erst später kam ich zur Kriegskunst.“
„Ihr habt doch den Brief von König Marek gesehen“, warf Sindor ein, der wieder zu sich gekommen war und sich das schmerzende Kinn rieb.
„Glaubt Ihr, dass Euer König Euch belügen würde? Glaubt Ihr das tatsächlich, Andero?“
Warnend hielt der Angesprochene einen Finger in Richtung Sindors.
„Ihr vergesst, Kundschafter, dass König Marek Tal’ en Essyndiell nicht mein König ist. Wir lebten nicht ohne Grund in Dara, obwohl Iliah ihre Familie in Tharul hatte.“
„Ihr seid, wart, mit einer Elbin verheiratet.“
„Bin verheiratet“, wies Andero den Kundschafter zurecht.
„Seid mit einer Elbin verheiratet, also untersteht Ihr dem Herrscher über alle Elben, König Marek Tal’ en Essyndiell!
„Ja, ja, typisch Elben. Hochnäsig, arrogant, gefühlskalt und allumfassende Wesen. Iliah war mit die einzige Ausnahme, der einzige Lichtblick in Eurem Volk, Sindor. Außerdem haben wir vor einem Priester geheiratet, eine menschliche Hochzeitszeremonie abgehalten.“
„Ja, das hättet ihr nicht tun dürfen. Dafür solltet ihr bestraft werden.“
„Bestraft?“
„Ruhe!“, donnerte es plötzlich aus der anderen Ecke des Raumes. Lernordo hatte zum ersten Mal seine Stimme erhoben. Alle drehten sich nach dem Sprecher um.
„Diese ganze Streiterei bringt doch nichts. Im Gegenteil, wir verschwenden hier wertvolle Zeit, während Perdur in Ruhe näher kommen kann. Ist doch egal, zu welchem Volk ihr gehört, Andero, es geht hier einzig um die Kinder.“ Eine kurze Pause, um durch zu atmen, dann sprach der Elbenkrieger weiter: „Wir müssen sie in Sicherheit bringen. Und zwar jetzt!“
Betretenes Schweigen breitete sich aus ob des Zeitverlusts wegen dummer Streitereien.
„Und was jetzt?“, äußert sich Andero nach einer Weile.
„Wir bestatten Iliah“, sagte Lernordo.
„Aber nach meines Volkes Ritualen“
„Nein, Andero, Iliah war eine Elbin und wird nach unseren Traditionen beigesetzt.“
„Wir bestatten sie auf dem hiesigen Friedhof. Für Rituale egal welchen Volkes fehlt uns jetzt leider die Zeit“, meldete sich erneut Lernordo zu Wort. An Andero gewandt drückte er sein Mitgefühl aus. „Es tut mir sehr leid.“ Dieser gab mit einem Nicken sein stilles Einverständnis und auch Tanako warf keinen Widerspruch ein.
Wenig später standen sie um Iliahs Grab. Jeder sprach kurz ein paar Worte, dann war diese kurze Zeremonie bereits beendet. Als die anderen vom Friedhof gegangen sind, stand Andero allein an dem Grab. Ein Kreuz, welches schnell angefertigt wurde, stand am Kopfende des Grabes. Andero schaute es an, las den Namen, der wegen der Dunkelheit kaum zu erkennen war. In Gedanken verabschiedete er sich von seiner Frau.
„Ich liebe dich, Iliah, und werde es immer tun“, flüsterte er in die Stille der Nacht hinein. Er drehte sich um, nahm die Fackel, die noch im Erdboden steckte und das Grab beleuchtete. Dann ging er, verließ schweren Herzens endgültig seine Frau.
Als er wieder im Gasthaus ankam, standen die Pferde gesattelt zur Abreise bereit. Die Eingangstür zum Gasthaus öffnete sich und Tanako trat mit zwei Bündeln auf den Armen von der Helligkeit des Hauses in die Nacht hinaus. Die beiden Bündel waren Anysa und Aris, Anderos Kinder.
„Ich habe sie so verschnürt, dass wir beide jeweils einen mit einer Tasche um den Körper hängen können.“ Tanako gab Andero den Jungen und hängte sich das Mädchen vorn um die Brust. Wie eine Art Rucksack, nur nicht auf den Rücken geschnallt, sondern nach vorn gelegt.
„Warte, Tanako“, rief Andero aus. Er kramte in seiner Tasche und förderte das Erbe seiner Frau heraus.
„Ist das nicht Iliahs Kette?“, fragte Tanako verwundert.
„Ja, da habt Ihr recht. An ihrem Sterbebett habe ich Iliah versprochen, Anysa die Kette zu geben.“ Er ging zu seiner Tochter und versuchte, ihr die Kette um zu legen.
„Das wird nicht halten“, versprach der Elb. „Lasst es bleiben und gebt ihr die Kette doch später.“ Andero schaute ihn grimmig an, reagierte aber nicht auf seine Worte und versuchte es weiter. Er wickelt die Kette mehrmals um den kleinen Hals, bis diese sicher saß, aber nicht zu eng war.
Tanako widmete sich anschließend wieder seinen Erläuterungen über das Reisen mit Babys.
„So kann ich die kleine Prinzessin ohne Probleme tragen und habe beide Hände frei. Die warme Decke schützt sie vor der Kälte.“
Andero machte es ihm gleich und hatte bald Aris ebenso auf seiner Brust festgeschnallt.
Doch dann fingen beide Kinder, wie auf ein geheimes Signal, an zu schreien.
„Hab ich was falsch gemacht?“, fragte Tanako erschrocken.
„Weiß ich auch nicht. Keine Ahnung, was die beiden haben.“
Die Amme, die im Türrahmen stand, meldete sich zu Wort: „Werte Herren. Wenn ich euch einen Rat geben dürfte. Ich glaube, die beiden haben Hunger. Sie brauchen Muttermilch.“
Völlig verdattert schauten die Männer die Amme an.
„Schaut mich nicht so entgeistert an. Die Kinder benötigen eindeutig Milch. Das ist wirklich so.“
Andero sah seinen Sohn an. „Was machen wir denn jetzt, kleiner Mann?“, fragte er das schreiende Baby in der Tasche vor ihm.
Wenig später hatten sie eine Lösung gefunden: Kuhmilch. Sertor gelang es, mit Hilfe seiner magischen Fähigkeiten die Milch so zu behandeln, dass sie für Anysa und Aris verträglich war. Die Amme besorgte ein paar Flaschen, damit ein kleiner Vorrat an behandelter Milch mitgenommen werden konnte. Gierig tranken die Säuglinge die Kuhmilch, gaben danach Ruhe und schlummerten an den Körpern der Männer friedlich ein.
Die Gefährten schwangen sich auf ihre Pferde und ritten nach einiger Verzögerung in die Nacht hinein. Sertor sorgte für ein wenig magisches Licht, das den Weg vor ihnen erhellte und Andero seine Orientierung wieder gewinnen ließ. Er führte sie Richtung Norden, entlang des Wyke zum Wykportal.
Sie kamen gut voran. Seine Gruppe, bestehend aus einem Dutzend Personen, war bereits ins Yanuzi Gebirge vorgedrungen. Perdur konnte einige Bauern dazu überreden, seine Fragen zu beantworten. Nun ja, manche hatten dies sicherlich nicht ganz freiwillig getan, aber er hatte so seine Überredungsmittel. Da redete jeder. So hat er in Erfahrung bringen können, dass es eine schwangere Elbin in einem Dorf namens Dara geben sollte, am Wyke im Yanuzi Gebirge. Das war sein Stichwort.
Er hatte in den letzten zwölf Tagen eine Strecke von über tausend Meilen zurückgelegt. Dass dies möglich war, hätte er vor knapp zwei Wochen nie für möglich gehalten. Als von seinem Herrn, Meistermagier Nordazu Galyris Holdro, der Befehl kam, zum Grenzwall zwischen der Mark und Adarak zu reisen, um eine schwangere Elbin zu finden und zu beseitigen, das alles in zwei Wochen, hatte er stark an der Ausführbarkeit des Auftrages wegen Zeitmangels gezweifelt. Doch Nordazu hatte noch ein As im Ärmel: die Zwischenwelt. Mit Hilfe eines enormen magischen Aufwandes, was den Meistermagier sichtlich schwächte, sorgte er für einen Riss im Gefüge des Raumes. Ein Spalt, nicht breiter als zwei nebeneinander gehende Männer, kaum zwei Meter hoch, klaffte im Hof von Schloss Wendrock, dem Herrschersitz von Anaruba, auf. Dahinter war nichts zu sehen, nur Schwärze. Dafür aber eine schreckliche Kälte, die nichts Gutes verhieß.
Und damit sollte er Recht behalten. Was Nordazu wohl versäumt hatte, ihm zu sagen, dass es in der Zwischenwelt schreckliche Monster gab, die nur auf Frischfleisch und Jagdbeute gewartet hatten, kam Perdur teuer zu stehen. Ein halbes Dutzend seiner besten Männer verlor er bei der Reise zwischen den Welten. In der Dunkelheit, nur erhellt durch das magische Licht von Magier Lacorto, stolperten sie durch diese eigenartige Welt, folgten einem Pfad, den er mehr erraten musste, als dass er ihn sah. Nordazu warnte sie davor, den Weg zu verlassen. Einige seiner Männer wurden trotzdem getötet, aus dem Hinterhalt. Riesige Dämonen, doppelt do groß wie ein Mann, mit messerscharfen Klauen, riesigen Reißzähnen. Ihre schmalen Körper ließen eine enorme Wendigkeit und Schnelligkeit zu. Nach dem ersten Überraschungsangriff waren sie vorsichtiger. Trotzdem fanden noch zwei seiner Männer den Tod.
Irgendwann kamen sie zu der Stelle, die den Ausgang symbolisieren sollte. Zwei Obelisken flankierten eine Gruppe kleiner Steine, im Kreis aufgestellt. Nun war Lacorto gefragt. Einen erneuten Riss in die Welt zu schlagen, brachte den Magier beinahe um. Er war nicht so stark wie der Meistermagier, konnte die Kräfte nicht so gut lenken. Doch es reichte, sie aus dieser Zwischenwelt zu bringen. Gerade rechtzeitig, denn schon griffen die Dämonen erneut an. Sie versuchten, ebenfalls aus der Zwischenwelt zu entkommen, jedoch ohne Erfolg. Ihre Existenz ist an die Zwischenwelt gebunden, sie konnten ihr nicht entkommen. Durch einen starken Sog wurden sie wieder in ihre Heimat gesogen, in die Dunkelheit, in das Nichts. Denn dort gab es außer diesem einen Weg rein gar nichts.
Perdur würde mit Meistermagier Nordazu reden müssen, sobald er diesen Auftrag erledigt hatte. Nun war ihm auch klar, warum Nordazu ihm soviel Männer mit gegeben hatte. Damals war er überzeugt, dass es zuviele Personen wären und sie so nur unnötig auffallen würden. Der Meistermagier wird sich gedacht haben, bei soviel Männern werden ein paar von ihnen den Dämonen entkommen.
Nachdem seine Gruppe, nun um sechs Männer weniger bestehend, zwei Stunden nach Betreten der Zwischenwelt diese wieder verlassen hatte, befanden sie sich an den Ausläufern des Indry Gebirges. Sie hatten gute achthundert Meilen von Ciag bis zur Nordgrenze der Mittelmark hinter sich gebracht. Sicherlich sehr erstaunlich und nützlich. Trotzdem würde er nicht noch einmal durch die Welt der ewigen Dunkelheit reisen, wenn er die Wahl hätte.
Die restlichen Meilen waren sie im scharfen Tempo geritten, bis ihre Pferde unter ihnen tot zusammenbrachen und sie sich neue geholt hatten. So verbrauchte jeder von seinen Männern drei bis vier Pferde. Die Tiere unbemerkt zu besorgen, stellte sich schwieriger heraus, als gedacht. Sie mussten die Pferde entweder stehlen oder die Besitzer zum Schweigen bringen. Wer auch immer in den letzten Tagen Perdurs Weg kreuzte, überlebte dies nicht.
Sein Blick richtete sich wieder gerade aus zwischen den Bäumen und dem Gebüsch hindurch. Er hatte sich gut versteckt, war für niemanden zu erkennen. Direkt vor ihm lag Dara, wo seine Zielperson sein sollte. Seit gut drei Stunden saß er schon in seinem Versteck und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Von hier aus konnte er das Dorf gut überschauen, hatte die einzige Straße, die durch Dara führt, genau im Blick. Dieses Dorf mitten im Yanuzi Gebirge war nicht sehr groß. Perdur zählte zwanzig Hütten, eine Schmiede, einen Kaufmannsladen, der aber jetzt geschlossen war. Etwas außerhalb befand sich der Friedhof, die dazu gehörige Kirche bildete die Mitte des Dorfes. Die Wohnhütten waren im guten Zustand, könnten aber einen neuen Anstrich gebrauchen. In Dara lebten sowohl Menschen als auch Elben miteinander. Das wunderte den Söldner aus Ciag, da Mensch und Elb in den seltensten Fällen zusammen wohnen. Sogar Zwerge hatte er schon gesehen. Ein eigenartiges Dorf, dieses Dara. Das Zusammenleben der verschiedensten Arten klappt offensichtlich sehr gut.
Bisher hatte er noch kein Glück, konnte keine schwangere Elbin ausfindig machen. Perdur erblickte rechts von ihm zwei Frauen elbischer Herkunft, die sich unterhielten. Die eine Elbin trug ein blaues Kleid, war hoch gewachsen und hatte einen Einkaufskorb in der Hand. Ihre Gesprächspartnerin hatte ein gelbes Kleid mit blauen Blumenstickereien an. Er schnappte den Namen Iliah auf und das Wort schwanger. Grund genug, sich langsam den beiden Elbinen zu nähern. Bald war er nah genug, dass er sie belauschen konnte.
„Weiß ich nicht“, sagte gerade die Elbin mit dem Einkaufskorb in der Hand. „Und bevor du weiterfragst, Kyra, ich weiß auch nicht, wo Tanako ist. Ich wollte mir heute die schöne Seide abholen, aber sein Laden ist zu, zum ersten Mal erlebe ich so was. Tja und Iliah.“
„Ja, in ihrem Zustand. Sie muss doch dieser Tage ihr Kind bekommen.“
„Tanako ist abgereist, das weiß ich ganz sicher“, meinte Kyra gedankenvoll. „Ich habe ihn vor ein paar Tagen gesehen und wollte ihn fragen, ob denn die Seide schon da wäre. Da sagte er mir, er müsse für eine Weile weg. Hat aber nichts weiter dazu gesagt, sondern ist mit seinen Gehilfen zu Iliah gegangen.“ Nachdenklich schürzte sie die Lippen. „Iliah und Andero sind weg, Tanako mit seinen Gehilfen ebenso. Ich würde sagen, die sind zusammen auf Reisen gegangen.“
„Aber zusammen. Du meinst...“
„Ja, so wird es sein. Das passt gut zusammen. Da waren noch ein paar Fremde gewesen, die sich mit Tanako unterhalten haben. Und...“
Mehr brauchte Perdur nicht zu hören. Nun wußte er, wen genau er suchte und auch wo er suchen musste. Offensichtlich wußte man von ihm und seinem Auftrag, so dass Iliah in Sicherheit gebracht wurde. Daher das Risiko, mit einer hochschwangeren Elbin zu reisen und deren Leben zu riskieren. Und wo wäre sie am sichersten, wenn nicht in der Hauptstadt der Elben, beschützt von Hunderten von Elbenkriegern. Kurz um, sie war auf dem Weg nach Tharul.
Er lächelte in sich hinein. Dass sie auf der Flucht war, erleichterte sogar sein Vorhaben. Hier in Dara wäre es nicht so einfach gewesen, sie unbemerkt zu töten, doch draußen in der Wildnis war dies ein einfacheres Unterfangen. Perdur drehte sich langsam um und schlich genauso leise wieder zurück, wie er gekommen war. Nach ein paar Minuten war er zurück bei seinen Söldnern, die seit geraumer Zeit auf ihn warteten. Die Pferde hatten sie eine Meile nordwestlich von ihrem jetzigen Standpunkt an Bäumen fest gebunden. Als Perdur erschien, standen die Männer sofort auf und kamen auf ihn zu. Als er sich völlig sicher war, die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben, erzählte er knapp, was sich zugetragen hatte.
„Die Zielperson heißt Iliah, ist eine hochschwangere Elbin, die kurz vor der Niederkunft steht. Sie ist in Begleitung von mindestens fünf weiteren Personen, vor kurzem abgereist Richtung Norden nach Tharul.“
Perdur Kondros schaute seine Söldner an. Diese nickten als Zeichen, dass sie verstanden hatten.
„Woher haben die von uns erfahren?“, fragte ein Mann, etwas kleiner als Perdur, grimmig schauend mit finsterem Gesicht.
„Die Elben sind nicht dumm. Ich habe damit gerechnet, sie nicht mehr hier anzutreffen. Denn Tanako ist bei ihr.“
„Tanako, wer ist das?“, fragte derselbe Mann.
Perdur schaute ihn eindringlich an, dann richtete sich sein Blick in die Natur, schien ins Leere zu gehen.
„Tanako Van’ Lorindo Wa, Elbenkrieger aus Tharul, engster Vertrauter des Elbenkönigs. Ich kenne ihn gut. Wir standen uns bereits mehrmals gegenüber und jedes Mal konnte ich ihn nicht töten. Wann immer er aufgetaucht ist, hat er meine Pläne durchkreuzt.“ Perdur ballte seine Hand zur Faust und hielt sie drohend vor sein Gesicht. „Aber dieses mal nicht. Ha, dieses mal werde ich ihn endlich umbringen.“
Er schaute seine Männer an. „Die Jagd hat begonnen!“
Perdur verfolgte die Sonnenfinsternis nüchtern. Für ihn bedeutete dies nur, dass die Elbin in diesen Minuten ihr Kind bekam, wenn es sich hierbei wirklich um den Asranyias handeln sollte. Damit änderte sich sein Plan nur geringfügig. Jetzt war nicht mehr die Elbin sein Ziel, sondern das Baby. Denn sein Auftrag lautete, den Asranyias zu beseitigen. Als er ungeboren war, ging dies nur, wenn seine Mutter sterben würde. Nun war dies nicht mehr notwendig.
„Er ist geboren, der Asranyias“, sagte plötzlich Lacorto Loprades, der Magier aus dem Norden Meridors. Perdur schaute ihn fragend an.
„Woher wollt Ihr das so genau wissen, Magier?“
„In der Prophezeiung heißt es, dass die Geburt des Asranyias in der Magie zu spüren sein wird.“ Lacorto schwieg eine Weile, lauschte mit geschlossenen Augen in das Gefüge der Magie hinein.
„Ja, es ist deutlich zu spüren. Eine Erschütterung geht durch die Magie. Der Asranyias ist geboren.“
„Könnt Ihr auch spüren, wo das Kind sich befindet?“
„Ja, Perdur, ich denke schon. Mit den richtigen Mitteln und einer starken magischen Formel sollte es mir gelingen, die Richtung zu bestimmen und uns hinzuführen.“
„Und warum habt Ihr mir das nicht eher gesagt, Magier?“, fragte Perdur zornig.
„Ihr habt nicht gefragt“, antwortete dieser gelassen. Perdur schaute den Magier verständnislos an und schüttelt den Kopf.
„Könnt Ihr mir vielleicht auch sagen, wie viel Meilen Vorsprung sie haben?“
„Sicher, aber Ihr müsst eine Weile warten.“ Perdur gab mit einem Nicken sein Einverständnis und der Magier machte sich sogleich an die Arbeit.
Er ging in den Wald und holte sich die passenden Kräuter. Dann legte er sie vor sich hin und begann, sie zu zerkleinern und mit Sand zu vermischen. Der Magier nahm einen Stock und zeichnete einen Kreis in den sandigen Boden. Im Inneren des Kreises platzierte er die zermahlenden Kräuter und zeichnete mit ihnen ein paar Symbole. Anschließend stellte er sich in die Mitte des Kreises, schloss die Augen und murmelte ein paar magische Formeln. Unverständliche Worte für jeden, der den Umgang mit Magie nicht kannte. Nach ein paar Minuten leuchtete ein rotes Licht auf, umgab Lacorto. So blieb er über eine Stunde stehen, rührte sich nicht von der Stelle, sprach nur immer wieder dieselben Worte, so dass es sich wie eine Art Gesang anhörte. Er hob die Arme, öffnete seine Handflächen. Eine kleine Kugel aus rotem Licht erschien auf seinen Händen. Diese Kugel verfestigte sich, bis sie schwebend vor seinem Gesicht anhielt. Der Magier öffnete die Augen und schaute seine Kreation lächelnd an. Das rote Licht, das ihn umgeben hatte, war nun verschwunden, die Kräuter im Kreis zu Asche verbrannt, der Kreis nicht mehr sichtbar. Die rote Kugel, nicht größer als eine Walnuss, kehrte in seine Hand zurück und er umschloss sie.
„Das Kind ist nicht weiter als hundert Meilen von hier entfernt und zwar in dieser Richtung.“ Er deutete mit der anderen Hand in östliche Richtung. „Wird ja auch Zeit, dass Ihr sie findet. Über eine Stunde hat Eure Zauberei gedauert. Da wäre ich mit meinem Pferd bereits sehr weit gewesen.“ Perdur verabscheute Magie. Es war etwas für ihn nicht greifbares, er konnte sie nicht kontrollieren.
„Seid ihr sicher?“, fragte Perdur den Magier. „Tharul liegt nördlich von hier.“
Lacorto schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nördlich. Sie sind im Osten, das weiß ich genau.“
„Sagt Euch das Eure Kugel?“ Damit deutete der Söldner auf die Kugel in Lacortos geballte Hand.
„Ja, das tut sie in der Tat. Sehr wirkungsvoll.“ Mehr sagte er nicht.
Perdur zeigte mit einem Brummen seinen Unmut. In der Zeit, die der Magier für diese Kugel gebraucht hatte, hätte ich dieses Balg bereits gefunden. Wozu ist Magie eigentlich gut, wenn ich alles selbst machen muss, denkt sich der Söldner und schaute Lacorto aus den Augenwinkeln grimmig an. Magie war nicht für ihn, er war ein Mann der Tat, der Kontrolle und Logik. Und bei Magie hatte er nichts Derartiges. Das bereitete ihm Unbehagen. Nein, mit Magie würde er sich nie anfreunden können und einem Magier würde er nie vertrauen können.
Perdur zuckte die Schultern und drehte sich zu den anderen Männern um.
„Auf, los mit euch“, forderte er sie auf. „Unser Ziel ist ganz nah.“
Kapitel 3 - Flucht
Wie lange er so dagesessen hatte, Iliah in den Armen wiegend, konnte er nicht sagen. Irgendwann stand Tanako hinter ihm und versuchte, beruhigend auf ihn einzureden. Andero verstand die Worte nicht, nahm seine Umwelt nur durch einen Schleier war. Tanako trat neben Andero und versuchte, den leblosen Körper der verstorbenen Elbin aus den Armen des jungen Witwers zu nehmen. Doch dieser wollte seine Frau nicht frei geben. Erst mit etwas mehr Druck entgleitete ihm Iliah aus der schützenden Umarmung, wurde sie ihm genommen, endgültig. Tanako legte sie zurück in das Bett und bedeckte ihren Leichnam vollständig mit der Decke.
„Sie sieht doch so aus, als wenn sie schlafen würde, Tanako. Warum bedeckt Ihr denn ihr Gesicht mit der Decke? Sie muss doch atmen können.“ Andero streckte die Hände aus, um die Decke von Iliahs Gesicht zu nehmen, doch der große Elb an seiner Seite hinderte ihn daran.
„Andero, sie weilt nicht mehr unter uns. Lasst sie ruhen.“
„Nein, Ihr irrt Euch. Sie schläft doch nur.“ Verwirrt schaute der Mann menschlichen Ursprungs den Elbenkrieger an.
„Wie könnt ihr nur so was sagen? Sie wird jeden Moment ihre Augen öffnen. Und dann sagt sie dasselbe wie jeden Morgen: ,Guten Morgen, mein Schatz. Ich liebe dich.’ Ja, wirklich.“
Er versuchte, sich aus Tanakos Griff zu befreien, jedoch ohne Erfolg. Erneut stiegen Tränen in seine Augen, rollten die Wange herunter und blieben in seinem Drei-Tage-Bart hängen.
„Nie mehr wird sie die Augen öffnen, Andero. Es tut mir sehr leid.“ Solch eine Gefühlsregung war für einen Elben sehr erstaunlich.
„Ja, Tanako, Ihr sagt es. Nie mehr kann ich in ihren Augen versinken, nie mehr wird sie mich anlächeln, nie mehr wird sie mir mit ihrer liebevollen Art das Leben versüßen. Nie mehr!“ Die letzten Worte hatte Andero geschrien.
Und warum das alles?, überlegte Andero. Nur wegen so einer blöden Prophezeiung. Aus Trauer wurde plötzlich Wut und er schaute Tanako mit zorngerötetem Gesicht an. Seine Lippen verwandelten sich in einen schmalen Strich. Wäre dieser Elb nicht vor drei Tagen zur Morgenstunde in sein Haus gekommen, hätten sie nicht gehen müssen, Iliah wäre noch am Leben, hätte die Zwillinge ganz in Ruhe bekommen können und wäre nie erkrankt. Ja, seine geliebte Frau wäre ohne Tanako noch am Leben. Sein ganzer Zorn richtete sich augenblicklich gegen seine Gefährten, vor allem gegen Tanako.
Dieser schien Anderos Wut zu spüren und hebte beschwichtigend die Hände.
„Andero, bitte.“ Doch weiter kam er nicht, da hatte ihn der große Mann bereits am Kragen gepackt.
„Wieso wir? Wieso Iliah? Konntet ihr euch nicht jemanden anders für eure scheiß Prophezeiung aussuchen? Wieso musstet ihr ausgerechnet zu meiner kleinen Familie kommen? Haben wir euch jemals etwas getan? War Iliah nicht immer nett zu euch und freundlich? Womit hat sie diesen Tod verdient? Warum habt ihr sie umgebracht?“ Mit jedem Satz wurde er lauter, bis er schließlich nur noch schrie und Tanako hin und her schüttelte.
„Andero, bei allem nötigen Respekt, aber Ihr geht zu weit“, drang eine Stimme aus dem Hintergrund an Anderos Ohr. Er drehte sich um, ließ von Tanako ab und blickte Sindor wütend an. „Was mischt ihr...“ wollte er den Kundschafter aus Tharul fragen, als dieser ihm ins Wort fiel.
„Tanako kann nichts für den Tod Eurer Frau. Glaubt mir, wir alle leiden mit Euch. In der kurzen Zeit ist uns Iliah auch ans Herzen gewachsen. Ihr Tod schmerzt sehr. Dies war nicht gewollt. Dennoch müssen wir...“ Doch weiter kam er nicht, da wurde er unterbrochen. Jedoch nicht mit Worten, sondern mit einer kräftigen harten Faust, die Andero direkt auf sein Kinn platzierte. Dies schickte den Elben direkt zu Boden, wo er bewusstlos liegen blieb. Augenblicklich eilten Lordor und Tanako zu dem wütenden Mann, während Denir sich um Sindor kümmerte. Andero wollte seinem Opfer gerade nachsetzen, als Lordor ihn erreichte und seinen rechten Arm festhielt, den er zum zweiten Schlag erhoben hatte. Er bog den Arm auf Anderos Rücken. Dieser wehrte sich wie besessen gegen den Griff des Elben, jedoch hatte er dem eisenharten Griff nichts entgegen zu setzen. Tanako griff sich seinen linken Arm, damit er nicht weiter um sich schlagen konnte. Andero gebärdete sich verzweifelt, wollte seiner hilflosen Wut freien Lauf lassen.
„Lasst mich los, ihr Mörder. Ihr seid schuld an ihrem Tod. Wir haben euch vertraut!“, schrie er weiter seine Gefährten an, „und ihr tötet sie einfach. Verdammt sollt ihr dafür sein.“
Seine Beine gaben nach und er sackte völlig in sich zusammen. Es schien, als sei jegliche Kraft aus ihm heraus geströmt. Schluchzend krümmte er sich auf dem Boden, wußte nicht, wie er über Iliahs Tod hinweg kommen sollte. Was gibt es jetzt noch für mich? Eine Hand legte sich beschwichtigend auf den von Weinkrämpfen bebenden Rücken.
„Für Euch gibt es sehr viel, Andero“, meinte Tanako. Da bemerkte Andero, dass er den letzten Satz laut ausgesprochen hatte.
„Andero, ich weiß, dass Euer Schmerz und Euer Verlust unbeschreiblich sein müssen“, sagte der große Elb mitfühlend und kniete sich zu dem weinenden Mann auf den Boden. Es klang ehrlich, wie es der Elb aussprach.
„Aber ich weiß auch, dass eure Kinder Euch jetzt brauchen. SIE sind am Leben. Doch ihr Leben kann auch nur von kurzer Dauer sein, wenn wir sie nicht in Sicherheit bringen. Perdur kommt mit jeder Minute näher. Er wird unsere Flucht bereits bemerkt haben.“ Tanako schaute ihn ernst an.
„Perdur wird sich darüber klar sein, dass wir auf dem Weg nach Tharul sind. Wir müssen fliehen. Sofort.“
Doch Andero schien nicht zugänglich zu sein für eine elbische Logik.
„Ihr Elben scheint wohl gar keine Gefühle zu haben“, zischte Andero dem völlig verdutzten Elben zu.
„Ich weiß, dass Euer Schmerz und Euer Verlust unbeschreiblich sein müssen.“ machte Andero den Elben mit verstellter Stimme nach.
„Ihr glaubt doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich Euch weiter folgen werde?“
„Ja, aber...“
„Nein, nichts aber. Ich vertraue Euch nicht mein Leben und das meiner Kinder an. Ich werde mit meinen Zwillingen in die Berge fliehen“, beschloss Andero mit neuer Tatenkraft. „Das Yanuzi Gebirge ist mein Zuhause, hier bin ich aufgewachsen und kenne mich bestens aus. Ich finde genügend Stellen, wo man sich für längere Zeit verstecken kann.“
Grimmig schaute er sein Gegenüber an, doch Tanako schüttelte nur den Kopf.
„Das ist unmöglich, Andero“, richtete Sertor das Wort an ihn. Andero drehte sich zu dem Magier um und schaute ihn fragend an.
„Warum?“
„Weil die Zwillinge eine magische Aura umgibt.“
„Eine was?“
„Eine magische Aura. Davon ist bereits in der Prophezeiung die Rede und tatsächlich spürte ich eine Erschütterung in der Magie, als beide geboren wurden.“
„Ja und? Was hat das damit zu tun?“, hakte Andero nach. Der Elbenmagier hebte die Arme.
„Wie gesagt, umgibt die Kinder eine magische Aura. Diese ist sehr stark und von jedem Magier wahrzunehmen. Spürt Ihr etwas, Andero?“ Dieser nickte nur. Er verspürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut.
„Seht Ihr. Das meine ich damit. Sicherlich könnt Ihr es nur spüren, weil Ihr Euch in unmittelbarer Nähe der beiden befindet. Aber ein Magier spürt diese Aura viele Meilen weit.“
„Ja und?“
Sertor verzog ärgerlich das Gesicht vor solcher Dummheit, mahnte sich aber in Gedanken, geduldig zu sein.
„Die Magier, die von der Prophezeiung erfahren haben, wissen jetzt, dass der Asranyias geboren ist. Und diese Aura, die beiden Kindern zu Eigen ist, wird alle auf unsere Spur bringen. Das ist, als ob ein Hund die Witterung aufnimmt. Sicherlich ist eine Verfolgung der magischen Spur schwieriger, aber ein sehr guter Magier ist dazu in der Lage. Darum könnt Ihr nicht allein fliehen. Sie würden Euch schneller finden als Ihr denkt.“
„Das ist nicht Euer Ernst, Sertor?“, grollte Andero, wußte aber in seinem Innersten, dass der Magier Recht hatte.
„Das hieße“, setzte er nach, „dass meine Kinder nirgends sicher sind. Auch nicht in Tharul“, schrie er schließlich den Elbenmagier an.
„Wie wollt Ihr sie denn dann ein Leben lang schützen?“, zischte er.
„Wir haben vor“, mischte sich Tanako wieder in das Gespräch ein, „beide Kinder von Landory weg zu bringen.“ Andero fuhr zu Tanako herum.
„Fort von Landory? Wohin?“
„Die Frage müsste nicht nur lauten, wohin, sondern in welche Zeit.“
„Jetzt seid Ihr durchgedreht.“
„Nein, es stimmt, was ich Euch sage. Wir wollen die Kinder zuerst nach Tharul und anschließend nach Anagard bringen, um sie durch das Zeitportal in eine andere Welt zu schicken.“
„Wie, eine andere Welt?“
„Eine andere Welt eben. Mehr wissen wir auch nicht.“
„Und da sollen sie sicher sein? In einer Welt, die Ihr nicht kennt, wo Ihr nicht wisst, was dort für Verhältnisse herrschen?“
„Die Prophezeiung rät uns dazu und ihr Wissen ist nicht in Frage zu stellen“, erwiderte der Elb knapp.
„Ha, also doch durchgedreht. Zeitportal, Vergangenheit. Was soll da schon sein und dann wohl noch allein?“
„Nein, es war geplant, Iliah und Euch mit den Kindern durch das Portal zu schicken. Euch begleiten sollten ausgesuchte Elben, Historiker, die sich mit verschiedenen Lebensweisen beschäftigt haben, soweit dies ging. Auch ich und Sertor sollten Euch begleiten, um Eure Sicherheit zu gewährleisten. Dieser Plan besteht immer noch, nur eben ohne Iliah. Nur wenn wir dies schaffen, sind die Zwillinge sicher, da dann die magische Aura nicht mehr zu spüren wäre.“
„Und dann?“
„Nach zwanzig Jahren, so die Prophezeiung, wenn sich ihr magisches Potential entwickelt hat, hätten wir sie zurückgeholt, um gegen Anaruba zu kämpfen. Wir müssen beide nach Anagard schicken, da wir nicht wissen, welcher der Asranyias ist. Einer von beiden muss es sein.“
„Aber beide können es nicht sein?“
„Nein, in der Prophezeiung ist von einem Asranyias die Rede, nicht von zweien.“
Betretenes Schweigen breitete sich in dem Raum aus.
„Wie soll ich Euch noch trauen, Tanako?“, wendete sich Andero an den ehemaligen Kaufmann und brach so die angespannte Stille.
„Ihr habt uns ein halbes Jahr lang belogen. Ihr habt versprochen, dass Iliah nichts passieren wird. Sagt es mir, Tanako, sagt es mir!“, verlangte Andero zu wissen.
„Ich kann mich nur noch mal bei Euch entschuldigen. Dennoch habe ich Euch auch die Wahrheit gesagt. Mein Vater war Kaufmann und nach seinem Tod bin ich in seine Fußstapfen getreten. Erst später kam ich zur Kriegskunst.“
„Ihr habt doch den Brief von König Marek gesehen“, warf Sindor ein, der wieder zu sich gekommen war und sich das schmerzende Kinn rieb.
„Glaubt Ihr, dass Euer König Euch belügen würde? Glaubt Ihr das tatsächlich, Andero?“
Warnend hielt der Angesprochene einen Finger in Richtung Sindors.
„Ihr vergesst, Kundschafter, dass König Marek Tal’ en Essyndiell nicht mein König ist. Wir lebten nicht ohne Grund in Dara, obwohl Iliah ihre Familie in Tharul hatte.“
„Ihr seid, wart, mit einer Elbin verheiratet.“
„Bin verheiratet“, wies Andero den Kundschafter zurecht.
„Seid mit einer Elbin verheiratet, also untersteht Ihr dem Herrscher über alle Elben, König Marek Tal’ en Essyndiell!
„Ja, ja, typisch Elben. Hochnäsig, arrogant, gefühlskalt und allumfassende Wesen. Iliah war mit die einzige Ausnahme, der einzige Lichtblick in Eurem Volk, Sindor. Außerdem haben wir vor einem Priester geheiratet, eine menschliche Hochzeitszeremonie abgehalten.“
„Ja, das hättet ihr nicht tun dürfen. Dafür solltet ihr bestraft werden.“
„Bestraft?“
„Ruhe!“, donnerte es plötzlich aus der anderen Ecke des Raumes. Lernordo hatte zum ersten Mal seine Stimme erhoben. Alle drehten sich nach dem Sprecher um.
„Diese ganze Streiterei bringt doch nichts. Im Gegenteil, wir verschwenden hier wertvolle Zeit, während Perdur in Ruhe näher kommen kann. Ist doch egal, zu welchem Volk ihr gehört, Andero, es geht hier einzig um die Kinder.“ Eine kurze Pause, um durch zu atmen, dann sprach der Elbenkrieger weiter: „Wir müssen sie in Sicherheit bringen. Und zwar jetzt!“
Betretenes Schweigen breitete sich aus ob des Zeitverlusts wegen dummer Streitereien.
„Und was jetzt?“, äußert sich Andero nach einer Weile.
„Wir bestatten Iliah“, sagte Lernordo.
„Aber nach meines Volkes Ritualen“
„Nein, Andero, Iliah war eine Elbin und wird nach unseren Traditionen beigesetzt.“
„Wir bestatten sie auf dem hiesigen Friedhof. Für Rituale egal welchen Volkes fehlt uns jetzt leider die Zeit“, meldete sich erneut Lernordo zu Wort. An Andero gewandt drückte er sein Mitgefühl aus. „Es tut mir sehr leid.“ Dieser gab mit einem Nicken sein stilles Einverständnis und auch Tanako warf keinen Widerspruch ein.
Wenig später standen sie um Iliahs Grab. Jeder sprach kurz ein paar Worte, dann war diese kurze Zeremonie bereits beendet. Als die anderen vom Friedhof gegangen sind, stand Andero allein an dem Grab. Ein Kreuz, welches schnell angefertigt wurde, stand am Kopfende des Grabes. Andero schaute es an, las den Namen, der wegen der Dunkelheit kaum zu erkennen war. In Gedanken verabschiedete er sich von seiner Frau.
„Ich liebe dich, Iliah, und werde es immer tun“, flüsterte er in die Stille der Nacht hinein. Er drehte sich um, nahm die Fackel, die noch im Erdboden steckte und das Grab beleuchtete. Dann ging er, verließ schweren Herzens endgültig seine Frau.
Als er wieder im Gasthaus ankam, standen die Pferde gesattelt zur Abreise bereit. Die Eingangstür zum Gasthaus öffnete sich und Tanako trat mit zwei Bündeln auf den Armen von der Helligkeit des Hauses in die Nacht hinaus. Die beiden Bündel waren Anysa und Aris, Anderos Kinder.
„Ich habe sie so verschnürt, dass wir beide jeweils einen mit einer Tasche um den Körper hängen können.“ Tanako gab Andero den Jungen und hängte sich das Mädchen vorn um die Brust. Wie eine Art Rucksack, nur nicht auf den Rücken geschnallt, sondern nach vorn gelegt.
„Warte, Tanako“, rief Andero aus. Er kramte in seiner Tasche und förderte das Erbe seiner Frau heraus.
„Ist das nicht Iliahs Kette?“, fragte Tanako verwundert.
„Ja, da habt Ihr recht. An ihrem Sterbebett habe ich Iliah versprochen, Anysa die Kette zu geben.“ Er ging zu seiner Tochter und versuchte, ihr die Kette um zu legen.
„Das wird nicht halten“, versprach der Elb. „Lasst es bleiben und gebt ihr die Kette doch später.“ Andero schaute ihn grimmig an, reagierte aber nicht auf seine Worte und versuchte es weiter. Er wickelt die Kette mehrmals um den kleinen Hals, bis diese sicher saß, aber nicht zu eng war.
Tanako widmete sich anschließend wieder seinen Erläuterungen über das Reisen mit Babys.
„So kann ich die kleine Prinzessin ohne Probleme tragen und habe beide Hände frei. Die warme Decke schützt sie vor der Kälte.“
Andero machte es ihm gleich und hatte bald Aris ebenso auf seiner Brust festgeschnallt.
Doch dann fingen beide Kinder, wie auf ein geheimes Signal, an zu schreien.
„Hab ich was falsch gemacht?“, fragte Tanako erschrocken.
„Weiß ich auch nicht. Keine Ahnung, was die beiden haben.“
Die Amme, die im Türrahmen stand, meldete sich zu Wort: „Werte Herren. Wenn ich euch einen Rat geben dürfte. Ich glaube, die beiden haben Hunger. Sie brauchen Muttermilch.“
Völlig verdattert schauten die Männer die Amme an.
„Schaut mich nicht so entgeistert an. Die Kinder benötigen eindeutig Milch. Das ist wirklich so.“
Andero sah seinen Sohn an. „Was machen wir denn jetzt, kleiner Mann?“, fragte er das schreiende Baby in der Tasche vor ihm.
Wenig später hatten sie eine Lösung gefunden: Kuhmilch. Sertor gelang es, mit Hilfe seiner magischen Fähigkeiten die Milch so zu behandeln, dass sie für Anysa und Aris verträglich war. Die Amme besorgte ein paar Flaschen, damit ein kleiner Vorrat an behandelter Milch mitgenommen werden konnte. Gierig tranken die Säuglinge die Kuhmilch, gaben danach Ruhe und schlummerten an den Körpern der Männer friedlich ein.
Die Gefährten schwangen sich auf ihre Pferde und ritten nach einiger Verzögerung in die Nacht hinein. Sertor sorgte für ein wenig magisches Licht, das den Weg vor ihnen erhellte und Andero seine Orientierung wieder gewinnen ließ. Er führte sie Richtung Norden, entlang des Wyke zum Wykportal.
Sie kamen gut voran. Seine Gruppe, bestehend aus einem Dutzend Personen, war bereits ins Yanuzi Gebirge vorgedrungen. Perdur konnte einige Bauern dazu überreden, seine Fragen zu beantworten. Nun ja, manche hatten dies sicherlich nicht ganz freiwillig getan, aber er hatte so seine Überredungsmittel. Da redete jeder. So hat er in Erfahrung bringen können, dass es eine schwangere Elbin in einem Dorf namens Dara geben sollte, am Wyke im Yanuzi Gebirge. Das war sein Stichwort.
Er hatte in den letzten zwölf Tagen eine Strecke von über tausend Meilen zurückgelegt. Dass dies möglich war, hätte er vor knapp zwei Wochen nie für möglich gehalten. Als von seinem Herrn, Meistermagier Nordazu Galyris Holdro, der Befehl kam, zum Grenzwall zwischen der Mark und Adarak zu reisen, um eine schwangere Elbin zu finden und zu beseitigen, das alles in zwei Wochen, hatte er stark an der Ausführbarkeit des Auftrages wegen Zeitmangels gezweifelt. Doch Nordazu hatte noch ein As im Ärmel: die Zwischenwelt. Mit Hilfe eines enormen magischen Aufwandes, was den Meistermagier sichtlich schwächte, sorgte er für einen Riss im Gefüge des Raumes. Ein Spalt, nicht breiter als zwei nebeneinander gehende Männer, kaum zwei Meter hoch, klaffte im Hof von Schloss Wendrock, dem Herrschersitz von Anaruba, auf. Dahinter war nichts zu sehen, nur Schwärze. Dafür aber eine schreckliche Kälte, die nichts Gutes verhieß.
Und damit sollte er Recht behalten. Was Nordazu wohl versäumt hatte, ihm zu sagen, dass es in der Zwischenwelt schreckliche Monster gab, die nur auf Frischfleisch und Jagdbeute gewartet hatten, kam Perdur teuer zu stehen. Ein halbes Dutzend seiner besten Männer verlor er bei der Reise zwischen den Welten. In der Dunkelheit, nur erhellt durch das magische Licht von Magier Lacorto, stolperten sie durch diese eigenartige Welt, folgten einem Pfad, den er mehr erraten musste, als dass er ihn sah. Nordazu warnte sie davor, den Weg zu verlassen. Einige seiner Männer wurden trotzdem getötet, aus dem Hinterhalt. Riesige Dämonen, doppelt do groß wie ein Mann, mit messerscharfen Klauen, riesigen Reißzähnen. Ihre schmalen Körper ließen eine enorme Wendigkeit und Schnelligkeit zu. Nach dem ersten Überraschungsangriff waren sie vorsichtiger. Trotzdem fanden noch zwei seiner Männer den Tod.
Irgendwann kamen sie zu der Stelle, die den Ausgang symbolisieren sollte. Zwei Obelisken flankierten eine Gruppe kleiner Steine, im Kreis aufgestellt. Nun war Lacorto gefragt. Einen erneuten Riss in die Welt zu schlagen, brachte den Magier beinahe um. Er war nicht so stark wie der Meistermagier, konnte die Kräfte nicht so gut lenken. Doch es reichte, sie aus dieser Zwischenwelt zu bringen. Gerade rechtzeitig, denn schon griffen die Dämonen erneut an. Sie versuchten, ebenfalls aus der Zwischenwelt zu entkommen, jedoch ohne Erfolg. Ihre Existenz ist an die Zwischenwelt gebunden, sie konnten ihr nicht entkommen. Durch einen starken Sog wurden sie wieder in ihre Heimat gesogen, in die Dunkelheit, in das Nichts. Denn dort gab es außer diesem einen Weg rein gar nichts.
Perdur würde mit Meistermagier Nordazu reden müssen, sobald er diesen Auftrag erledigt hatte. Nun war ihm auch klar, warum Nordazu ihm soviel Männer mit gegeben hatte. Damals war er überzeugt, dass es zuviele Personen wären und sie so nur unnötig auffallen würden. Der Meistermagier wird sich gedacht haben, bei soviel Männern werden ein paar von ihnen den Dämonen entkommen.
Nachdem seine Gruppe, nun um sechs Männer weniger bestehend, zwei Stunden nach Betreten der Zwischenwelt diese wieder verlassen hatte, befanden sie sich an den Ausläufern des Indry Gebirges. Sie hatten gute achthundert Meilen von Ciag bis zur Nordgrenze der Mittelmark hinter sich gebracht. Sicherlich sehr erstaunlich und nützlich. Trotzdem würde er nicht noch einmal durch die Welt der ewigen Dunkelheit reisen, wenn er die Wahl hätte.
Die restlichen Meilen waren sie im scharfen Tempo geritten, bis ihre Pferde unter ihnen tot zusammenbrachen und sie sich neue geholt hatten. So verbrauchte jeder von seinen Männern drei bis vier Pferde. Die Tiere unbemerkt zu besorgen, stellte sich schwieriger heraus, als gedacht. Sie mussten die Pferde entweder stehlen oder die Besitzer zum Schweigen bringen. Wer auch immer in den letzten Tagen Perdurs Weg kreuzte, überlebte dies nicht.
Sein Blick richtete sich wieder gerade aus zwischen den Bäumen und dem Gebüsch hindurch. Er hatte sich gut versteckt, war für niemanden zu erkennen. Direkt vor ihm lag Dara, wo seine Zielperson sein sollte. Seit gut drei Stunden saß er schon in seinem Versteck und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Von hier aus konnte er das Dorf gut überschauen, hatte die einzige Straße, die durch Dara führt, genau im Blick. Dieses Dorf mitten im Yanuzi Gebirge war nicht sehr groß. Perdur zählte zwanzig Hütten, eine Schmiede, einen Kaufmannsladen, der aber jetzt geschlossen war. Etwas außerhalb befand sich der Friedhof, die dazu gehörige Kirche bildete die Mitte des Dorfes. Die Wohnhütten waren im guten Zustand, könnten aber einen neuen Anstrich gebrauchen. In Dara lebten sowohl Menschen als auch Elben miteinander. Das wunderte den Söldner aus Ciag, da Mensch und Elb in den seltensten Fällen zusammen wohnen. Sogar Zwerge hatte er schon gesehen. Ein eigenartiges Dorf, dieses Dara. Das Zusammenleben der verschiedensten Arten klappt offensichtlich sehr gut.
Bisher hatte er noch kein Glück, konnte keine schwangere Elbin ausfindig machen. Perdur erblickte rechts von ihm zwei Frauen elbischer Herkunft, die sich unterhielten. Die eine Elbin trug ein blaues Kleid, war hoch gewachsen und hatte einen Einkaufskorb in der Hand. Ihre Gesprächspartnerin hatte ein gelbes Kleid mit blauen Blumenstickereien an. Er schnappte den Namen Iliah auf und das Wort schwanger. Grund genug, sich langsam den beiden Elbinen zu nähern. Bald war er nah genug, dass er sie belauschen konnte.
„Weiß ich nicht“, sagte gerade die Elbin mit dem Einkaufskorb in der Hand. „Und bevor du weiterfragst, Kyra, ich weiß auch nicht, wo Tanako ist. Ich wollte mir heute die schöne Seide abholen, aber sein Laden ist zu, zum ersten Mal erlebe ich so was. Tja und Iliah.“
„Ja, in ihrem Zustand. Sie muss doch dieser Tage ihr Kind bekommen.“
„Tanako ist abgereist, das weiß ich ganz sicher“, meinte Kyra gedankenvoll. „Ich habe ihn vor ein paar Tagen gesehen und wollte ihn fragen, ob denn die Seide schon da wäre. Da sagte er mir, er müsse für eine Weile weg. Hat aber nichts weiter dazu gesagt, sondern ist mit seinen Gehilfen zu Iliah gegangen.“ Nachdenklich schürzte sie die Lippen. „Iliah und Andero sind weg, Tanako mit seinen Gehilfen ebenso. Ich würde sagen, die sind zusammen auf Reisen gegangen.“
„Aber zusammen. Du meinst...“
„Ja, so wird es sein. Das passt gut zusammen. Da waren noch ein paar Fremde gewesen, die sich mit Tanako unterhalten haben. Und...“
Mehr brauchte Perdur nicht zu hören. Nun wußte er, wen genau er suchte und auch wo er suchen musste. Offensichtlich wußte man von ihm und seinem Auftrag, so dass Iliah in Sicherheit gebracht wurde. Daher das Risiko, mit einer hochschwangeren Elbin zu reisen und deren Leben zu riskieren. Und wo wäre sie am sichersten, wenn nicht in der Hauptstadt der Elben, beschützt von Hunderten von Elbenkriegern. Kurz um, sie war auf dem Weg nach Tharul.
Er lächelte in sich hinein. Dass sie auf der Flucht war, erleichterte sogar sein Vorhaben. Hier in Dara wäre es nicht so einfach gewesen, sie unbemerkt zu töten, doch draußen in der Wildnis war dies ein einfacheres Unterfangen. Perdur drehte sich langsam um und schlich genauso leise wieder zurück, wie er gekommen war. Nach ein paar Minuten war er zurück bei seinen Söldnern, die seit geraumer Zeit auf ihn warteten. Die Pferde hatten sie eine Meile nordwestlich von ihrem jetzigen Standpunkt an Bäumen fest gebunden. Als Perdur erschien, standen die Männer sofort auf und kamen auf ihn zu. Als er sich völlig sicher war, die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben, erzählte er knapp, was sich zugetragen hatte.
„Die Zielperson heißt Iliah, ist eine hochschwangere Elbin, die kurz vor der Niederkunft steht. Sie ist in Begleitung von mindestens fünf weiteren Personen, vor kurzem abgereist Richtung Norden nach Tharul.“
Perdur Kondros schaute seine Söldner an. Diese nickten als Zeichen, dass sie verstanden hatten.
„Woher haben die von uns erfahren?“, fragte ein Mann, etwas kleiner als Perdur, grimmig schauend mit finsterem Gesicht.
„Die Elben sind nicht dumm. Ich habe damit gerechnet, sie nicht mehr hier anzutreffen. Denn Tanako ist bei ihr.“
„Tanako, wer ist das?“, fragte derselbe Mann.
Perdur schaute ihn eindringlich an, dann richtete sich sein Blick in die Natur, schien ins Leere zu gehen.
„Tanako Van’ Lorindo Wa, Elbenkrieger aus Tharul, engster Vertrauter des Elbenkönigs. Ich kenne ihn gut. Wir standen uns bereits mehrmals gegenüber und jedes Mal konnte ich ihn nicht töten. Wann immer er aufgetaucht ist, hat er meine Pläne durchkreuzt.“ Perdur ballte seine Hand zur Faust und hielt sie drohend vor sein Gesicht. „Aber dieses mal nicht. Ha, dieses mal werde ich ihn endlich umbringen.“
Er schaute seine Männer an. „Die Jagd hat begonnen!“
Perdur verfolgte die Sonnenfinsternis nüchtern. Für ihn bedeutete dies nur, dass die Elbin in diesen Minuten ihr Kind bekam, wenn es sich hierbei wirklich um den Asranyias handeln sollte. Damit änderte sich sein Plan nur geringfügig. Jetzt war nicht mehr die Elbin sein Ziel, sondern das Baby. Denn sein Auftrag lautete, den Asranyias zu beseitigen. Als er ungeboren war, ging dies nur, wenn seine Mutter sterben würde. Nun war dies nicht mehr notwendig.
„Er ist geboren, der Asranyias“, sagte plötzlich Lacorto Loprades, der Magier aus dem Norden Meridors. Perdur schaute ihn fragend an.
„Woher wollt Ihr das so genau wissen, Magier?“
„In der Prophezeiung heißt es, dass die Geburt des Asranyias in der Magie zu spüren sein wird.“ Lacorto schwieg eine Weile, lauschte mit geschlossenen Augen in das Gefüge der Magie hinein.
„Ja, es ist deutlich zu spüren. Eine Erschütterung geht durch die Magie. Der Asranyias ist geboren.“
„Könnt Ihr auch spüren, wo das Kind sich befindet?“
„Ja, Perdur, ich denke schon. Mit den richtigen Mitteln und einer starken magischen Formel sollte es mir gelingen, die Richtung zu bestimmen und uns hinzuführen.“
„Und warum habt Ihr mir das nicht eher gesagt, Magier?“, fragte Perdur zornig.
„Ihr habt nicht gefragt“, antwortete dieser gelassen. Perdur schaute den Magier verständnislos an und schüttelt den Kopf.
„Könnt Ihr mir vielleicht auch sagen, wie viel Meilen Vorsprung sie haben?“
„Sicher, aber Ihr müsst eine Weile warten.“ Perdur gab mit einem Nicken sein Einverständnis und der Magier machte sich sogleich an die Arbeit.
Er ging in den Wald und holte sich die passenden Kräuter. Dann legte er sie vor sich hin und begann, sie zu zerkleinern und mit Sand zu vermischen. Der Magier nahm einen Stock und zeichnete einen Kreis in den sandigen Boden. Im Inneren des Kreises platzierte er die zermahlenden Kräuter und zeichnete mit ihnen ein paar Symbole. Anschließend stellte er sich in die Mitte des Kreises, schloss die Augen und murmelte ein paar magische Formeln. Unverständliche Worte für jeden, der den Umgang mit Magie nicht kannte. Nach ein paar Minuten leuchtete ein rotes Licht auf, umgab Lacorto. So blieb er über eine Stunde stehen, rührte sich nicht von der Stelle, sprach nur immer wieder dieselben Worte, so dass es sich wie eine Art Gesang anhörte. Er hob die Arme, öffnete seine Handflächen. Eine kleine Kugel aus rotem Licht erschien auf seinen Händen. Diese Kugel verfestigte sich, bis sie schwebend vor seinem Gesicht anhielt. Der Magier öffnete die Augen und schaute seine Kreation lächelnd an. Das rote Licht, das ihn umgeben hatte, war nun verschwunden, die Kräuter im Kreis zu Asche verbrannt, der Kreis nicht mehr sichtbar. Die rote Kugel, nicht größer als eine Walnuss, kehrte in seine Hand zurück und er umschloss sie.
„Das Kind ist nicht weiter als hundert Meilen von hier entfernt und zwar in dieser Richtung.“ Er deutete mit der anderen Hand in östliche Richtung. „Wird ja auch Zeit, dass Ihr sie findet. Über eine Stunde hat Eure Zauberei gedauert. Da wäre ich mit meinem Pferd bereits sehr weit gewesen.“ Perdur verabscheute Magie. Es war etwas für ihn nicht greifbares, er konnte sie nicht kontrollieren.
„Seid ihr sicher?“, fragte Perdur den Magier. „Tharul liegt nördlich von hier.“
Lacorto schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nördlich. Sie sind im Osten, das weiß ich genau.“
„Sagt Euch das Eure Kugel?“ Damit deutete der Söldner auf die Kugel in Lacortos geballte Hand.
„Ja, das tut sie in der Tat. Sehr wirkungsvoll.“ Mehr sagte er nicht.
Perdur zeigte mit einem Brummen seinen Unmut. In der Zeit, die der Magier für diese Kugel gebraucht hatte, hätte ich dieses Balg bereits gefunden. Wozu ist Magie eigentlich gut, wenn ich alles selbst machen muss, denkt sich der Söldner und schaute Lacorto aus den Augenwinkeln grimmig an. Magie war nicht für ihn, er war ein Mann der Tat, der Kontrolle und Logik. Und bei Magie hatte er nichts Derartiges. Das bereitete ihm Unbehagen. Nein, mit Magie würde er sich nie anfreunden können und einem Magier würde er nie vertrauen können.
Perdur zuckte die Schultern und drehte sich zu den anderen Männern um.
„Auf, los mit euch“, forderte er sie auf. „Unser Ziel ist ganz nah.“