Assuan

MelP

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Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. In meinem Magen schwelten Übelkeit und Krämpfe, die sich mal abwechselten und mal gemeinschaftlich auf den Plan traten. Meine Zähne waren fest aufeinander gebissen und die Hände so ineinander verschränkt, dass die Adern sich bläulich von der blassen Haut abhoben. Um nach außen Gelassenheit zu demonstrieren, gähnte ich in regelmäßigen Abständen.

Nicht auf das TV-Programm und nicht auf das Musikprogramm über Kopfhörer konnte ich mich konzentrieren - meine Gedanken rasten. In meinem Kopf lief ein Zwiegespräch ab, in dem sich die streitenden Parteien in unglaublicher Geschwindigkeit Pro und Contra meines Plans um die Ohren schlugen.

Beim Landeanflug auf Assuan fingen die Stimmen an zu schreien. Inzwischen wurden die Argumente, die sie wie den Ball bei einem Tennismatch hin- und herschleuderten, immer kindlicher und unsachlicher. Meine Fingernägel hatte schon kleine blaue Halbmonde in den Handinnenflächen hinterlassen.

Die Contra-Partei in meinem Kopf schrie gerade: "Und was ist, wenn Sie Heimweh bekommt?". Die taten ja gerade so, als ob ich gar nicht da war. Das Gespräch hatte sich ohne mein Zutun verselbständigt. Die Pro-Partei brüllte zurück: "Feigling! Du traust ihr aber auch gar nichts zu!"

Nach der Landung nahm mein Körper völlig automatisch das Handgepäck aus dem Stauraum über den Sitzen und reihte sich zwischen Touristen und Geschäftsreisenden ein, um zum Ausstieg zu gelangen. Ich war wie ferngesteuert und lauschte nur noch auf den Streit in meinem Hirn. Die Lautstärke da drin war inzwischen auch so hoch, dass ich zu nichts anderem mehr in der Lage gewesen wäre.

Die Übelkeit steigerte sich auf ein kaum erträgliches Maß, die Stimmen zeterten hysterisch. Die Contra-Partei warnte vorm Aussteigen - das Flugzeug sei schließlich der letzte sichere Platz - da draußen nur Gefahren!!! Die Pro-Stimme lachte laut auf und erklärte, dass doch den Mutigen die Welt gehöre und dass selbst alte Leute Urlaub in Ägypten machen. Contra schrie, dass dies ja schließlich auch kein Urlaub sei. Eine fünfjährige Versetzung wäre eine ganz andere Situation!

Sturzbachartig brach mit unter den Armen Schweiß aus, mein Gehör war wie von Watte gedämpft und meine Knie fühlten sich an wie ausgelaugt. Ich musste raus aus dem engen Flieger, aber die Welt da draußen wollte ich auch nicht betreten. Ich hasste mich für die Entscheidung, in Assuan zu arbeiten. Hatte ich das jemals wirklich gewollt? "Hörst Du's?" schrie Contra triumphierend. "Nie gewollt hat sie es! Nur vom Boss überredet. Wer sich in Gefahr begibt, wird darin umkommen! Das weiß doch jeder." Jetzt fingen die aber an zu übertreiben. Allerdings fiel mir auf, dass Pro ein wenig ruhig geworden war.

Meine Schneidezähne verkeilten sich in meiner Unterlippe, die Schlange der Reisenden schob sich langsam auf den Ausgang zu. Die Stewardessen verzogen ihre pinkfarben bemalten Münder zu mehr oder weniger gut gelungenen Lächlern. Mein gequälter Versuch, zurückzulächeln gelang allerdings sicher noch schlechter. Mir schwindelte und die Stimmen brüllten sich immer noch so laut an, dass ich meinte die wirkliche Welt um mich herum nicht mehr wahrnehmen zu können. Ich verstand nicht, was die grinsenden Stewardessen sagten. Ich nickte ihnen einfach zu. Pro wollte gerade, wieder etwas mutiger geworden, losbrüllen, als ich die Gangway betrat.

Hitze und Dunkelheit schlugen mir entgegen. Ich blieb kurz stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Pro und Contra waren völlig verstummt. Die heiße, trockene Luft umfächelte mein Gesicht und umfing meinen Körper wie eine warme Decke. Der Knoten in meinem Magen löste sich in Sekundenschnelle auf, die krampfartig in die Handflächen gekrallten Finger entspannten sich und mein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln. Nach dem Öffnen der Augen und einem zweiten Atemzug fing ich an, die Gangway hinunterzutappen. Meine Knie wurden mit jedem Schritt kräftiger. Pro und Contra schwiegen noch immer. Die samtig-heiße Nachtluft duftete nach Blumen und Erde. Der Duft kam mir so bekannt vor, als hätte ich eine Ewigkeit nichts anderes gerochen. Ich war zu Hause...
 



 
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