Asylum, Akt I, Szene III

Siam

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Luc sitzt im Essenssaal. Es herrscht gedrückte Stimmung, möglicherweise, weil eine Vielzahl der Patienten unter Depressionen leidet.

Vielleicht kommt es ihm auch nur so vor, weil er gerade seine Therapiestunde hinter sich hat.

Er hasst es, über seine Probleme zu sprechen und er hasst es, wenn andere Menschen denken, sie wüssten mehr über seine Probleme als er selbst.

Luc starrt auf seinen Teller. Er wird sich wohl daran gewöhnen müssen. Genauso wie an die labberigen Fischstäbchen.

Er bemerkt gar nicht, wie Bence sich neben ihn setzt, ein Kunststück, das ihm im Nachhinein unmöglich erscheint, denn als er aufblickt, ist der seltsame Kauz schon mitten im schönsten Redefluss.

„…Wette, du wurdest schon über die Patienten hier aufgeklärt?“

Luc umklammert die Gabel fester. Woher nur kommt dieser Drang, sie Bence ins Auge zu rammen, immer wenn der zu einem neuen Satz ansetzt? Für gewöhnlich hat er keine Gewaltfantasien. Wenigstens etwas, woran er nicht leidet. Bis jetzt, jedenfalls. „Ja. Der zuständige Arzt war gründlich.“

„Ah, aber sie lassen immer die Hälfte weg in der Sorge, sich politisch unkorrekt auszudrücken. Schau… das drüben sind die Alkis. Rotten sich immer zusammen. Es gibt nichts Kaputteres als die, außer vielleicht die Junkies, aber davon gibt’s hier wenige. Hatte selbst mal Probleme mit Drogen, wie das eben so ist, man wird unvorsichtig, wenn man gerade ein echtes Hoch hat… Naja, im Anfang dachten alle immer, klar, Sucht, da ist man halt down wenn das Zeug zu wirken aufhört… Egal. Dann haben wir ein paar Magersüchtige, nicht viele, die meisten sind in der Offenen… Du erkennst sie sicher…“ Bence deutet in Richtung einer jungen Frau, die vor ihrem Teller sitzt wie Luc früher vor seinen Mathehausaufgaben, „Gibt nicht viel, was gerissener ist als die, wenn’s ans Wiegen geht. Trinken literweise Wasser, essen Steine, wenn sie welche kriegen…“ Bence unterbricht sich einen Moment, um drei Fischstäbchen in sich hineinzuschlingen. Luc hat noch nie jemanden gesehen, der so schnell essen kann.

Schließlich wendet er sich auch wieder seinem Teller zu, zu dem Schluss gekommen, dass das wohl die nützlichste Tätigkeit ist, die man ausführen kann, wenn einem gerade ein Ohr abgekaut wird.

„Dann gibt’s die Autisten… Haben kaum Chancen, hier rauszukommen. Die sind hier nur, um einen möglichst geregelten Tagesablauf zu haben, weil sie sonst krepieren würden. Bei manchen gibt’s Besserung, aber selten soweit, dass sie ins echte Leben draußen entlassen werden können. Sind aber einige echt geniale Köpfe dabei…“

Für einen kurzen Augenblick glaubt Luc, an einer nichtexistenten Gräte im Fischstäbchen zu ersticken. „Ins echte Leben draußen“. Viel zu klar wird ihm auf einmal, wo er sich hier überhaupt befindet. Dass er, obwohl „drinnen“, doch außerhalb von allem steht, das ihm wichtig ist. Sein Job. Das Reisen. Die Freiheit. Mit einem Schlag verliert Luc jeden Hunger, den er nur ansatzweise besessen hat.

Bence unterdessen plappert munter weiter. „…Klar, und die Schizos, die Stimmen hören und so weiter. Ist manchmal echt gruselig, wenn du mit einem von denen redest und der denkt plötzlich, du hättest was gesagt, was du gar nicht gesagt hast. Und wenn das, was du nicht gesagt hast, dann auch noch was Unfreundliches über seine Mutter war, dann renn, Baby, renn.“ Luc stützt den Kopf in die Hände und versucht krampfhaft, sich mit der neuen Situation anzufreunden. Oder zumindest damit zurechtzukommen, dass anstelle seines wohlverdienten Mittagskaffees nun ein unaufhörlich redender Manisch-Depressiver getreten ist und so schnell wohl nicht mehr weggehen wird.

„Ich hatte das Problem mal, konnte danach keinen einzigen Kurs mehr besuchen, in dem er auch war, weil er mir direkt an die Gurgel wäre… Apropos! Welche willst du belegen?“

„Ich...“ Wenn Luc ehrlich ist, gehört die Kurswahl zu den so ziemlich letzten Dingen, an die er einen Gedanken verschwenden würde. Ist das, was die Ärzte therapeutische Maßnahme nennen, Lucs Meinung nach doch nur ein anderer Ausdruck für Beschäftigungstherapie. Damit man das bisschen Verstand, welches man noch besitzt, nicht auch noch an die Langweile verliert.

Natürlich wird er das nie laut preisgeben. Besteht doch die Gefahr, dass sein Gegenüber ihn von den Kursen und ihrer Wirkung überzeugen will, sämtliche der Angebote ins Kleinste filetiert und ihm auftischt. Zu seinem Leidwesen kann Luc gar nicht so schnell gucken (hören?) wie seine schlimmsten Visionen in die Tat umgesetzt werden.

„Also, vom Häkeln würde ich dir abraten, da sind die ganzen depressiven Mittdreißiger Hausfrauen oder abgestürzten Karrieregirls, die sich jetzt als Hausfrauen versuchen wollen… Wenn man da nur reinkommt, wie die sich mit diesen gedämpften, müden, hoffnungslosen Stimmen unterhalten, das ist der reinste Albtraum! Also, ich meine, man braucht schon eine sehr stabile, gute Stimmung, um da… und du siehst mir eher so aus, als könntest du ein bisschen Aufmunterung vertragen, Sport oder so…“

„Mit anderen Worten, ich bin ein kränkliches Etwas, das etwas mehr Muskeln vertragen könnte?“ Eher würde sich Luc irgendwelche wichtigen Gliedmaßen abtrennen, als jemals einer Sterbensseele zu erzählen, dass sein Therapeut schon ähnliche Töne angeschlagen hat. Gesunder Geist im gesunden Körper. Von wegen.

„Gott bewahre, nein! Du siehst nicht schwach aus, ich dachte nur, vielleicht macht Sport dich ein bisschen weniger steif und trocken und mies gelaunt als du es jetzt bist! Aber wenn das nicht dein Ding ist… Hätten wir da noch… Zeichenkurs – da bin ich drin -, Töpferkurs…
Naja, jedem das Seine, nicht wahr… Dann gibt es noch den Musikkurs“, Bences Grinsen verbreitert sich, eine Sache, die Luc eigentlich für unmöglich gehalten hat, „da bin ich mal rausgeflogen, nachdem ich ein bisschen zu laut auf die Trommeln eingeschlagen habe… Da sind sogar einige aus dem Raum geflüchtet… Ach ja, und Lyrik.“

Es ist das erste Wort, das Luc wirklich aufhorchen lässt. Ohne das er selbst es bemerkt, lockert sich seine ganze Haltung, sitzt er nicht mehr wie ein Stock auf seinem Stuhl, sondern fast schon... normal.

„Lyrik?“

„Ja... also, da sind die ganzen kleinen Hoffmanns und Poes drin... wenn du verstehst, was ich meine. Alles kleine Gruftis, wenn du mich fragst. Aber wer‘s mag. 'N paar von den Sachen sollen draußen sogar schon Beachtung gefunden haben. Schimpft sich dann Leidensbericht, verkauft sich millionen Mal, die Autoren scheffeln und scheffeln, kommen mit dem Erfolg nicht klar und landen dann wieder hier. Ironie des Schicksals.“

Luc schaltet geistig komplett ab. Zumindest startet er den Versuch. Zumal Bences Stimme doch wirklich ziemlich laut ist.

Lyrik. Schreiben. Der berühmte Silberstreif am Horizont. Etwas das zur Abwechslung wirklich gut klingt, Luc mit seinem alten Leben verbindet.

Und während Bence weiter seine Ohren malträtiert, beschließt Luc, so ganz im Stillen, doch mal einen Blick auf die Kursliste zu werfen.
 

visco

Mitglied
Hallo Siam

und danke für die Einblicke in die Gedankenwelt eines manisch Depressiven, wie du sie hier meines Erachtens sehr anschaulich über mehrere Szenen (bislang III bis VI) vermittelst und dabei zu einem Sprachstil findest, der Interesse für die Personen weckt, ohne Mitleid zu erregen.
Der durchgängig lakonische Tonfall passt zum Krankheitsbild, ebenso zur Atmosphäre und spiegelt glaubhaft die Stimmung des Protagonisten wider.
Die spritzigen, glaubwürdigen Dialoge mit "Bence", der dadurch an Tiefe gewinnt und vorstellbar wird, und die wohldosierten humoresken Einlagen sorgen für die nötige Würzung, um den Leser bei der Stange zu halten.
An einigen Formulierungen finde ich ganz besonderen Gefallen.

Hier und da haben sich Flüchtigkeitsfehlerchen eingeschlichen, die dir beim Durchforsten des Texts sicher selber ins Auge springen.


Hier nur ein paar subjektive Anmerkungen und Vorschläge:
Er hasst es, über seine Probleme zu sprechen[red],[/red] und er hasst es, wenn andere Menschen [red]dachten[/red] [strike]denken[/strike], sie wüssten mehr [red]dar[/red]über [strike]seine Probleme[/strike] als er selbst.

Hatte selbst mal Probleme mit Drogen,
Dieses Geständnis aus dem Mund eines ehemaligen Abhängigen klingt für mich nicht sehr überzeugend. Den Ausschlag geben bei mir die Worte "Probleme" und "Drogen". Erwarten würden ich eine spezifischere Angabe, zB "Blue Moon" oder eine verharmlosende Verniedlichung wie "Nasenpuder". Statt "Problem" (Geständnis) hielte ich "Schwäche für" (Rechtfertigung) glaubhafter. Also zB:
Hatte auch mal eine Schwäche für Nasenpuder,

Zu seinem Leidwesen kann Luc gar nicht so schnell gucken [strike](hören?)[/strike] wie seine schlimmsten Visionen in die Tat umgesetzt werden.

"Mit anderen Worten, ich bin ein kränkliches Etwas, das etwas mehr Muskeln vertragen könnte?"
Nach meinem Empfinden würde dieser Satz an sich selbst gerichtet, denn als wörtliche Rede, noch etwas stärker wirken.
Also zB:
Mit anderen Worten, ich bin ein kränkliches Etwas, das etwas mehr Muskeln vertragen konnte.

Eher würde [strike]sich [/strike]Luc [red]sich [/red]irgendwelche wichtigen Gliedmaßen abtrennen
So herum liest es sich mE flüssiger.


Schimpft sich dann Leidensbericht, [blue]findet draußen reißenden Absatz[/blue] [strike]verkauft sich millionen Mal[/strike],
Nur ein Vorschlag.


Weiterhin frohes Schaffen wünscht
Viktoria
 

visco

Mitglied
tschacka

Hallo Siam,

ai verbibscht, ich hätte auch früher merken können, dass es einen Klappentext und weitere Szenen gibt, nein, das hätte ich wissen müssen.

Aus Unkenntnis des Anfangs deiner Erzählung hatte ich in meinem ersten Kommentar deinen Protagonisten mit Burnout-Syndrom für einen Manisch Depressiven gehalten. Das war eben mein Eindruck gewesen. Mein Fehler.

Wie auch immer, zwischenzeitlich ist mir ja ein Licht aufgegangen, und nun bin ich dabei, dein Werk von Beginn an zu lesen.

Mit gemischten Gefühlen übrigens. Einerseits halte ich es für gut geschrieben, also der Schreibstil sagt mir sehr zu, doch je weiter ich lese, desto mehr bekomme ich den Eindruck, selber Patientin (gewesen) zu sein. Es wirkt so authentisch, dass es schon abfärbt.

Grundsätzlich aber gibt's von mir ein großes Kompliment. Respekt.

Ach so, die in Klammern gesetzten Gedanken kannst du wegen mir getrost weglassen. Darin steht nichts, auf das man nicht auch so schließen könnte, dafür bleibe ich beim Lesen jedesmal daran hängen und frage mich, ob das jetzt wirklich zum Text dazugehört oder in dieser Fassung vom Autor nur angeboten wird.

Gruß,
Viktoria
 

Siam

Mitglied
Hallo Viktoria,

Vielen Dank für Deine Antwort, es freut mich, dass die Geschichte anscheinend bisher authentisch wirkt!

Allerdings bin ich mir bei einem Deiner Verbesserungsvorschläge nicht ganz sicher: Warum schreibst Du hier "denken" in der Vergangenheit?

Er hasst es, über seine Probleme zu sprechen, und er hasst es, wenn andere Menschen dachten [strike]denken[/strike], sie wüssten mehr darüber als er selbst.
Der Rest wurde schon bearbeitet und ich bemühe mich, in den nächsten Teilen mit Klammern zu sparen. Nochmals, vielen Dank fürs darauf aufmerksam Machen!

Gruß,
Siam
 

visco

Mitglied
Hallo Siam,

cognitus interruptus?

Du hast Recht. Korrekt ist wohl doch die Gegenwartsform. Komisch irgendwie, dass ich mich da hab irritieren lassen. Vielleicht liegt's an der Satzkonstruktion?

Er hasst es, über seine Probleme zu sprechen, und er hasst es, wenn andere Menschen denken, sie wüssten mehr darüber als er selbst.
Frohes Schaffen weiterhin.

Viktoria
 



 
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