Asynchrone Rekonstruktion des emergenten Seins als Bewusstsein

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trivial

Mitglied
Sündenfall

Sie verbrannten und schrien:
„Nimm es weg von uns –
erlöse uns!“

Aber sie waren der Fall, die Sünde –
das Zeugnis selbst.
Sie waren alles, was sie sahen:
Schuldiger und Erlösung.

Was gegeben ward,
kann nicht mehr genommen werden.

Wie in jedem Anfang
das Echo seines Endes liegt.

Erlösung wäre Auslöschung.
Sehen ist Vergehen.
Im Schmecken des Apfels
liegt die ganze Welt.

Jeder Biss ein Spiegel,
jeder Geschmack ein Bericht,
den ihr lest und versteht.

Sie fielen auf die Knie –
nicht um zu beten,
sondern um zu sehen,
wie sie beteten.

Ihr Atem war der Klang,
den sie hinter sich hörten;
ihr Herz, ein Fremder,
der ihnen den Weg weist.


Endlich verstanden sie,
was verlorenging:
sie sind der Fall, der Verlust,
niemals Aufprall, niemals Anfang.​
 

trivial

Mitglied
Es ist sonst nicht meine Art, meine Texte zu kommentieren.
Doch schien mir hier die Umsetzung der These selbst zum Ausdruck gekommen:
Dass der Inhalt erst nachträglich erkennbar wird – verborgen im Weiß auf Weiß.
Der letzte Absatz sollte darauf verweisen, wie Erkenntnis erst im Rückblick aufscheint.
Vielleicht aber ist das, was mir so wesentlich erschien, nur allzu schlicht:
Dass der Tod dem bewussten Sein immer entzogen bleibt,
dass es sich nur als Differenz zum Nichtsein erfährt – immer ein Nachher.
Es muss seine Vergänglichkeit antizipieren:
Der Tod als ontologische Hintergrundstrahlung
wirft unser Dasein als Schatten der Wesenheit.
 
Zuletzt bearbeitet:

Frodomir

Mitglied
Hallo trivial,

eine interessante Idee, die du hier verfolgt hast: Den Sündenfall auch grafisch darzustellen. Dabei verbinden sich in deinem Gedicht mehrere Motive, vor allem der Fall Luzifers aus dem Himmel und die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies.

Die Idee des Gedichtes liegt meiner Lesart nach darin, dass diese im Allgemeinen als Urproblem des christlichen Menschen aufgefassten Motive hier eine Umwertung erfahren: Sie sollen nicht mehr als Übel und Abfall vom Göttlichen betrachtet werden, sondern als inhärent menschlich, banaler ausgedrückt: als normal.

Der Sündenfall ist damit nichts mehr, das den Menschen erlösungsbedürftig macht, sondern es ist sein ontologischer Normalzustand auf dieser Welt.
Insofern ist die letzte Strophe des Gedichtes so zu verstehen, dass der Mensch in seinem Streben nach Erlösung vom Bösen irrt. Denn hier gibt es kein Böses mehr, weil es auch kein Gutes gibt. Es gibt nur das Seiende, dass sich ohne Anfang und Ende fortsetzt.

Ein in meinen Augen sehr intelligentes und weises Gedicht, bei dem ich mir aber nicht sicher bin, ob ich es in seiner Tiefe schon ganz erfasst habe.

Gern gelesen!

Viele Grüße
Frodomir
 

trivial

Mitglied
Lieber Frodomir,

entschuldige die späte Antwort – ich liege seit zwei Wochen mit einer Erkältung flach.
Aber ich wollte dir noch für deine netten Worte und Lesart danken. Gerne möchte ich noch etwas ergänzen – ich hoffe, es wird nicht zu verworren.
Einerseits gefiel mir deine sehr religiöse Sicht, andererseits wollte ich hervorheben, dass ich hoffe, der Text besitzt eine inhärente Spiritualität und dass er die christliche Symbolik nur als Trägermaterial nutzt.

Wenn man der Prämisse des Titels folgen mag – den ich absichtlich technisch gehalten habe, um das symbolische Motiv des Textes in einen geeigneten Rahmen zu setzen –, dann ist Wahrnehmung immer schon verspätet. Die Aufhebung dieser Differenz würde die Struktur des Bewusstseins selbst vernichten.
Bewusstsein, das asynchron ist, kann sich niemals im Moment seines Entstehens erfahren – es ist ein Fall ohne Aufprall.

Der „Sündenfall“ ist die symbolische Übersetzung dieser Asynchronie:
Das Bewusstsein erlebt sein eigenes Entstehen als „Verlust“, weil es das Sein nur nachträglich erfassen kann.

Religion ist mir also nur insofern von Bedeutung, als wir, wenn wir sie auflösen, uns selbst auflösen.
Dennoch möchte ich hervorheben, dass eine asynchrone Rekonstruktion des Seins als Bewusstsein eine strukturelle, ontologische Demut in sich trägt – darin, dass ihr die eigene Grenze und damit etwas Transzendentales immanent bleibt, im Gegensatz zu der Hybris, die aus einem selbsterklärenden Emergenzmodell notwendig hervorgeht.

Bewusstsein ist der Schattenwurf des Subjekts durch die Zeit,
unfähig, die Quelle zu erkennen, die es hervorbrachte.
Es ist die Relation von Sein und Zeit.

Der Tod ist der Ursprung der Zeit –
was in der Zeit erscheint, ist nur das Nachbild seines Verschwindens.
Zeit entsteht aus Sterblichkeit.

Entweder nimmt das Bewusstsein diesen Zustand an,
oder es will selbst das Licht, den Ursprung sein –
doch kann es dann kein Schatten mehr sein.

Wenn das Bewusstsein sich selbst vergöttlicht,
muss es die Religion töten –
doch indem es das tut, zerstört es den Spiegel,
in dem es sich erkennt.

Darin liegt der ganze Betrug der unsterblichen Seele:
dass der Schatten verschwindet, wenn das Licht erlischt.
Er stirbt nicht –
er vergeht mit dem Ende seiner Bedingung.

So verhält es sich mit dem Bewusstsein:
Es endet nicht durch den Tod,
sondern durch die Abwesenheit der Zeit.


Vielleicht doch wieder nur wildes geschwurbel, oder zuviel Schmerzmittel.
Jedenfalls danke für das Lesen.

Liebe Grüße
Rufus
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Rufus,

vielen Dank für deine Antwort. Ich hoffe, dir geht es mittlerweile schon besser.
Einerseits gefiel mir deine sehr religiöse Sicht, andererseits wollte ich hervorheben, dass ich hoffe, der Text besitzt eine inhärente Spiritualität und dass er die christliche Symbolik nur als Trägermaterial nutzt.
Ja, so habe ich das Gedicht auch verstanden. Es ist in diesen Sphären nur sehr schwer, noch klare Worte zu finden, aber du hast dies hier geschafft.

Wenn man der Prämisse des Titels folgen mag – den ich absichtlich technisch gehalten habe, um das symbolische Motiv des Textes in einen geeigneten Rahmen zu setzen –, dann ist Wahrnehmung immer schon verspätet. Die Aufhebung dieser Differenz würde die Struktur des Bewusstseins selbst vernichten.
Bewusstsein, das asynchron ist, kann sich niemals im Moment seines Entstehens erfahren – es ist ein Fall ohne Aufprall.

Der „Sündenfall“ ist die symbolische Übersetzung dieser Asynchronie:
Das Bewusstsein erlebt sein eigenes Entstehen als „Verlust“, weil es das Sein nur nachträglich erfassen kann.
Ich verstehe. Doch denkt man deine Beobachtung bis zum Ende, dann stellen sich automatisch wichtige Fragen. Eine der wichtigsten wäre in diesem Zusammenhang die nach der Kultur. Versteht man Kultur als versuchte Manifestation von Bewusstsein und legt den Wert des Seienden dagegen höher an, dann hätte man Lust, augenblicklich den Stift beiseite zu legen, um nicht im Nachträglichen das Leben zu verpassen.

Religion ist mir also nur insofern von Bedeutung, als wir, wenn wir sie auflösen, uns selbst auflösen.
Aber wenn ich dich richtig verstehe, würden wir mit ihrer Negation doch "nur" Bewusstsein auflösen, nicht aber das Sein?

Aber:

Der Tod ist der Ursprung der Zeit
Das, lieber Rufus, ist einer - und das meine ich ohne Übertreibung (zu der ich gewiss manchmal neige :cool:) - der besten, klügsten und tiefsinnigsten Sätze, die ich jemals gelesen habe. Von meinem alten Zitatebuch löst sich leider der Einband und ich möchte ein neues beginnen - und dieses Zitat soll das erste darin sein. Ich bin sprachlos, so unglaublich gut ist das!

Liebe Grüße
Frodomir
 

petrasmiles

Mitglied
Das, lieber Rufus, ist einer - und das meine ich ohne Übertreibung (zu der ich gewiss manchmal neige :cool:) - der besten, klügsten und tiefsinnigsten Sätze, die ich jemals gelesen habe. Von meinem alten Zitatebuch löst sich leider der Einband und ich möchte ein neues beginnen - und dieses Zitat soll das erste darin sein. Ich bin sprachlos, so unglaublich gut ist das!

Liebe Grüße
Frodomir
Das sehe ich ganz genau so!

Liebe Grüße
Petra
 

wirena

Mitglied
Denn hier gibt es kein Böses mehr, weil es auch kein Gutes gibt. Es gibt nur das Seiende, dass sich ohne Anfang und Ende fortsetzt.
....dieses Erleben kenne ich ebenfalls -

Sünde ist m.E. Schuldzuweisung - Machtausübung -

...eigens Bedauern, untröstlichsein scheint mir eher angebracht - doch sich selbst zu verzeihen ist nicht einfach - hat m.M.n. etwas mit Akzeptanz zu tun

LG wirena
 

wirena

Mitglied
Rufus schrieb:

Bewusstsein ist der Schattenwurf des Subjekts durch die Zeit,
unfähig, die Quelle zu erkennen, die es hervorbrachte.
Es ist die Relation von Sein und Zeit.

Der Tod ist der Ursprung der Zeit –
was in der Zeit erscheint, ist nur das Nachbild seines Verschwindens.
Zeit entsteht aus Sterblichkeit.

Entweder nimmt das Bewusstsein diesen Zustand an,
oder es will selbst das Licht, den Ursprung sein –
doch kann es dann kein Schatten mehr sein.

Wenn das Bewusstsein sich selbst vergöttlicht,
muss es die Religion töten –
doch indem es das tut, zerstört es den Spiegel,
in dem es sich erkennt.

Darin liegt der ganze Betrug der unsterblichen Seele:
dass der Schatten verschwindet, wenn das Licht erlischt.
Er stirbt nicht –
er vergeht mit dem Ende seiner Bedingung.

So verhält es sich mit dem Bewusstsein:
Es endet nicht durch den Tod,
sondern durch die Abwesenheit der Zeit.


Vielleicht doch wieder nur wildes geschwurbel, oder zuviel Schmerzmittel.
Jedenfalls danke für das Lesen.
...m.E. überhaupt kein Geschwurbel - ist für mich verständlich und nachvollziehbar - erlaube mir ein paar persönliche Zeilen hier anzufügen:

Eins-Sein

Lichterfüllt
im Schatten des Licht
das Du im Ich
absichtslos
unverhofft

glückerfüllt

ich suche nicht
Es findet mich

06.08.2019/win
 

trivial

Mitglied
Meine Lieben, ich möchte mich für die netten Wertungen und Kommentare bedanken. Vor allem dir, lieber Frodomir, dafür, dass du dich so ausführlich mit meinen Gedanken auseinandersetzt und mich forderst. Es mag vielleicht immer noch an der nun endlich abklingenden Erkältung liegen, aber langsam bekomme ich selbst einen Knoten im Kopf, und bevor daraus noch eine konsistente Philosophie wird und ich wahnsinnig werde, nur noch ein, zwei Gedanken, bei denen du mich, glaube ich, etwas missverstanden hast. Alles natürlich ohne Wahrheitsanspruch und nur als Ausgeburt meiner wilden Gedanken.

Bewusstsein ist nicht verspätet Wahrnehmung, es ereignet sich erst in dieser Verspätung – der bewusste Moment entsteht erst in dieser Verspätung.

Religion verstehe ich als strukturiertes Sein, in der sich Kultur verfestigt.

Nicht Bewusstsein schafft Kultur, sondern erst in dieser strukturierten Vor-Form des Seins
kann sich Bewusstsein überhaupt ereignen.

Wenn wir "Religion" negieren, also die grundlegende Strukturierung des Seins,
verlieren wir nicht Bewusstsein, sondern die Möglichkeit,
das Sein überhaupt zu erfahren.

Genau dieses Dilemma, diese Crux, war die eigentliche Intention meines Textes.

Liebe Grüße
Rufus
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Rufus,

gut, dass es dir wieder besser geht.
Bewusstsein ist nicht verspätet Wahrnehmung, es ereignet sich erst in dieser Verspätung – der bewusste Moment entsteht erst in dieser Verspätung.
Ich verstehe deinen Gedanken jetzt besser. Es macht Spaß, darüber nachzudenken, aber es ist auch sehr fordernd. Wir betreiben Philosophie :)

Religion verstehe ich als strukturiertes Sein, in der sich Kultur verfestigt.

Nicht Bewusstsein schafft Kultur, sondern erst in dieser strukturierten Vor-Form des Seins
kann sich Bewusstsein überhaupt ereignen.
Das verstehe ich nicht. Was sollte Religion und Kultur unterscheiden? Wann liegt Kultur vor, wann Religion? Ist Religion nicht eine Form der Kultur? Ich verstehe nicht, warum du Religion als "grundlegende Struktur des Seins" von Kultur abgrenzt.

Liebe Grüße
Frodomir
 



 
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