Atmung

Markus Veith

Mitglied
Atmung


Einatmen.
Ausatmen.

Einatmen.
Ausatmen.

Einatmen.
Ausatmen.

Wenn man im Wasser liegt, der Körper frei in der trägen Schwebe hängt, dann verstoßen Zeit und Raum gegen ihre Regeln und bemogeln sich gegenseitig.

Ausatmen.
Einatmen.

Ein Wal schwimmt im Brustkorb und schwingt die breite Schwanzflosse, dudumm, dudumm, gegen die Rippengitterstäbe. In den Ohrengängen knacken leise die Balken, halten aber Stand.

Ausatmen.
Einatmen.

Der Chlorgeruch kriecht durch die wassernahen Nasenluken und verunsichert den Geist, der eine Flut erwartet, die nicht kommt. Wie ein lebendes, pulsierendes Wesen überwacht der Atem die innere Lungenküste. Luft ist in den Tanks. Alles ist gut. Sonne gleitet hinter dem Inselgesicht hervor und lächelt in den Himmel.

Ausatmen.
Einatmen.

Alles ist gut, weil alles wichtige unwichtig geworden ist. Die Position stimmt. Der Navigator hat gute Arbeit geleistet und ruht sich in der Koje aus. Mein Leibesschiff liegt direkt über den lange versunkenen Fliesen. Meinen Blicken verborgen weiß ich sie tief im Rücken.

Ausatmen.
Einatmen.

In der Höhe durchfugt der Kachelhimmel den Blick wie eine Luftbildaufnahme des New Yorker Straßennetzes. Alles ist in Ordung. Alles in Entfernung. Alles in rechten Winkeln. Gerade und nicht krumm. Das Leben wuselt dort unten in der Höhe. Hier oben in der Tiefe ist meiner Lungenluft rein und unbekümmert.
Zeit und Raum sind Betrüger. Sie gaukelten mir die Wirklichkeit vor.
Ausatmen.
Einatmen.

Unten ist oben. Und oben ist unten. Ich allein bin die leichte Mitte, niemandem zugehörig. Wie konnte ich so lange leben, ohne diese Schwerelosigkeit.

Ausatmen.
Einatmen.

Die Welt hat an Gewicht verloren. Hat mein Gewicht verloren. Ich bin ihr in Rückenlage entschwommen, in diesen umgestülpten Ozeanhimmel, und liege nun zwischen den Schichten der Gestade, den Körper zum Großteil im wässrigen Wolkenbett verpackt, das Gesicht in die weltliche Kachelatmosphäre gedrückt.

Ausatmen.
Einatmen.

Und wenn ich nun nicht mehr möchte, so atme ich ein letztes Mal aus. Lasse mich in die Höhe sinken. In die Ruhe. Den versunkenen Fliesen entgegen. Und der Wal in meinem Brustkorb wird seine Flossen strecken, aufhören zu schlagen. Und der Atem wird sich zurückziehen von seinem Posten, Feierabend machen. - Wenn ich nun nicht mehr möchte. Ich muß nur ausatmen ...
 
J

josipeters

Gast
Ich hoffe schon, dass du noch atmen möchtest!
Stelle mir vor, du liegst in der Badewanne und probierst diverse Atmung aus. Nimm einen kräftigen Lungenzug, aber besser über Wasser!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

eine sehr plastische badegeschichte. aber warum so düster am ende? da haste nun - wovon ich seit jahren träume - die ganze badeanstalt für dich alleine und willst dich . . . ach nee, du willst ja gar nicht ertrinken, sondern dich nach oben sinken lassen. oh, ein wunder! staunend guckt
 

Markus Veith

Mitglied
Irgendwie weiß ich noch nicht so recht, ob eure Beiträge Kritiken oder Bemerkungen sind. Das kommt für mich nicht so recht raus, was ja nicht weiter schlimm ist, so lange ich das Gefühl habe, die Geschichte wurde verstanden. Und dies habe ich zumindest bei dir, flammarion.
Ich finde den Text eigentlich gar nicht düster, wollte ihn zumindest nicht so schreiben. Es ist eher dieses Leckt-mich-alle-Arsch-es-könnte-jetzt-wer-weiß-was-passieren-ich-würde-trotzdem-liegenbleiben-Glücksgefühl, das ich haben wollte.

Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

markus, ich bin ja so neidisch! ich würde, wenn ich könnte, den hinterhof fluten, um mich diesem wunderbaren gefühl hingeben zu können - mir geht es gut, und wenn ihr noch so dämlich guckt! mach mal so weiter. ganz lieb grüßt
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Markus,

Du alter Langstreckler, spätestens jetzt hast Du bewiesen, daß Du auch die kurze Distanz brilliant zu absolvieren verstehst. Ich wüßte nicht, an welcher Stelle man mit einer Kritik einhaken könnte. Na schön - eine richtige Geschichte ist es nicht. Aber es werden Eindrücke oder Empfindungen sowie deren Wirkung auf das eigene Ich in verdammt eindrucksvoller Weise geschildert - oder vielmehr vermittelt. So mancher von uns wird bei ähnlicher Gelegenheit auch ähnlich empfunden, aber natürlich versäumt haben, sich dessen ganz bewußt zu werden oder es gar aufzuschreiben. Ist es deshalb so leicht nachvollziehbar?
Und - ich könnte mir vorstellen, in einer Lesung zu sitzen, zu lauschen und unter Umständen am Schluß tatsächlich für einen Moment das Atmen zu vergessen. Ich finde, dieser Text eignet sich eher zum Hören, als zum reinen Lesen.

Gruß Ralph
 



 
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