Doktor Fröhlich starrte auf die Trümmer seines antiken Bauhaustisches.
„Ich fass’ es nicht.“
Er lehnte sich schwer gegen den Kühlschrank.
Der Mühlstein hatte ganze Arbeit geleistet: die Beine waren abgebrochen; die zersplitterten Reste der Tischplatte ragten unter dem Koloss hervor.
Wenn er nicht gerade ein Bier...
Er sah auf die Flasche in seiner Hand. Sie begann zu zittern.
„Ich könnte tot sein. Diese...“ Er richtete sich auf und stellte das Bier behutsam auf die Anrichte. Jemand hatte da gewaltigen Mist gebaut. Er wusste auch schon wer. Fröhlich griff nach dem Telefon.
Während er auf die Verbindung wartete, hob er den Stuhl auf und klopfte den Mehlstaub von der Sitzfläche. Er setzte sich vor den Stein.
„Ist der Nagellack endlich trocken? Doktor Fröhlich hier, geben Sie mir Luther. Aber pronto bitte!“
Er nahm eine Fingerprobe von der Oberfläche und leckte daran. Angewidert verzog er das Gesicht.
„Kas, seid Ihr völlig übergeschnappt? Ich hatte eine Pizza bestellt!“
„Thomas! Du musst kommen. Sofort.“ Doktor Kasimir Luther klang flehend. „Alles wird anders. Die...“ Seine Stimme brach ab.
„Kas?“ Stirnrunzelnd sah Fröhlich auf das Display. Verbindung beendet. Was sollte das bedeuten, ‚Alles wird anders’? Das änderte doch nichts daran, dass Frau ‚Doktor’ Beate Unselm nicht einmal Pizza gebacken bekam. Schnaubend erhob er sich. Es half nichts, er musste zurück ins Institut. Als er an der Küche vorbeikam, warf er einen bedauernden Blick auf die ungeöffnete Flasche.
Eindeutig, die Unselm hatte Kasimir bei den Eiern. Seit sie als Postdoc zur Projektgruppe gestoßen war, war sein Kollege zu nichts mehr zu gebrauchen. Fröhlich zog die Tür ins Schloss und ging zum Lift. Dabei war sie kalt wie ein arktischer Gletscher. Zugegeben, auch genauso schön. Aber der klare Verstand des stellvertretenden Projektleiters hatte Vorrang vor einer fotogenen Nachwuchswissenschaftlerin, die so dämlich wie blond war. Fröhlich trat in die Kabine und wählte den Dachparkplatz.
Die missglückte Pizzalieferung ließ sich wohl nicht für eine Kündigung verwenden. Sollte sie es auf einen Arbeitsprozess anlegen, gäbe es möglicherweise dumme Fragen über seinen Umgang mit öffentlichen Forschungsmitteln.
Dabei waren sie unglaublich gut angelegt.
Er betrachtete die hochgewachsene kräftige Gestalt in der verspiegelten Rückwand.
„Deine Entwicklung wird die Welt verändern, du alter Pirat. Über welche Schlagzeilen machst du dir Sorgen?“
Er war immer noch eine imposante Erscheinung mit seinen Vierundsechzig. Der massige Kopf mit den buschigen Brauen und dem unbärdigen weißen Schopf strahlte charismatische Genialität aus, deren Wirkung er bei Budgetverhandlungen schätzen gelernt hatte. Was nutzte es schließlich, ein Genie ohne Forschungsmittel zu sein? Er widerstand der Versuchung, sich die Zunge heraus zu strecken.
Mit einem melodischen Ping meldete der Aufzug die Ankunft auf der Tiefgaragenebene. Bald hatten sie die Versuchsreihen abgeschlossen und dann würde die ganze Welt den Vater von MUFLON kennen. Fröhlich straffte sich und ging zu seinem Auto.
Die Schiebetür des Wagens fiel mit einem satten Laut ins Schloss und er zog den Starter. Es fühlte sich falsch an.
„Junge, du gehörst ins Bett,“ murmelte er, während der Wagen die Rampe hoch glitt. Die letzten beiden Tage und Nächte hatte er im Institut zugebracht; sie hatten erstmals versucht, in das Wettergeschehen einzugreifen. Nichts Gravierendes, ein lokaler Regenschauer vor der westafrikanischen Küste. Als endlich in den Morgenstunden die ersten Satellitendaten das Ereignis bestätigten, hatten sie Schluss gemacht. Nur die Unselm und Luther waren zurück geblieben. Sie, um Pizzen zu ‚backen’ und Kas wollte gleich in seinem Büro schlafen.
Er rieb die Augen und gähnte herzhaft, während er auf eine Lücke im lebhaften Vormittagsverkehr wartete.
Sah man vom Ergebnis ab, machte es wenig Unterschied, ob sie MUFLON als Regenmacher oder Pizzaboten nutzten. Mit der MUltiversal FLuktuierenden OszillationsNode verschoben sie einfach den Realitätsfokus auf die gewünschte Möglichkeit.
Einfach.
Fröhlich lachte auf und fädelte sich vor einem Gelenkbus ein. Luther war vermutlich der Einzige in der Arbeitsgruppe, der seine Berechnungen vollständig begriff. Nicht besonders verwunderlich; es gab auf der ganzen Welt vielleicht ein halbes Dutzend Wissenschaftler, die dazu fähig wären.
Er verriss fast das Lenkrad, als ihm auf der rechten Spur ein Fahrzeug entgegen kam. Unwillig schüttelte er den Kopf. Ein Unfall war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Was war los mit ihm? Einen Augenblick hatte er geglaubt, in Deutschland gelte Rechtsverkehr.
Luther hatte seine Ideen nicht nur begriffen, er hatte sie genommen und aus ihnen MUFLON gebaut.
So war es seit ihrer Studienzeit: Thomas schaffte die Grundlagen und Kas baute etwas darauf. Den Grundstein ihrer Partnerschaft hatte die gescheiterte Anordnung für eine Interferenzmessung im dritten Semester gelegt. Mit einem Gesichtsaudruck, als wollte er sich für seine Existenz entschuldigen, war Luther zu ihm gewatschelt. Er studierte durch seine eulenhafte Brille einige Minuten stumm den Aufbau, um dann mit traumwandlerischer Sicherheit seine Veränderungen vorzunehmen. Als er fertig war, lächelte er verlegen zu Thomas auf, der ihn mit dem Mut der Verzweiflung hatte gewähren lassen und nickte wortlos. Unnötig zu sagen, dass die Anordnung funktioniert hatte. So wie MUFLON funktionierte, die Maschine, die buchstäblich alle Möglichkeiten öffnete. Jedenfalls bis heute morgen. Fröhlich setzte den Blinker und steuerte die Auffahrt zur Schnellstraße an.
Der Wechsel in eine Realität mit dampfenden Pizzen auf dem Tisch war inzwischen Routine. In einer hungrigen Versuchsnacht vor sechs Monaten hatten sie plötzlich frisch und heiß vor ihnen gestanden, nachdem die Empfangsschnepfe sich als unfähig erwiesen hatte, die Bestellung zu besorgen. Kas kletterte schnaufend aus seinem Kontrollmodul und entschuldigte sich mit hochrotem Kopf, dass er das Besteck vergessen habe. Sie hatten stattdessen mit den Fingern gegessen und der Pizzaservice wurde zur ständigen Anfängerübung für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Arbeitsgruppe. Fröhlich kam auf die Deutzer Brücke. Geblendet von den Sonnenreflexen auf der goldenen Kuppel des Kölner Domes zog er das Rollo herunter.
„Und jetzt hat die Unselm es versemmelt.“ Er musste über sein Wortspiel schmunzeln. Vielleicht ließe sich aus der missglückten Pizzalieferung doch noch ein unverfänglicher Kündigungsgrund herstellen. Immerhin hätte der Mühlstein ihn töten oder schwer verletzen können. Sein kostbarer Bauhaustisch war jedenfalls zerstört.
„Grob fahrlässig, keine Frage.“
Kas würde eine Weile brauchen, aber schließlich darüber hinweg kommen. Er besaß Erfahrung im Umgang mit einseitiger Liebe. Fröhlich hatte nie begriffen, warum sich Kas immer wieder in unerreichbare Göttinnen verliebte, die seine unbeholfenen Annäherungsversuche bestenfalls ignorierten. Irgendwann hatte Fröhlich es aufgegeben, Luther zu seiner eigenen pragmatischen Einstellung zu bekehren. Seitdem beschränkte er sich darauf, ihn diskret vor den schlimmsten Peinlichkeiten zu bewahren und danach Luthers Verlust mit ihm an einer Theke zu ertränken.
Die Schranke zum Institutsparkplatz stand wieder mal offen. Fröhlich brachte den Wagen vor dem Haupteingang zu stehen und hieb auf den Zündschalter.
„Und die Schnepfe fliegt gleich mit.“ Zischend schwang die Flügeltür auf. Er klappte die Leiter aus und kletterte aus der Fahrzeugkanzel.
„Und wenn sie zehnmal die Nichte von Staatssekretär Greiner ist.“
Die automatische Drehtür bremste ihn kurz aus.
„Ich weiß, wo ich Doktor Luther finde, danke.“ Fröhlich wedelte im Vorbeimarsch Richtung Empfang. Vor dem Paternoster blieb er einen Moment stehen und sah über die Schulter. „Übrigens, Sie sind gefeuert.“
Er fühlte sich befreit, als er in den Abwärtsschacht stieg.
„ Das können Sie nicht mit mir machen! Meine Nägel sind titanbeschicht...“ Das beruhigende Knarren der Kabine übertönte ihre schrillen Proteste, als er durch den Boden sank.
„Dann hast du dir eben die Lippen lackiert, blöde Schnepfe,“ murmelte Fröhlich und atmete durch. Jetzt kam der schwierige Teil.
Ein kurzes Schwindelgefühl überkam ihn, als er die Rote Linie auf dem Flurboden überschritt, mit der die Grenze des Suppressionsfeldes markiert war. Er schüttelte irritiert den Kopf.
„Warum zum Teufel...?“
Das linsenförmige Feld mit MUFLON im Zentrum versetzte alles, was sich darin befand, ‚außerhalb der Möglichkeiten’. Dort war der Standpunkt, von dem sie die Welt aushebelten. Der Optionssuppressor hatte den Stromverbrauch einer Mittelstadt, weshalb war er immer noch eingeschaltet?
„Erst ruiniert sie meine Möbel und dann mein Budget!“ Mit vorgeschobenem Kinn marschierte Fröhlich zur Sicherheitsschleuse am Ende des Ganges.
Zischend schloss sich das innere Schott hinter ihm. Fröhlich blieb stehen, damit sich seine Augen an das spärlichen Licht der Sicherheitsbeleuchtung gewöhnen konnten. Kaum wahrnehmbares Summen gebändigter Energien erfüllte die Stille. Vor ihm ragte MUFLON auf, ein bizarres Konstrukt aus unförmigen Aggregaten und Antennen, die sich in den Raum bohrten.
„Doktor Unselm?“ Seine Stimme verlor sich in der dunklen Weite der Halle. Er räusperte sich.
„Frau Doktor Unselm!“
In den Nachhall mischte sich ein leises Klirren.
„Was, zum Donnerwetter, treibt sie jetzt?“ Das Geräusch war von den Steuermodulen gekommen. Er machte ein paar Schritte in das Halbdunkel und lauschte. Es klirrte erneut.
„Doktor Unselm, sind Sie da? Antworten Sie!“ Er legte seine ganze Autorität hinein. Vielleicht sollte er besser den Sicherheitsdienst rufen. Er sah unschlüssig zur Schleuse zurück.
„Sie ist weg.“
Fröhlich fuhr herum.
„Kas!“ Er versuchte Luther auszumachen.
„Sie hat mir nicht einmal richtig zugehört.“ Ein heller Schimmer bewegte sich im Schatten des Mastermoduls. Wieder klirrte es. Fröhlich seufzte schicksalsergeben und ging hinüber. Wenigstens brauchte er mit Kas nicht mehr über Doktor Unselms Entlassung zu diskutieren.
Luther lehnte am Sockel des Moduls, zwischen den breit ausgestreckten Beinen waren Bechergläser kreisförmig um eine Flasche aufgebaut. Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf die Gläser mit der bräunlich schimmernden Flüssigkeit.
„Kommst gerade richtig für die nächste Runde.“ Die Brille fiel ihm aus dem Gesicht, als er sich vorbeugte, um sie zu eröffnen. Thomas hockte sich auf den Boden und reichte sie ihm. Ein Bügel fehlte.
„Danke.“ Kas drückte sich das verbogene Gestell auf den Nasenrücken.
„Das war sie.“ Er nahm das Glas aus Thomas’ Hand und sie stießen schweigend an. Kas schmetterte den leeren Becher gegen einen Relevanzverstärker. Nach kurzem Zögern warf Thomas seinen auf den Hallenboden. Er nickte Kas aufmunternd zu.
„Wir werden sie rausschmeißen.“
Kas hob den Kopf und sah ihn aus wässrigen Augen an. „Nein. Das ist nicht nötig.“
Thomas verdrehte die Augen.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ Er schob ein Glas zu Kas. „Erst macht diese Frau meinen stellvertretenden Projektleiter zum liebestollen Narren.“ Er stellte ein zweites dazu. „Dann wird sie auch noch tätlich gegen dich. Schließlich zerstört sie ganz nebenbei grob fahrlässig mein Privateigentum. Sie hätte mich dabei fast umgebracht!“
Er beugte sich beschwörend vor. „Verdammt, Kas, hast du immer noch nicht genug?“
Kas nahm ihm das dritte Glas aus der Hand und kippte den Inhalt hinunter.
„Das war ich.“ Er verfehlte den Relevanzverstärker knapp.
Fröhlich starrte ihn an. „Du...“
Luther fasste nach dem nächsten Becher und schwenkte ihn andächtig.
„Nebenwirkungen. Es waren elend viele Parameter, da musste ich ein wenig interpolieren.“ Er musterte Thomas. „Ist ja gut gegangen.“ Diesmal traf er.
„Ich werde sie trotzdem entlassen.“ Fröhlich nahm sich ein neues Glas.
„Du hast mir nicht zugehört. Sie ist weg.“ Luther schloss die Augen und lehnte sich zurück. „Ich habe sie weggemacht.“
Er wartete, bis Fröhlich seinen Hustanfall überwunden hatte.
„Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie viele Möglichkeiten es ohne sie gibt?“ Er blinzelte und verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen. „Entschuldige, ich vergaß, du bist ja hier das Genie.“ Luther stemmte die Hände auf den Boden und schob seinen massigen Körper näher an die verbliebenen Gläser. „Erinnerst du dich an Bob Marley? No woman, no cry.“ Er prostete Thomas zu.
„Aber du kannst doch nicht einfach...“ Fröhlich suchte nach Worten. „Ich meine, man wird sie vermissen und...“ Er merkte, dass er Unsinn redete. Wer sollte Doktor Unselm in einer Welt vermissen, in der sie niemals existiert hatte? Wie betäubt griff er nach dem angebotenen Glas.
Luther lachte und drohte mit dem Zeigefinger. „Herr Doktor Fröhlich, das ist aber eine ziemlich traurige Denkleistung von Ihnen.“ Zutraulich beugte er sich zu ihm herüber. „Aber einfach war es wirklich nicht. Diese verfluchten kausalen Abhängigkeiten! Zu komplex für einen einzigen Übergang. Also hat der schlaue Kasimir den langen Marsch durch das Multiversum in viele kleine Schritte zerlegt.“ Er schwankte leicht hintenüber, als er sich aufrichtete und zur offenen Tür des Mastermoduls deutete. „Jetzt läuft MUFLON gleich in die Zielgerade.“ Andächtig betrachtete Kas das farbige Lichtspiel auf der Konsole.
Zielgerade! Das hieß, es war noch nicht zu spät, er könnte die Unselm noch retten. Fröhlich war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Außerdem, was hieß eigentlich ‚retten’? Luther brachte sie ja nicht um, sie würde noch nicht einmal bemerken, was mit ihr geschah.
Mit ihnen geschah.
Die Erkenntnis explodierte in seinem Bewusstsein.
„Halt es an!“ Er packte Luthers Schulter. „Kas, du musst es anhalten!“
Luther stierte ihn an.
„Es ist nicht die Unselm, die du versetzt. Du bringst uns beide in eine andere Realität!“ Fröhlich schüttelte ihn. „Begreifst du nicht? MUFLON transportiert UNS in ein Universum ohne Doktor Beate Unselm.“
Die letzen Worte musste er gegen das durchdringende Schnarren aus dem Mastermodul anschreien.
Luther tätschelte beruhigend seinen Arm. „Das weiß ich doch.“ Er wälzte sich auf die Knie und zog sich ächzend an einer Verstrebung hoch. Glücklich lächelte er auf Fröhlich herab. „Hier gibt es nämlich überhaupt keine Frauen.“
„Ich fass’ es nicht.“
Er lehnte sich schwer gegen den Kühlschrank.
Der Mühlstein hatte ganze Arbeit geleistet: die Beine waren abgebrochen; die zersplitterten Reste der Tischplatte ragten unter dem Koloss hervor.
Wenn er nicht gerade ein Bier...
Er sah auf die Flasche in seiner Hand. Sie begann zu zittern.
„Ich könnte tot sein. Diese...“ Er richtete sich auf und stellte das Bier behutsam auf die Anrichte. Jemand hatte da gewaltigen Mist gebaut. Er wusste auch schon wer. Fröhlich griff nach dem Telefon.
Während er auf die Verbindung wartete, hob er den Stuhl auf und klopfte den Mehlstaub von der Sitzfläche. Er setzte sich vor den Stein.
„Ist der Nagellack endlich trocken? Doktor Fröhlich hier, geben Sie mir Luther. Aber pronto bitte!“
Er nahm eine Fingerprobe von der Oberfläche und leckte daran. Angewidert verzog er das Gesicht.
„Kas, seid Ihr völlig übergeschnappt? Ich hatte eine Pizza bestellt!“
„Thomas! Du musst kommen. Sofort.“ Doktor Kasimir Luther klang flehend. „Alles wird anders. Die...“ Seine Stimme brach ab.
„Kas?“ Stirnrunzelnd sah Fröhlich auf das Display. Verbindung beendet. Was sollte das bedeuten, ‚Alles wird anders’? Das änderte doch nichts daran, dass Frau ‚Doktor’ Beate Unselm nicht einmal Pizza gebacken bekam. Schnaubend erhob er sich. Es half nichts, er musste zurück ins Institut. Als er an der Küche vorbeikam, warf er einen bedauernden Blick auf die ungeöffnete Flasche.
Eindeutig, die Unselm hatte Kasimir bei den Eiern. Seit sie als Postdoc zur Projektgruppe gestoßen war, war sein Kollege zu nichts mehr zu gebrauchen. Fröhlich zog die Tür ins Schloss und ging zum Lift. Dabei war sie kalt wie ein arktischer Gletscher. Zugegeben, auch genauso schön. Aber der klare Verstand des stellvertretenden Projektleiters hatte Vorrang vor einer fotogenen Nachwuchswissenschaftlerin, die so dämlich wie blond war. Fröhlich trat in die Kabine und wählte den Dachparkplatz.
Die missglückte Pizzalieferung ließ sich wohl nicht für eine Kündigung verwenden. Sollte sie es auf einen Arbeitsprozess anlegen, gäbe es möglicherweise dumme Fragen über seinen Umgang mit öffentlichen Forschungsmitteln.
Dabei waren sie unglaublich gut angelegt.
Er betrachtete die hochgewachsene kräftige Gestalt in der verspiegelten Rückwand.
„Deine Entwicklung wird die Welt verändern, du alter Pirat. Über welche Schlagzeilen machst du dir Sorgen?“
Er war immer noch eine imposante Erscheinung mit seinen Vierundsechzig. Der massige Kopf mit den buschigen Brauen und dem unbärdigen weißen Schopf strahlte charismatische Genialität aus, deren Wirkung er bei Budgetverhandlungen schätzen gelernt hatte. Was nutzte es schließlich, ein Genie ohne Forschungsmittel zu sein? Er widerstand der Versuchung, sich die Zunge heraus zu strecken.
Mit einem melodischen Ping meldete der Aufzug die Ankunft auf der Tiefgaragenebene. Bald hatten sie die Versuchsreihen abgeschlossen und dann würde die ganze Welt den Vater von MUFLON kennen. Fröhlich straffte sich und ging zu seinem Auto.
Die Schiebetür des Wagens fiel mit einem satten Laut ins Schloss und er zog den Starter. Es fühlte sich falsch an.
„Junge, du gehörst ins Bett,“ murmelte er, während der Wagen die Rampe hoch glitt. Die letzten beiden Tage und Nächte hatte er im Institut zugebracht; sie hatten erstmals versucht, in das Wettergeschehen einzugreifen. Nichts Gravierendes, ein lokaler Regenschauer vor der westafrikanischen Küste. Als endlich in den Morgenstunden die ersten Satellitendaten das Ereignis bestätigten, hatten sie Schluss gemacht. Nur die Unselm und Luther waren zurück geblieben. Sie, um Pizzen zu ‚backen’ und Kas wollte gleich in seinem Büro schlafen.
Er rieb die Augen und gähnte herzhaft, während er auf eine Lücke im lebhaften Vormittagsverkehr wartete.
Sah man vom Ergebnis ab, machte es wenig Unterschied, ob sie MUFLON als Regenmacher oder Pizzaboten nutzten. Mit der MUltiversal FLuktuierenden OszillationsNode verschoben sie einfach den Realitätsfokus auf die gewünschte Möglichkeit.
Einfach.
Fröhlich lachte auf und fädelte sich vor einem Gelenkbus ein. Luther war vermutlich der Einzige in der Arbeitsgruppe, der seine Berechnungen vollständig begriff. Nicht besonders verwunderlich; es gab auf der ganzen Welt vielleicht ein halbes Dutzend Wissenschaftler, die dazu fähig wären.
Er verriss fast das Lenkrad, als ihm auf der rechten Spur ein Fahrzeug entgegen kam. Unwillig schüttelte er den Kopf. Ein Unfall war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Was war los mit ihm? Einen Augenblick hatte er geglaubt, in Deutschland gelte Rechtsverkehr.
Luther hatte seine Ideen nicht nur begriffen, er hatte sie genommen und aus ihnen MUFLON gebaut.
So war es seit ihrer Studienzeit: Thomas schaffte die Grundlagen und Kas baute etwas darauf. Den Grundstein ihrer Partnerschaft hatte die gescheiterte Anordnung für eine Interferenzmessung im dritten Semester gelegt. Mit einem Gesichtsaudruck, als wollte er sich für seine Existenz entschuldigen, war Luther zu ihm gewatschelt. Er studierte durch seine eulenhafte Brille einige Minuten stumm den Aufbau, um dann mit traumwandlerischer Sicherheit seine Veränderungen vorzunehmen. Als er fertig war, lächelte er verlegen zu Thomas auf, der ihn mit dem Mut der Verzweiflung hatte gewähren lassen und nickte wortlos. Unnötig zu sagen, dass die Anordnung funktioniert hatte. So wie MUFLON funktionierte, die Maschine, die buchstäblich alle Möglichkeiten öffnete. Jedenfalls bis heute morgen. Fröhlich setzte den Blinker und steuerte die Auffahrt zur Schnellstraße an.
Der Wechsel in eine Realität mit dampfenden Pizzen auf dem Tisch war inzwischen Routine. In einer hungrigen Versuchsnacht vor sechs Monaten hatten sie plötzlich frisch und heiß vor ihnen gestanden, nachdem die Empfangsschnepfe sich als unfähig erwiesen hatte, die Bestellung zu besorgen. Kas kletterte schnaufend aus seinem Kontrollmodul und entschuldigte sich mit hochrotem Kopf, dass er das Besteck vergessen habe. Sie hatten stattdessen mit den Fingern gegessen und der Pizzaservice wurde zur ständigen Anfängerübung für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Arbeitsgruppe. Fröhlich kam auf die Deutzer Brücke. Geblendet von den Sonnenreflexen auf der goldenen Kuppel des Kölner Domes zog er das Rollo herunter.
„Und jetzt hat die Unselm es versemmelt.“ Er musste über sein Wortspiel schmunzeln. Vielleicht ließe sich aus der missglückten Pizzalieferung doch noch ein unverfänglicher Kündigungsgrund herstellen. Immerhin hätte der Mühlstein ihn töten oder schwer verletzen können. Sein kostbarer Bauhaustisch war jedenfalls zerstört.
„Grob fahrlässig, keine Frage.“
Kas würde eine Weile brauchen, aber schließlich darüber hinweg kommen. Er besaß Erfahrung im Umgang mit einseitiger Liebe. Fröhlich hatte nie begriffen, warum sich Kas immer wieder in unerreichbare Göttinnen verliebte, die seine unbeholfenen Annäherungsversuche bestenfalls ignorierten. Irgendwann hatte Fröhlich es aufgegeben, Luther zu seiner eigenen pragmatischen Einstellung zu bekehren. Seitdem beschränkte er sich darauf, ihn diskret vor den schlimmsten Peinlichkeiten zu bewahren und danach Luthers Verlust mit ihm an einer Theke zu ertränken.
Die Schranke zum Institutsparkplatz stand wieder mal offen. Fröhlich brachte den Wagen vor dem Haupteingang zu stehen und hieb auf den Zündschalter.
„Und die Schnepfe fliegt gleich mit.“ Zischend schwang die Flügeltür auf. Er klappte die Leiter aus und kletterte aus der Fahrzeugkanzel.
„Und wenn sie zehnmal die Nichte von Staatssekretär Greiner ist.“
Die automatische Drehtür bremste ihn kurz aus.
„Ich weiß, wo ich Doktor Luther finde, danke.“ Fröhlich wedelte im Vorbeimarsch Richtung Empfang. Vor dem Paternoster blieb er einen Moment stehen und sah über die Schulter. „Übrigens, Sie sind gefeuert.“
Er fühlte sich befreit, als er in den Abwärtsschacht stieg.
„ Das können Sie nicht mit mir machen! Meine Nägel sind titanbeschicht...“ Das beruhigende Knarren der Kabine übertönte ihre schrillen Proteste, als er durch den Boden sank.
„Dann hast du dir eben die Lippen lackiert, blöde Schnepfe,“ murmelte Fröhlich und atmete durch. Jetzt kam der schwierige Teil.
Ein kurzes Schwindelgefühl überkam ihn, als er die Rote Linie auf dem Flurboden überschritt, mit der die Grenze des Suppressionsfeldes markiert war. Er schüttelte irritiert den Kopf.
„Warum zum Teufel...?“
Das linsenförmige Feld mit MUFLON im Zentrum versetzte alles, was sich darin befand, ‚außerhalb der Möglichkeiten’. Dort war der Standpunkt, von dem sie die Welt aushebelten. Der Optionssuppressor hatte den Stromverbrauch einer Mittelstadt, weshalb war er immer noch eingeschaltet?
„Erst ruiniert sie meine Möbel und dann mein Budget!“ Mit vorgeschobenem Kinn marschierte Fröhlich zur Sicherheitsschleuse am Ende des Ganges.
Zischend schloss sich das innere Schott hinter ihm. Fröhlich blieb stehen, damit sich seine Augen an das spärlichen Licht der Sicherheitsbeleuchtung gewöhnen konnten. Kaum wahrnehmbares Summen gebändigter Energien erfüllte die Stille. Vor ihm ragte MUFLON auf, ein bizarres Konstrukt aus unförmigen Aggregaten und Antennen, die sich in den Raum bohrten.
„Doktor Unselm?“ Seine Stimme verlor sich in der dunklen Weite der Halle. Er räusperte sich.
„Frau Doktor Unselm!“
In den Nachhall mischte sich ein leises Klirren.
„Was, zum Donnerwetter, treibt sie jetzt?“ Das Geräusch war von den Steuermodulen gekommen. Er machte ein paar Schritte in das Halbdunkel und lauschte. Es klirrte erneut.
„Doktor Unselm, sind Sie da? Antworten Sie!“ Er legte seine ganze Autorität hinein. Vielleicht sollte er besser den Sicherheitsdienst rufen. Er sah unschlüssig zur Schleuse zurück.
„Sie ist weg.“
Fröhlich fuhr herum.
„Kas!“ Er versuchte Luther auszumachen.
„Sie hat mir nicht einmal richtig zugehört.“ Ein heller Schimmer bewegte sich im Schatten des Mastermoduls. Wieder klirrte es. Fröhlich seufzte schicksalsergeben und ging hinüber. Wenigstens brauchte er mit Kas nicht mehr über Doktor Unselms Entlassung zu diskutieren.
Luther lehnte am Sockel des Moduls, zwischen den breit ausgestreckten Beinen waren Bechergläser kreisförmig um eine Flasche aufgebaut. Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf die Gläser mit der bräunlich schimmernden Flüssigkeit.
„Kommst gerade richtig für die nächste Runde.“ Die Brille fiel ihm aus dem Gesicht, als er sich vorbeugte, um sie zu eröffnen. Thomas hockte sich auf den Boden und reichte sie ihm. Ein Bügel fehlte.
„Danke.“ Kas drückte sich das verbogene Gestell auf den Nasenrücken.
„Das war sie.“ Er nahm das Glas aus Thomas’ Hand und sie stießen schweigend an. Kas schmetterte den leeren Becher gegen einen Relevanzverstärker. Nach kurzem Zögern warf Thomas seinen auf den Hallenboden. Er nickte Kas aufmunternd zu.
„Wir werden sie rausschmeißen.“
Kas hob den Kopf und sah ihn aus wässrigen Augen an. „Nein. Das ist nicht nötig.“
Thomas verdrehte die Augen.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ Er schob ein Glas zu Kas. „Erst macht diese Frau meinen stellvertretenden Projektleiter zum liebestollen Narren.“ Er stellte ein zweites dazu. „Dann wird sie auch noch tätlich gegen dich. Schließlich zerstört sie ganz nebenbei grob fahrlässig mein Privateigentum. Sie hätte mich dabei fast umgebracht!“
Er beugte sich beschwörend vor. „Verdammt, Kas, hast du immer noch nicht genug?“
Kas nahm ihm das dritte Glas aus der Hand und kippte den Inhalt hinunter.
„Das war ich.“ Er verfehlte den Relevanzverstärker knapp.
Fröhlich starrte ihn an. „Du...“
Luther fasste nach dem nächsten Becher und schwenkte ihn andächtig.
„Nebenwirkungen. Es waren elend viele Parameter, da musste ich ein wenig interpolieren.“ Er musterte Thomas. „Ist ja gut gegangen.“ Diesmal traf er.
„Ich werde sie trotzdem entlassen.“ Fröhlich nahm sich ein neues Glas.
„Du hast mir nicht zugehört. Sie ist weg.“ Luther schloss die Augen und lehnte sich zurück. „Ich habe sie weggemacht.“
Er wartete, bis Fröhlich seinen Hustanfall überwunden hatte.
„Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie viele Möglichkeiten es ohne sie gibt?“ Er blinzelte und verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen. „Entschuldige, ich vergaß, du bist ja hier das Genie.“ Luther stemmte die Hände auf den Boden und schob seinen massigen Körper näher an die verbliebenen Gläser. „Erinnerst du dich an Bob Marley? No woman, no cry.“ Er prostete Thomas zu.
„Aber du kannst doch nicht einfach...“ Fröhlich suchte nach Worten. „Ich meine, man wird sie vermissen und...“ Er merkte, dass er Unsinn redete. Wer sollte Doktor Unselm in einer Welt vermissen, in der sie niemals existiert hatte? Wie betäubt griff er nach dem angebotenen Glas.
Luther lachte und drohte mit dem Zeigefinger. „Herr Doktor Fröhlich, das ist aber eine ziemlich traurige Denkleistung von Ihnen.“ Zutraulich beugte er sich zu ihm herüber. „Aber einfach war es wirklich nicht. Diese verfluchten kausalen Abhängigkeiten! Zu komplex für einen einzigen Übergang. Also hat der schlaue Kasimir den langen Marsch durch das Multiversum in viele kleine Schritte zerlegt.“ Er schwankte leicht hintenüber, als er sich aufrichtete und zur offenen Tür des Mastermoduls deutete. „Jetzt läuft MUFLON gleich in die Zielgerade.“ Andächtig betrachtete Kas das farbige Lichtspiel auf der Konsole.
Zielgerade! Das hieß, es war noch nicht zu spät, er könnte die Unselm noch retten. Fröhlich war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Außerdem, was hieß eigentlich ‚retten’? Luther brachte sie ja nicht um, sie würde noch nicht einmal bemerken, was mit ihr geschah.
Mit ihnen geschah.
Die Erkenntnis explodierte in seinem Bewusstsein.
„Halt es an!“ Er packte Luthers Schulter. „Kas, du musst es anhalten!“
Luther stierte ihn an.
„Es ist nicht die Unselm, die du versetzt. Du bringst uns beide in eine andere Realität!“ Fröhlich schüttelte ihn. „Begreifst du nicht? MUFLON transportiert UNS in ein Universum ohne Doktor Beate Unselm.“
Die letzen Worte musste er gegen das durchdringende Schnarren aus dem Mastermodul anschreien.
Luther tätschelte beruhigend seinen Arm. „Das weiß ich doch.“ Er wälzte sich auf die Knie und zog sich ächzend an einer Verstrebung hoch. Glücklich lächelte er auf Fröhlich herab. „Hier gibt es nämlich überhaupt keine Frauen.“