Auch keine heile Welt gewesen

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Dank Google Street View feiere ich Wiedersehen mit der Straße meiner Kindheit, erkenne fast alles auf den ersten Blick. Vieles ist hübscher geworden, nur weniges heruntergekommen, einiges abgerissen und durch Neues ersetzt. Über die Gebäude gelange ich zu den Menschen, die damals dort lebten. Meine Erinnerung reicht dabei so weit wie Omas Zunge zu ihrer Zeit: zwei Dutzend Häuser, rechts, links und gegenüber. Schauplatz: eine ältere Straße in einem Industriearbeitervorort, halbdörflich noch. Zeit: um 1960. Ich vergebe neue Hausnummern und fange mit der anderen Straßenseite an, am entferntesten Ende.

Nr. 1: Die Leute sind katholisch, die einzigen in der Nachbarschaft. Oma mokiert sich gern: Die rennen täglich in die Kirche. Oma hält die Beichte der Katholiken für eine Art Sündenwaschmaschine.

Nr. 3: Mit den Bewohnern ist Opa entfernt verwandt. Es ist ein untereinander verfeindetes Geschwisterpaar. Er ist verheiratet, hat einen Jungen. Seine Schwester – wir nennen sie Tante – ist unverheiratet geblieben, sie ist freundlich, leicht kapriziös. Die Geschwister haben sich das kleine Haus aufgeteilt, jedes hat seinen Eingang, man grüßt sich kaum. Später werde ich erfahren, die Tante ist auf Dauer in der Psychiatrie untergebracht.

Nr. 5: Oma ist befreundet mit der Kriegerwitwe, die in einer Onkelehe lebt. Das kritisiert Oma hinter ihrem Rücken bei anderen. Die Witwe bekommt Darmkrebs, stirbt. Sie hat Oma ihr Speisezimmer vermacht.

Nr. 7: Die Rollläden zur Straße sind fast immer unten. Man weiß nicht viel über die Bewohner. Über sie gibt es nichts zu verbreiten, schade.

Nr. 9: Sozial schwach die Leute, würde man später sagen. Eine mittelalte Frau, alleinstehend, mit einem wenig begabten Jungen. Am 13. August 1961 steht die Frau am Fenster und ruft laut in die Straße: Leute, stellte euren Fernseher an – es gibt Krieg!

Nr. 11: Da wohnt neuerdings ein auffallend unauffälliges junges Ehepaar zur Miete. Oma muss erst Erkundigungen einziehen.

Nr. 13: Noch ein Geschwisterpaar, dieses einträchtig mit der Mutter zusammenwohnend. Oma steht ihnen kritisch gegenüber und sagt von dem jungen Mann: Er schimpft sich Ingenieur.

Nr. 15: Das Haus genau gegenüber, Opas Elternhaus. Seine Schwester lebt dort, versorgt den gelähmten Mann. Ihr Sohn, einziges Kind, ist 1944 in der Ukraine gefallen.

Nr. 17: Wieder ein Haus, das dem Klatsch wacker standhält, mit einer schönen Blendsteinfassade.

Nach einer Baulücke, einer Hangwiese mit Obstbäumen, kommt Nr. 19: Da ist vor kurzem mit Mann und Kind eine rührige junge Geschäftsfrau eingezogen, von weit her. Sie umgarnt Oma, fährt mit ihr im Auto spazieren. Was soll man davon halten?

Jetzt wechseln wir die Straßenseite und nehmen Nr. 28 ins Visier: Der Junge in meinem Alter ist extrem dick. Die Drüsen seien schuld, heißt es. Seine Oma wollte ins Wasser gehen. Als ihr Sohn sie retten will, versucht sie ihn mit unter Wasser zu ziehen - Suizid trotzdem gescheitert.

Nr. 26: Noch mehr unauffällige Leute.

Nr. 24: Ein junges Paar als Mieter. Oma sagt: Er ist ein Faulenzer. Er arbeitet nicht, er bleibt morgens im Bett liegen. - Ich finde ihn interessant.

Nr. 22: Opas älterer Bruder wohnt hier mit Frau, zwei Töchtern, Schwiegersohn und Enkel. Opas Einstellung dem Bruder gegenüber ist unterkühlt. Unter uns nennt er ihn ironisch den Direktor und bezieht sich dabei auf ein länger zurückliegendes geschäftliches Fiasko.

Nr. 20: Das Haus von Opas jüngerem Bruder. Sein Sohn, einziges Kind, ist 1944 in Italien gefallen. Oma ist mit der Schwägerin verfeindet, daher reden die Brüder wenig miteinander.

Nr. 18: Hier bei den Großeltern bin ich die Hälfte der Zeit. Die Alten schätzen ihren Schwiegersohn nicht, machen vor mir kritische Bemerkungen über ihn.

Nr. 16: Auch hier pflegt eine ältere Frau ihren gelähmten Mann. Sie tut das schon jahrzehntelang, seit ihrer Hochzeit, inzwischen eine Spur verbittert. Opa ist mit ihr entfernt verwandt, wir nennen auch sie Tante.

Nr. 14: Da wohnt nur eine kleine alte Frau, die jedem auf der Straße mit dünner, weinerlicher Stimme immer wieder dieselben Leidensgeschichten von Mann und Schwester erzählen muss – beide tot.

Nr. 12: Wieder ein kleines Haus, das nichts zur Chronik beiträgt. Dabei ist es bei weitem das älteste von allen, ein Vierteljahrtausend alt.

Nr. 10: Oma und Opa haben es in der Hitlerzeit bewohnt und nun an ein Paar vermietet. Der jungen Frau ist die Mutter 1945 auf der Flucht aus Ostpreußen weggestorben ...

Nr. 8: ... und ihr Vater lebt da in Onkelehe mit einer weiteren Kriegerwitwe. Das Haus haben meine Großeltern nach dem Krieg bauen lassen, um die zwei Wohnungen zu vermieten. In der oberen Etage hat sich bald das junge Ehepaar getrennt. Die Frau bleibt nach der Scheidung mit ihrem kleinen Jungen dort wohnen.

Nr. 6: Zwei würdige alte Damen, die scheinbar immer schon alt und würdig waren und über die nichts Negatives bekannt ist.

Nr. 4: Hier betreut eine reife Frau ihre ältere behinderte Schwester. Sie tut es so liebevoll wie pflichtbewusst und spricht gern darüber. Sie lehnt es ab, ein Fernsehgerät anzuschaffen, und sagt: Die Illustrierten bringen das doch auch alles.

Nr. 2: Ein Wirtshaus, das vielleicht früher mehr Gäste hatte. Zwei Schulkinder im Haus, das Mädchen geht in meine Klasse. Von dem Jungen wird mir Oma einige Jahre später schreiben, er sei im Spanienurlaub im Meer ertrunken.

Am Tag der Street View-Aufnahmen war der Himmel heiter, strahlend blau mit einigen weißen Wolken, die Straße optimal ausgeleuchtet. Das kleine Barockhaus Nr. 12 ist inzwischen abgerissen.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

es ist bemerkenswert, welche Faszination Deine nüchterne Aufzählung bewirkt.
Es muss diese anlasslose Neugier des Menschen am Menschen sein, die Dir atemlos durch die Häuser folgen lässt.
Ein ganz eigenes Sittengemälde ist Dir da gelungen!

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für Anerkennung und Bewertung. Wobei das Lob eher meiner längst verstorbenen Großmutter gelten müsste. Das hier Zusammengestellte, das sind ausschließlich die Gegenstände ihres Interesses. Sie hat sie immer wieder in Gesprächen mit anderen thematisiert und ich war nur der stumme Zuhörer. Die Details ihrer Reden kamen mir neulich in den Sinn, als ich die aktuellen Aufnahmen (Street View) betrachtete. Während ich schrieb, wurde mir klar, dass diese Menschen damals noch immer im tiefen Schatten des vergangenen Krieges lebten. Ich habe damals als Kind nicht verstanden, dass es sich um keine Normalität handelte, sondern um eine lang hingezogene Ausnahmesituation. Heute beurteile ich jene Erwachsenen ganz anders als früher, da ich begreife, was es bedeutete, im Verlauf des Krieges den einzigen Sohn oder die Mutter, die Frau, den Mann verloren zu haben. Jedes zweite Haus war betroffen, mindestens. Und die Opfer des 1. Weltkriegs waren auch noch nicht ganz vergessen (bei meinem Großvater zwei Brüder). "Gefallen" ist ein seltsames Wort für einen Zehnjährigen, er kann es nicht wirklich verstehen.

Schöne Morgengrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Mittagsgrüße zurück.
Deine Bescheidenheit ehrt Dich, aber es ist doch Deine Wahrnehmung - und wie Du das alles durch Dein Leben mitgeschleppt hast, bis Du es irgendwann 'entschlüsseln' konntest. Es sind ja diese kleinen Dinge, die historischen Kontext erfahrbar machen.
Geschichten wie diese machen mich immer ganz ehrfürchtig vor der Komplexität menschlicher Wahrnehmung.

Schönes Wochende!
Petra
 



 
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