Auf dem Friedhof

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Matula

Mitglied
Es war Sonntag und Herr Fink stand wieder am Grab der Gemahlin, in das man sie vor drei Jahren gelegt hatte.

"Servus," murmelte er und hätte beinahe "wie geht's?" hinzugefügt.

Ein paar Grashalme waren seit seinem letzten Besuch vor zwei Wochen zwischen Sockel und Marmorplatte gesprossen. Er entfernte sie sorgfältig und hoffte, dass sich die Witwe vom Grab vis-à-vis einfinden werde. Sie war in seinem Alter, schon grauhaarig, aber noch ziemlich hübsch. Elvira hatte sich immer die Haare gefärbt: mahagonirot. Wahrscheinlich klebten noch Büschel dieser roten Haare an ihrem nackten Schädel.

Der leicht bekleidete Engel, der seit Urgroßvaters Zeiten den Grabstein umklammerte und sich die Seele aus dem marmornen Leib weinte, war an der Schulter verschmutzt. Herr Fink, für solche Fälle gerüstet, holte einen Lappen und eine Drahtbürste aus seinem Rucksack und ging sehr bedächtig ans Werk.

"So, jetzt ist wieder alles sauber," seufzte er zufrieden "fehlt nur noch das Licht."

Immer wenn er die Grablaterne öffnete, um eine neue Kerze hineinzustellen, hoffte er, dass ihm die Witwe eine Nachricht hinterlassen hatte. Aber das geschah natürlich nie und er war jedes Mal enttäuscht.

"Ich habe mich jetzt tagelang mit dem Parkettboden herumgespielt," sagte er zu der Frau im Grab. "So viele Löcher von deinen Schuhstöckeln, auch unter den Teppichen. Das heißt: Holz besorgen, Maß nahmen und kleine Stücke zuschneiden. Eine Heidenarbeit ! Dann muss man die Stellen schleifen und versiegeln, dreimal. Dazwischen stinkt es und man darf nicht drauftreten. Na ja ... jetzt ist alles wieder in Ordnung."

Elvira antwortete nicht. Das Erdreich war sehr feucht hier. Es hieß, dass der Verwesungsprozess zügig vonstatten ging. Er versuchte sich ihr Skelett vorzustellen. Der Sarg war sicher schon zerfallen, so wie der gelbe Pullover, den sie an ihrem Todestag getragen hatte. Die Jeans waren möglichweise noch intakt.

"Da nimmt man sich eine Frau, die über zehn Jahre jünger ist ... und dann das." Herr Fink hielt die Hände verschränkt, um Andacht zu halten und zu warten, ob die Witwe vielleicht noch auftauchte.

"Du weißt ja, dass es in der Bibel heißt: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Also leicht möglich, dass ich dich in absehbarer Zeit ersetzen werde. Manche sagen, dass man niemanden ersetzen kann, weil jeder einzigartig ist ... ich weiß nicht ... in den Funktionen sehe ich keine großen Unterschiede. Allerdings wäre eine andere Frau wahrscheinlich weniger eitel und kopflos ...".

Er dachte wieder an ihren Schädel und dann an die Implantate, die sie im Oberkiefer hatte.

"So ein Mund ist ein Sparschwein, Elvira, und deiner war ein ganz dickes Sparschwein. Du hast dir sogar den Siebener links oben ersetzen lassen. Jetzt liegt er da unten irgendwo herum. Aber Schwamm drüber. Du konntest ja nicht wissen, dass du ihn schon so bald nicht mehr brauchen würdest."

Herr Fink begann sich ein wenig zu langweilen und betrachtete den heulenden Engel, der angeblich ein Abbild seiner Urgroßmutter war. Auch eine früh verstorbene Fink, so wie seine Großmutter und seine Mutter. Den Fink-Frauen war kein langes Leben beschieden. Obwohl sie alle deutlich jünger als ihre Männer gewesen waren, hatte keine ihren Mann überlebt. Die Urgroßmutter hatte sich beim Polkatanzen derart echauffiert, dass sie in den Armen des Urgroßvaters gestorben war. Man vermutete einen angeborenen Herzfehler. Die Großmutter hatte den aus dem Krieg heimgekehrten Großvater gepflegt und sich am Typhus angesteckt. Er überlebte, sie nicht. Die Fink-Söhne wurden von ihren Vätern aufgezogen. Nachträglich betrachtet war es gut, dass er mit Elvira keine Kinder gezeugt hatte. Der alte Vater und die leidige Schwiegermutter waren Belastung genug.

"Deine Mutter ruft mich immer noch an," murmelte er, "aber nur, um mir jedes Mal reinzuwürgen, dass ich an deinem Unfall schuld bin. Das alte Miststück! Als ob nicht jedes Vorschulkind schon wüsste, dass man erst links, dann rechts schaut, bevor man eine Straße überquert. Du weißt, dass ich nichts getan habe. Ich habe nur gewunken."

Herr Fink dachte selten an den Unfall, weil er überzeugt war, dass zu viel Grübeln krank macht. Im Grunde genommen gab es auch nicht viel zu erinnern. Alles hatte sich in wenigen Sekunden abgespielt.

Elvira und er sollten am Morgen zum Grundbuchsgericht, weil sie ihn seit Monaten mit dem Wunsch bedrängte, als Miteigentümerin an Haus und Grundstück seines Vaters eingetragen zu werden. Da er selbst ja "nicht mehr der Jüngste war", wie sie es unverblümt formulierte, sollten im Falle seines Ablebens vor dem Vater alle rechtlichen Vorkehrungen getroffen sein. Der alte Vater hatte eingewilligt und ihn mit seiner Vertretung beauftragt. Alles hätte gutgehen können, wenn Elvira ausnahmsweise nicht ihrem Drang gefolgt wäre, immer und überall gefallen zu müssen. Wenn er sie fragte, für wen sie so viel Aufwand bei Frisur, Make-up und Kleidung betrieb, da er doch selbst keinen besonderen Wert darauf legte, antwortete sie schnippisch: "Für mich, für wen sonst?" Er glaubte ihr kein Wort. Sie wollte einfach jederzeit auf eine Begegnung mit dem Mann ihrer Träume vorbereitet sein. So auch diesmal.

Während er mit der Dokumentenmappe im Vorzimmer saß, föhnte sie ihr Haar, wechselte noch einmal die Kleidung und musste am Ende noch die Augenbrauen zupfen und bemalen. Es war klar, dass sie zu spät kommen würden. In einem Ausbruch von Wut stand er auf und verließ türenschlagend die Wohnung. Als er schon draußen und auf der anderen Straßenseite war, hörte er das Klappern ihrer Absätze und ihre empörten Rufe. Er drehte sich um, ohne stehen zu bleiben, schüttelte den Kopf und bedeutete ihr, dass sie sich beeilen solle. Im nächsten Moment sah er sie aufflattern wie ein Vogel. Dann lag sie reglos vor dem Wagen, der sie erfasst hatte.

"So, das war's dann für heute," murmelte er. "In zwei Wochen gibt's eine neue Kerze."

Draußen vor dem Tor traf er auf die Witwe vom Grab vis-à-vis. Sie begrüßte ihn herzlich und bedauerte, dass er schon am Weggehen war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie Lippenstift trug und ihre Fingernägel rosafarben lackiert hatte.

"Ja, wirklich bedauerlich," antwortete er kühl "aber für heute sind Sie leider zu spät."
 

petrasmiles

Mitglied
Super! Schön böse!
Aber man fragt sich doch, warum er überhaupt noch zum Grab geht - ach so, ja, wegen der Witwe :D

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

Mitglied
Danke !
Ja, wegen der hübschen Witwe, aber auch, weil er mit der Toten noch nicht fertig ist.

Herzliche Grüße,
Matula
 

Klaus K.

Mitglied
Matula,

"In zwei Wochen gibt's 'ne neue Kerze!" Ich habe mich gekringelt!
Am Dienstag geht es für ein paar Tage nach Wien, endlich mal wieder Kultur und Stil tanken.
Das brauchen einige Vertreter des "furor teutonicus" wie ich ab und zu. Hier ist es diesbezüglich ja eher völlig öd und leer. -
Danke, Felix Austria!
Mit Gruß, Klaus
 

Matula

Mitglied
Hallo Klaus K. !
Ja, es wird hier wieder viel gesungen, gefiedelt und geschauspielert. Du wirst Deine Freude daran haben. Die besseren Schriftsteller aber waren und sind - aus meiner Sicht - bei Euch daheim.

Danke und herzliche Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
Ach ja, Felix Austria!
Das war mein 'Schlachtruf' als ich vor Jahren von Düsseldorf nach Bonn mit dem Zug pendeln musste und wenn ich Glück hatte, erwischte ich einen österreichischen Zug, in dem man im Bordrestaurant noch rauchen durfte an den vorderen Tischen - Morgenkaffee ohne Kippchen? Geht gar nicht.
Und seit ich hier so tolle Autor*innen österr. Provinienz antreffe, schlägt ein Teil meines Herzens endgültig rot-weiss :)
 

Matula

Mitglied
Ja, selige Erinnerungen ... heute stopft man sich kleine Nikotinbeutel ins Maul, um daran zu zuzeln ... sehr zum Missfallen der Regierung, die orale Befriedigung nur in flüssiger Form und aus einheimischer Weinbauproduktion goutiert ... ach Gott ...
 

Klaus K.

Mitglied
Hallo Girls,

ach, ihr werdet mir immer symphatischer! Noch, noch viel sympathischer! Verbote, Regelungen, Gängelungen... und alles sind ja sensationelle Ideen! Auf einer Packung Zigaretten für 8 Euro sind inzwischen 5 Euro Steuern drauf. Und das aus einem Beitrag von diesem WDR ! Man glaubt es nicht, und die wollen ja alle 100 Jahre alt werden, bei bester Gesundheit natürlich, "geistig" topfit, obwohl das - leicht erkennbar - nie eine Einstellungsvoraussetzung für die Rasselbande dort war.-
Ein Leben ohne die geringsten aller Genüsse? Tabak ist Teufelszeug? Meine persönliche Freiheit beschneidet hier niemand!
Pfeife an, Reserve-Zigaretten her! Kaffee, subito! Sackzement, wo leben wir eigentlich?
Gruß, Klaus

P.S.: Ich darf mich nicht so aufregen.
 
Wahrscheinlich klebten noch Büschel dieser roten Haare an ihrem nackten Schädel
Hallo Matula,

nicht sehr logisch. Wie soll etwas an einem „nackten Schädel" kleben?

. Elvira und er sollten am Morgen zum Grundbuchsgericht,
Es gibt kein „Grundbuchgericht", jedenfalls nicht in Deutschland. Für Grundbuchberichtigungen bzw. Änderungen ist das Amtsgericht zuständig. Aber man kann sowieso nicht einfach so hingehen und was ändern lassen. Das muss über einen Notar abgewickelt werden.

. weil sie ihn seit Monaten mit dem Wunsch bedrängte, als Miteigentümerin an Haus und Grundstück seines Vaters eingetragen zu werden. Da er selbst ja "nicht mehr der Jüngste war", wie sie es unverblümt formulierte, sollten im Falle seines Ablebens vor dem Vater alle rechtlichen Vorkehrungen getroffen sein. Der alte Vater hatte eingewilligt und ihn mit seiner Vertretung beauftragt
So geht das nicht. Alle Beteiligten müssen zum Notar.

. Während er mit der Dokumentenmappe im Vorzimmer saß,
In welchem „Vorzimmer"? Ist hier nicht eher das Wohn- oder Schlafzimmer gemeint, während sie im Badezimmer ist und sich die Haare fönt etc.?

Klingt so, als wärst du in Gedanken beim Schreiben schon im Gericht gewesen. Da gibt es ein „Vorzimmer."

Die Geschichte an sich finde ich trotzdem gut, sehr unterhaltsam geschrieben.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:

Matula

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Zu Deinen Einwänden:

1. Wenn an einem Totenschädel noch Reste von Kopfhaut sind, bleibt auch das Haar teilweise erhalten. Es verwest erst nach vier bis fünf Jahren.
2. In Österreich gibt es in jeder Landeshauptstadt und in größeren Städten ein Grundbuchsgericht, das auch so bezeichnet wird. "Amtsgerichte" kennen wir dagegen nicht.
3. Dort, wo es keine Anwaltspflicht gibt, können volljährige Personen, vor allem Familienmitglieder, mit entsprechender Vollmacht als Vertreter in Zivilrechtsangelegenheiten eingesetzt werden. Auch hier beziehe ich mich auf die österreichische Rechtslage.
4. Den Einwand mit dem Vorzimmer verstehe ich nicht. Ich meine damit den Raum, in den man nach dem Öffnen der Wohnungstür tritt. Dieser Raum kann in Altbauten recht groß sein und einen Tisch samt Sitzgelegenheit bieten, weil man unangekündigte oder fremde Besucher nicht gleich vorlassen wollte. Sie sollten warten, bis der Herr oder die Dame des Hauses Zeit für sie hatte. In einem Gericht würde man hierzulande von "Entrée" oder Vor- oder Warteraum sprechen. Die Bezeichnung "Vorzimmer" würde zu privat klingen.

Schöne Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Matula,
ich wollte hier schon länger mal schreiben. Das ist wieder ein sehr eleganter Text. Ich mag, dass Herr Fink und Elvira sich nach meiner Lesart nicht viel genommen haben. Mir gefällt auch die Anschaulichkeit, wie er sich seine zerfallende Frau vorstellt. Das gibt einen interessanten Kontrast zu der Friedhofsspießigkeit mit Engeln und Lampen .
Du ersparst uns die ausgelutschte Pointe, dass er ihren Tod willentlich verursacht hat. Die Psychologie die du hier aufdröselt, finde ich viel spannender. Dazu eine Frage: In welchem Sinne meinte er, dass die Witwe nur -für heute- zu spät ist? Ist er einfach unsicher geworden, ob er es noch mal wagen soll?

Bei Vorzimmer und Grundbuchsbericht habe ich auch gestutzt und musste es mir aus dem Zusammenhang erschließen. Da trennt uns halt die gemeinsame Sprache. Aber auch das hat seinen Reiz ;-)

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo Matula,

vielen Dank für die Erklärungen! Interessant, wie unterschiedlich das in Österreich und Deutschland gehandhabt wird.

Zum Vorzimmer, ja, da unterscheidet uns tatsächlich die Sprache. Es gibt im Österreichischen noch ein Wort, das im Deutschen keine Entsprechung hat und mir mal in einem Krimi auffiel: Lokalaugenschein.

LG SilberneDelfine
 

Matula

Mitglied
Hallo lietzensee,

danke für Deine freundliche Kritik - und ja: Herr Fink hat fürs Erste von einer näheren Bekanntschaft Abstand genommen. Die hübsche Witwe hat ihn an diesem Sonntag so lange warten lassen (in Gedanken ist er ja quasi mit ihr verabredet), dass er unwillkürlich wieder an die Umstände des Todes seiner Frau denken musste. Deren Eitelkeit zu Lebzeiten ist ihm wichtig, weil sie ihn in gewisser Weise entlastet und seine Wut darüber ihm hilft, mit ihrem Tod besser zurecht zu kommen. Wenn er nun bemerkt, dass die Witwe Zeit mit kosmetischen Verschönerungen vertrödelt hat, fühlt er sich an die Ehefrau erinnert. Aber unbewusst nimmt er auch wahr, dass diese Verschönerungen ihm gelten könnten. Daher ist sie nur "für diesmal" zu spät.

Hallo SilberneDelfine,

es gibt auch ein Restaurant namens "Lokalaugenschein", wo man köstliche Wiener Schnitzel bekommt. - Nur für den Fall, dass es Dich einmal ins Burgenland an den Neusiedler See verschlägt !

Herzliche Grüße,
Matula
 

Bo-ehd

Mitglied
Es war Sonntag und Herr Fink stand wieder am Grab der Gemahlin, in das man sie vor drei Jahren gelegt hatte.

"Servus," murmelte er und hätte beinahe "wie geht's?" hinzugefügt.

Ein paar Grashalme waren seit seinem letzten Besuch vor zwei Wochen zwischen Sockel und Marmorplatte gesprossen. Er entfernte sie sorgfältig und hoffte, dass sich die Witwe vom Grab vis-à-vis einfinden werde. Sie war in seinem Alter, schon grauhaarig, aber noch ziemlich hübsch. Elvira hatte sich immer die Haare gefärbt: mahagonirot. Wahrscheinlich klebten noch Büschel dieser roten Haare an ihrem nackten Schädel.

Der leicht bekleidete Engel, der seit Urgroßvaters Zeiten den Grabstein umklammerte und sich die Seele aus dem marmornen Leib weinte, war an der Schulter verschmutzt. Herr Fink, für solche Fälle gerüstet, holte einen Lappen und eine Drahtbürste aus seinem Rucksack und ging sehr bedächtig ans Werk.

"So, jetzt ist wieder alles sauber," seufzte er zufrieden "fehlt nur noch das Licht."

Immer wenn er die Grablaterne öffnete, um eine neue Kerze hineinzustellen, hoffte er, dass ihm die Witwe eine Nachricht hinterlassen hatte. Aber das geschah natürlich nie und er war jedes Mal enttäuscht.

"Ich habe mich jetzt tagelang mit dem Parkettboden herumgespielt," sagte er zu der Frau im Grab. "So viele Löcher von deinen Schuhstöckeln, auch unter den Teppichen. Das heißt: Holz besorgen, Maß nahmen und kleine Stücke zuschneiden. Eine Heidenarbeit ! Dann muss man die Stellen schleifen und versiegeln, dreimal. Dazwischen stinkt es und man darf nicht drauftreten. Na ja ... jetzt ist alles wieder in Ordnung."

Elvira antwortete nicht. Das Erdreich war sehr feucht hier. Es hieß, dass der Verwesungsprozess zügig vonstatten ging. Er versuchte sich ihr Skelett vorzustellen. Der Sarg war sicher schon zerfallen, so wie der gelbe Pullover, den sie an ihrem Todestag getragen hatte. Die Jeans waren möglichweise noch intakt.

"Da nimmt man sich eine Frau, die über zehn Jahre jünger ist ... und dann das." Herr Fink hielt die Hände verschränkt, um Andacht zu halten und zu warten, ob die Witwe vielleicht noch auftauchte.

"Du weißt ja, dass es in der Bibel heißt: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Also leicht möglich, dass ich dich in absehbarer Zeit ersetzen werde. Manche sagen, dass man niemanden ersetzen kann, weil jeder einzigartig ist ... ich weiß nicht ... in den Funktionen sehe ich keine großen Unterschiede. Allerdings wäre eine andere Frau wahrscheinlich weniger eitel und kopflos ...".

Er dachte wieder an ihren Schädel und dann an die Implantate, die sie im Oberkiefer hatte.

"So ein Mund ist ein Sparschwein, Elvira, und deiner war ein ganz dickes Sparschwein. Du hast dir sogar den Siebener links oben ersetzen lassen. Jetzt liegt er da unten irgendwo herum. Aber Schwamm drüber. Du konntest ja nicht wissen, dass du ihn schon so bald nicht mehr brauchen würdest."

Herr Fink begann sich ein wenig zu langweilen und betrachtete den heulenden Engel, der angeblich ein Abbild seiner Urgroßmutter war. Auch eine früh verstorbene Fink, so wie seine Großmutter und seine Mutter. Den Fink-Frauen war kein langes Leben beschieden. Obwohl sie alle deutlich jünger als ihre Männer gewesen waren, hatte keine ihren Mann überlebt. Die Urgroßmutter hatte sich beim Polkatanzen derart echauffiert, dass sie in den Armen des Urgroßvaters gestorben war. Man vermutete einen angeborenen Herzfehler. Die Großmutter hatte den aus dem Krieg heimgekehrten Großvater gepflegt und sich am Typhus angesteckt. Er überlebte, sie nicht. Die Fink-Söhne wurden von ihren Vätern aufgezogen. Nachträglich betrachtet war es gut, dass er mit Elvira keine Kinder gezeugt hatte. Der alte Vater und die leidige Schwiegermutter waren Belastung genug.

"Deine Mutter ruft mich immer noch an," murmelte er, "aber nur, um mir jedes Mal reinzuwürgen, dass ich an deinem Unfall schuld bin. Das alte Miststück! Als ob nicht jedes Vorschulkind schon wüsste, dass man erst links, dann rechts schaut, bevor man eine Straße überquert. Du weißt, dass ich nichts getan habe. Ich habe nur gewunken."

Herr Fink dachte selten an den Unfall, weil er überzeugt war, dass zu viel Grübeln krank macht. Im Grunde genommen gab es auch nicht viel zu erinnern. Alles hatte sich in wenigen Sekunden abgespielt.

Elvira und er sollten am Morgen zum Grundbuchsgericht, weil sie ihn seit Monaten mit dem Wunsch bedrängte, als Miteigentümerin an Haus und Grundstück seines Vaters eingetragen zu werden. Da er selbst ja "nicht mehr der Jüngste war", wie sie es unverblümt formulierte, sollten im Falle seines Ablebens vor dem Vater alle rechtlichen Vorkehrungen getroffen sein. Der alte Vater hatte eingewilligt und ihn mit seiner Vertretung beauftragt. Alles hätte gutgehen können, wenn Elvira ausnahmsweise nicht ihrem Drang gefolgt wäre, immer und überall gefallen zu müssen. Wenn er sie fragte, für wen sie so viel Aufwand bei Frisur, Make-up und Kleidung betrieb, da er doch selbst keinen besonderen Wert darauf legte, antwortete sie schnippisch: "Für mich, für wen sonst?" Er glaubte ihr kein Wort. Sie wollte einfach jederzeit auf eine Begegnung mit dem Mann ihrer Träume vorbereitet sein. So auch diesmal.

Während er mit der Dokumentenmappe im Vorzimmer saß, föhnte sie ihr Haar, wechselte noch einmal die Kleidung und musste am Ende noch die Augenbrauen zupfen und bemalen. Es war klar, dass sie zu spät kommen würden. In einem Ausbruch von Wut stand er auf und verließ türenschlagend die Wohnung. Als er schon draußen und auf der anderen Straßenseite war, hörte er das Klappern ihrer Absätze und ihre empörten Rufe. Er drehte sich um, ohne stehen zu bleiben, schüttelte den Kopf und bedeutete ihr, dass sie sich beeilen solle. Im nächsten Moment sah er sie aufflattern wie ein Vogel. Dann lag sie reglos vor dem Wagen, der sie erfasst hatte.

"So, das war's dann für heute," murmelte er. "In zwei Wochen gibt's eine neue Kerze."

Draußen vor dem Tor traf er auf die Witwe vom Grab vis-à-vis. Sie begrüßte ihn herzlich und bedauerte, dass er schon am Weggehen war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie Lippenstift trug und ihre Fingernägel rosafarben lackiert hatte.

"Ja, wirklich bedauerlich," antwortete er kühl "aber für heute sind Sie leider zu spät."
 



 
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