Auf dem Weg

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Aufschreiber

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Ich gehe. Gitarrenklänge füllen mir die Ohren, der Cowboyhut schlappt schon leicht, ist im Niesel zu einem nassen Etwas geworden, von dessen Krempe mir kleine Wassergüsse die Schultern netzen.


Das einfache Vorspiel ist beendet, Johnny beginnt zu singen. Spätestens bei den weltberühmten vier Worten ist der Niesel vergessen und ich spüre die nassen Schultern meiner Westernjacke nicht mehr. "I Walk the Line".


Ganz unbewusst bin auch ich im Gehen zur Straßenmitte gedriftet, wo eine gelbe Linie die Fahrbahn in zwei Spuren zerschneidet. Diesem Strich folge ich nun, genau so, wie Johnny es von sich behauptet. Treu und unnachgiebig in seiner Zuneigung zu seiner Liebsten, fest auf der Linie der guten Moral.

Nun, das beanspruchte zumindest er für sich. Wie ist es denn mit mir?
 

Treu, oh ja! Treu bin auch ich immer gewesen, ohne jede Frage, ohne jede Ausnahme, den berühmten "Ausrutscher", den "dummen Fehler" - oder wie immer die Untreuen ihre Verfehlung dann zu rechtfertigen suchen. Aber ist Treue denn immer nur einem Menschen gegenüber von Belang? - Einem geliebten (ja, auch einem nicht mehr geliebten) Partner treu sein? - Erschöpft sich der Begriff darin?


Johnny singt noch immer. Ich nehme das Telefon und tippe auf das kleine Icon mit den beiden kreisrunden Pfeilen. Ich will jetzt kein anderes Lied hören, nur dieses, bei dem ich so schön sinnieren kann, auf der gelben Linie, die den Hin- vom Rückweg trennt. Bei der dritten Wiederholung des Songs fällt mir ein, dass ich gar nicht weiß, ob der Johnny denn wirklich so treu gewesen ist, seiner Frau, der Vivian Liberto.

Schließlich sind sie elf Jahre nach dem Erscheinen des Liedes geschieden worden.

Sollte es also nur die daheim wartende Frau beruhigen, die später schrieb:

"Jedes Mal, wenn ich diesen Song von Johnny gehört habe, egal ob es tausende Male gewesen ist, wusste ich, er hat jedes der Worte für mich gesungen."?

Ich weiß es nicht.


Ein Auto kommt von hinten angefahren. Der Fahrer lässt es ganz langsam an mich heran rollen, dann hupt er und bringt den Motor zum Aufheulen.

Vielleicht ärgert er sich, dass "die bescheuerte Kuh" hier auf der gelben Linie lang spaziert? - Kann schon sein. Es bewegt mich nicht. Er hat so viel Platz, dass er bequem auch noch ein Fahrrad überholen könnte, ohne, dass meine Anwesenheit ihm Probleme bereitete.


Ich laufe. Auch das Wasser läuft ... mir mittlerweile in den Nacken und den Rücken hinab. Mein Cowboyhut hat aufgegeben, ginge jetzt auch als steyrischer Schäferkopfschmuck durch. Ich stelle mir vor, wie ich den Borstenpinsel oder auch nur einen Kräuterzweig ins Hutband ramme und zwischen den Pfützen einen Schuhplattler hinlege. Meine Mundwinkel verziehen sich, was sicher ziemlich bescheuert aussieht.

Wer mich sieht, hält mich garantiert für verrückt. Der flappende Filz tropft ringsum, aber ich marschiere, ein grenzdebiles Grinsen im Antlitz, den gelben Strich entlang.
Ob ich jodeln kann?
 


Johnny drängt sich wieder in mein Bewusstsein. Er beginnt das Lied zum fünften, ... zwanzigsten, ... tausendsten Mal ...?
Egal. Sing, Johnny! Ich will dir glauben, wie deine Vivian, ... vielleicht.

Zurück zur Treue schlechthin. Muss man? - Ich meine, muss man zwingend anderen treu sein? - Auch dann, wenn die nicht ...?

Ich merke, wie meine Gedanken unschärfer werden, als ob sie vom Niesel aufgeweicht würden. "Treue ...", versuche ich, sie zu disziplinieren, die wandernden Gedanken. Doch die lassen sich nicht so einfach kontrollieren.

"I walk the line" ... sie nicht. Vielleicht passt ein gelber Strich ja nicht zu disziplinierten Gedanken?


Der Johnny ... Ein Jahr später hat er wieder geheiratet, die June Carter. Bei der fiel das mit der Treue sicher leichter, denn die sang auch Country. - War also meistens dabei, wenn er reiste, der Star Johnny. War sie der Grund für die Scheidung gewesen? - Ich kann es nicht sagen. Können Menschen, die nie treu waren, irgendwann dann doch ...? Und was ist mit den tollen Typen, deren Maxime es ist, abzuschleppen, was geht? "Die Tiere paaren sich auch wild mit einander ...", rechtfertigt das Untreue?


Die gelbe Linie führt mich. Ich muss nicht einmal sehr darauf achten, sie nicht zu verlassen. Sie ist da, in meinem ... Unterbewusstsein. Ich bin ihr treu. - Oder sie mir? Hat das eigentlich überhaupt eine Bedeutung, wenn keiner den anderen ... betrügt? ... verlässt?


Bernhard ruft an.

"Wann kommst du denn heim? Ich hab eine Überraschung für dich."

"Ich brauche noch eine Weile. Bin zu Fuß."

"Zu Fuß?" Ich sehe förmlich, wie er sich an den Kopf greift, seine Augen verständnislos aufgerissen.

"Warum denn nicht? - Lässt sich prima nachdenken, wenn man so spaziert und Musik hört."

"Na dann ... Viel Spaß noch!"
Er klingt ein bisschen verärgert, vielleicht, weil ich nicht sofort zu ihm eile, wo er doch "eine Überraschung" hat.


Dann soll er doch. Ich wandere mit Johnny. Der singt schon wieder: "Because you're mine, I walk ..."

Ich beschleunige nicht, bleibe meiner Linie treu, bleibe mir treu?

Ja. so will ich es betrachten, auch, wenn da im Hintergrund dieses fiese kleine Stimmchen zu jammern beginnt: "Beeil dich doch ein bisschen! Bernhard wartet. Vielleicht geht er einfach, wenn du nicht bald kommst. Und dann ist er wieder wochenlang beleidigt und die Überraschung fällt auch ins Wasser."


"Nix da!", meckere ich. In Gedanken natürlich, denn wenn ich jetzt auch noch damit anfinge, mitten auf der Straße, im beschissensten Niesel, mit einem ehemaligen Cowboyhut auf dem Kopf und ... noch immer dem debilen Grinsen, das ich mir mittlerweile selbst nicht mehr erklären kann, im Gesicht, dann wäre mir eine Autofahrt sicher. Zur Klapse.



Die Kreuzung kommt näher. Quatsch! - Die kommt nicht, ich nähere mich ihr. Meine Linie endet. Eigentlich teilt sie sich auf, wird zu einer schraffierten Ellipse. Ich versuche anfangs noch, ihr mit je einem Fuß zu folgen. Wegen der Treue ... Aber das klappt nicht, Spagat konnte ich noch nie. Meine Beine sind schon so nicht modeltauglich, von der Länge und vom Umfang her. Hier versagen sie nach dem vierten Schritt. Ich müsste mich entscheiden, kann es aber nicht.
 Oder will ich nicht?
Was, wenn manches, das wir "untreu" nennen, nur durch solch eine Spaltung der Linie entsteht,
durch die Unfähigkeit zur Entscheidung?



Ich verlasse die Linie, lasse Johnny was anderes singen,
 eile heim,
zu Bernhard, der treu und brav meiner harrt, mit einer Überraschung.

 
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Hagen

Mitglied
Hallo Aufschreiber,
vielen Dank für diese schöne Geschichte, die ich gere gelesen habe.
Genial fand ich die Umsetzung von "I Walk the Line" auf die Markierung der Straße.
Ist mir auch schon so gegangen, aber nie hätte ich das in Verbindung mit der "Line on the street" gebracht.
Geniale Idee.

Nur, als es wirklich interessant wurde, hört die Geschichte auf ...
Ich möchte gerne wissen, was die 'Überraschung' ist ...

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter!
Herzlichst
Yours Hagen

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nichts endet wie geplant!
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo Hagen,

vielen Dank für Dein Feedback. - Ja, die Überraschung wird wohl ein Geheimnis bleiben, weil die Intention eher in der Betrachtung der 'Linie' und den Gedanken zum Thema Treue lag.
Aber wer weiß, vielleicht küsst mir ja meine Muse eine neue Idee ins Hirn ;o) ...

Beste Grüße, Steffen.
 



 
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