Auf der Rückreise

Jean-Claude

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Wir mußten stundenlang durch die Wüste gefahren sein. Ich kann es nicht mehr sagen. Das Zeitgefühl war in der Weite der unendlichen Einöde verschwunden. Wir fuhren vorbei an verlassenen Beduinenkarawanen immer weiter nach Norden.
Die Hitze drückte auf die Gemüter und erschlaffte allen Lebenswillen. Meine Kraft schien aus den Gliedern gewichen zu sein. Jetzt nur nicht bewegen! Jede Geste, jedes Wort war eine Tortur. Mein Körper hing kraftlos im Rücksitz des Geländewagens, und meine Augen brannten als würden sie von tausend feurigen Zungen abgeleckt. Jemand mußte mir eine Bleispritze verabreicht haben, denn auch das Rütteln des Geländewagens auf der höckerigen Fahrbahn konnte mich nicht aus dieser, in Gips gegossenen, Welt holen. So muß sich Sterben anfühlen; allmählich entweichen die Kräfte, die Gedanken erlahmen und ein angenehmes Nichtmehrwollen, Geschehenlassen versteinert den Körper.

Wir konnten es kaum glauben, als wir die ersten Häuser am Autofenster vorbei blitzen sahen. Ärmliche Steinhütten säumten den Weg zur großen Stadt. Kleine Kinder spielten dicht neben dem hektischen Straßenverkehr, und Frauen schleppten schwere Lasten meisterhaft auf ihren Köpfen nach Hause, die Hüften wippend als würden sie wie Primaballerinen tanzen.
„Wir erreichen Tanger!“ Ala blickte das erste Mal, seit wir unterwegs waren, in den Rückspiegel. Seine Augen waren ermattet und geheimnisvoll sein Lächeln.
„Bald werdet ihr auf dem Schiff sein.“ Er hatte recht, denn der Hafen war nicht mehr weit weg. Wir fuhren durch die verwinkelten Gassen und Straßen der Altstadt neben einer riesigen Moschee vorbei. Morgen würde ich in Algeciras in den Zug steigen und gemütlich Nachhause fahren. In Gedanken war ich schon Zuhause in meiner kleinen Mansarde mit den gestapelten Büchern, den unbeantworteten Briefen und dem fortwährenden Ticken der alten Pendeluhr, ein Geschenk meiner Großmutter.
Und dann kamen wir an. Ich mußte nur noch ein Ticket für die Überfahrt nach Spanien besorgen. Gerade als ich mich auf den Weg zum Ticketschalter machen wollte, hielt mich Ala am Arm zurück. Er wolle das machen, meinte er mit einem Augenzwinkern. Gleich darauf kam er wieder zurück und präsentierte mir die Fahrkarte, die wesentlich preiswerter war als ein gewöhnliches Ticket. Als ich ihn fragte, wie er das gemacht habe, winkte er lächelnd ab.
„Du hilfst mir, und ich helfe dir, das ist normal.“
Ich verstand seine Worte nicht, aber es war mir in diesem Moment auch gleichgültig. Ich wollte nur weg von hier, zurück in die Schweiz.

Die dreistündige Überfahrt von Tanger durch die Straße von Gibraltar war sehr erfrischend. Wir saßen alle auf Deck und genossen die salzige Meeresluft, die mir durch die Heftigkeit der Windböen fast den Atem raubte. Der Himmel war stahlklar und der Vollmond auf dem Meer unbeschreiblich schön. Das muß man gesehen haben! Alle waren vergnügt und fröhlich, wahrscheinlich freuten sie sich auf Spanien, die Heimfahrt und ihre Familien, die auf sie warteten. Der Atlantik zeigte sich ziemlich stürmisch, so daß immer wieder Gischtspritzer bis zur hochgelegenen Reling und die Gesichter der gutgelaunten Passagiere gelangten.
Im Dunstschleier der Morgenfrische glaubte ich die spanische Küste steil aufragen zu sehen. War das ein Leuchtturm? Das konnte nicht sein, denn das Licht bewegte sich auf uns zu. Von Weitem hörte ich eine Stimme. Sie wurde lauter, und ich sah das Boot der spanischen Küstenpolizei. Hat uns der stürmische Atlantik in verbotene Gewässer getrieben, oder sind wir vom Kurs abgekommen? Wir mußten der Küstenpolizei folgen. Sicher wurden wir an die iberische Küste gelotst und unsanft vom Boot gezerrt. Ich verstand nichts mehr. Wir wurden verhaftet.

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Die günstige Fahrkarte, der stumme Ala, die rasante Fahrt durch Marokko gegen Norden und die vergnügten Passagiere. Ich befand mich auf einem Schlepperboot, und nun in einer verstaubten Gefängniszelle in Südspanien und wußte nicht, wann ich hier wieder raus konnte. Aus der Traum von der gemütlichen Heimfahrt, und dem Wiedersehen mit meinen Freunden daheim. Wie sollte ich der spanischen Polizei bloß klar machen, daß ich nur auf der Rückreise war?
 



 
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