Die weißen Streifen zogen endlos in der Dunkelheit dahin, einer nach dem anderen, und obwohl es kurz nach Mitternacht war, war Magda hellwach. Dies mochte an dem ungewöhnlich sternklaren Himmel liegen, der die Nacht erhellte. Oder auch an der kühlenden Hitze, die durch die heruntergekurbelte Fensteröffnung drang. Oder aber es war das Adrenalin, das seit Stunden durch ihre Adern strömte, das sie wachhielt, ihr Herz zum schnelleren Schlagen bewegte, schneller und immer schneller, so dass sie fast keuchend einatmen musste, ihr den Schweiß auf die Stirn trieb, ihren Magen umdrehte und ihre Füße kribbeln machte.
Neben ihr saß Mark und fuhr. Seine großen Hände umgriffen fast verkrampft das Lenkrad. Magda sah, wie die kleinen Knöchelchen auf seinem Handrücken weiß hervorstanden. Auch in seinem Gesicht arbeitete es. Ganz deutlich konnte man sehen, wie er seine Kiefer aufeinander presste und hin-und herschob. Ab und an nahm Mark eine Hand vom Steuer, um den Schweiß seiner Hände an seiner kurzen Hose abzuwischen. Dies war alles, was er tat. Das übrige war Schweigen.
Magda drehte sich ruckartig nach hinten um. Hier auf der Rückbank mit braunem Kordbezug saß Jo, den Kopf mit den strohblonden kurzen Haaren scheinbar nach hinten verrenkt. Sein Mund war halb geöffnet, so dass ein wenig Speichel heraustropfe, der aber sogleich wieder auf dem Kinn trocknete. Magda hätte dies sicherlich widerwärtig gefunden, hätte sie Jo nicht schon länger gekannt. Freundschaftliche Intimitäten wie diese konnten in einem keinen Ekel mehr hervorrufen, sobald man beim Kotzen einmal den Kopf des anderen gehalten hatte. So stieß sie heute nur noch seine Auswahl an Partyklamotten ab. Heute Nacht trug er zum Beispiel ein schreiend gelbes Hemd und eine silberfarbene Hose. Beide Kleidungsstücke waren ein wenig bekleckert. Ob es nun Speichel, Tequila oder Kotze war, konnte Magda nicht sagen, dafür hatte sie ihn zu früh am Abend aus den Augen verloren. Jetzt war Jo der einzige, der im Wageninneren den Geruch von Alkohol ausschwitzte. Was vielleicht auch erklären konnte, warum er in dieser unbequemen Haltung in diesen unglaublich tiefen Schlaf gefallen war.
Magda drehte sich mit dem Oberkörper mit einem Plumps nach vorne um und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Die Autobahn war zu Beginn der Fahrt noch ziemlich voll gewesen, lauter Autos mit dröhnenden Bassboxen voll schriller Partymenschen auf der Gegenspur. Sie kamen aus dem Umland nach Berlin, weil es sonst nichts zu tun gab. Der Weg hatte die drei durch die Vororte der Stadt geführt, und auch wenn die Straße am Anfang mit hohen Mauern einbetoniert gewesen war, so hatte man doch die endlosen Reihen von Hochhäusern erkennen können, die den Weg nach Norden gesäumt hatten.
Jetzt schien es, als hätte sich die Strecke beruhigt. Die Kurven waren weniger eng geworden und die Fahrzeuge um sie herum weniger zahlreich. Nun gab es keine Mauern mehr und auch keine Häuser. Um sie herum war es tiefe Nacht. Magda vermutete abgeerntete Felder jenseits der Fahrbahn. Vielleicht ein Bauernhaus oder zwei. Vielleicht sogar einige Kühe, die hier schliefen. Sofern die Bauern ihre Kühe auf den Weiden stehen ließen über Nacht. Das wusste Magda als Stadtkind nicht so genau.
Nun, da die Straße ruhiger und leerer geworden war, ließ die Anspannung in ihr nach. Magda rutschte in ihrem Sitz ein wenig nach unten und lehnte den Kopf an. Ihre Augen schloss sie jedoch nicht. Dafür war sie viel zu wach.
Marks innere Unruhe hingegen ließ sich nicht so leicht vertreiben. Er musste sich schwer beherrschen, um nicht den Wagen unsinnig zu beschleunigen. Denn seit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, hatten sie alle Zeit der Welt. Er spürte, wie der Schweiß ihm immer wieder in die Augen lief und ihm die Sicht nahm. Mit dem linken kurzen Ärmel seines Hemdes versuchte er dann, Stirn und Augen trocken zu reiben. Er war nicht müde, aber dieses Schweißproblem machte ihm sehr zu schaffen. Es lenkte ihn von seiner eigentlichen Aufgabe, dem Fahren, ab.
Jo hinter ihm schlief. Mark wusste nicht, ob Jo es bequem hatte oder ob er jeden Augenblick aufwachen würde, um den Wagen vollzukotzen. Jo war berühmt dafür. Aber es interessierte Mark auch nicht weiter. Es war sowieso Jos Auto und nicht seines. Ob es nun Jos Pech war, ausgerechnet jetzt dazusein, oder sein Glück, das konnte Mark nicht sagen. Ohnehin war es unsinnig, sich mit Jo weiter zu beschäftigen. Jo war einfach da. Darum widmete Mark seine volle Konzentration wieder der Straße.
Die Zivilisation war geringer geworden. Links und rechts von ihnen gab es keine Häuser mehr und auch keine Straßenbeleuchtung. Die Scheinwerfer waren das einzige Licht weit und breit. Eine verheerende Tatsache für all die Insekten, die gegen die Leuchten und die Windschutzscheibe des Wagens prallten und aufgrund ihres hohen Eiweißgehalts klebenblieben. Je weiter sie fuhren, desto öfter schienen Insekten ihr Leben an diesem alten Auto zu lassen. Zudem schienen die Biester auch noch immer größer zu werden.
Die Autobahn führte immer weiter Richtung Norden. Sie führte die drei zum Meer.
Nun da sie ein wenig ruhiger und wieder sie selbst geworden war, öffnete Magda das Handschuhfach für eine nähere Inspektion. Zwischen längst abgelaufenen Kondomen und Bleistiften (wusste dieser Wahnsinnige nicht, dass man Kondome nicht im Handschuhfach aufbewahrte?) entdeckte sie auch ein halbgerauchtes Päckchen Zigaretten. Eigentlich rauchte sie nicht, nur auf Partys, und so sehr sie sich auch davon zu überzeugen versuchte, dies hier war KEINE Party. Dies war purer Ernst. Aber allein schon um den Alkoholgeruch aus dem Auto zu verscheuchen, zündete sie sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Mark sah kurz missbilligend zu ihr rüber, sagte aber nichts. Hätte sie länger darüber diskutiert, sie hätte die Zigarette nicht angesteckt.
Sicher, früher am Abend waren alle drei auf einer Party gewesen. Sonst wäre Jo ja jetzt auch nicht so eine unerträgliche Schnapsleiche. Aber dann hatten sie die Party verlassen, waren in Jos Auto gestiegen und losgefahren. Jo selbst hatte das Auto nicht in der selben Absicht bestiegen. Ihn hatten sie erst entdeckt, als sie schon auf dem Zubringer zur Autobahn gewesen waren. Da war es schon zu spät gewesen, um Jo rauszuschmeißen. Also hatten sie beschlossen, ihn im Auto zu lassen. Immerhin war es sein Wagen. Und die Erfahrung hatte gelehrt, dass nichts und wieder nichts Jo in diesem Zustand ernüchtern oder überhaupt aufwecken konnte.
Mark, dieser Langeweiler, warf ihr schon wieder einen Blick zu, diesmal ärgerlicher. Magda ergab sich dieser stummen Gewalt und warf die Zigarette halbgeraucht aus dem Fenster. Sie entschuldigte sich nicht, zog die Schuhe aus und legte die nackten Füße aufs Armaturenbrett. Noch so ein stummer Blick, dachte sie, und ich schreie.
Marks Aufregung hingegen ließ sich nicht drosseln. Er hätte sich gern beruhigt, aber es schien, als ob mit jedem Kilometer sein Ärger mehr wuchs. Was machte er hier eigentlich? Warum saß er hinter dem Steuern eines Autos, das fast so alt war wie er selbst und fuhr mitten in der Nacht zum Meer? Warum saß Magda neben ihm?
Warum Jo hinter ihm saß, war klar. Es war ja Jos Auto. Aber was hatte ihn geritten, einfach so von der Party abzuhauen. Und dann auch noch mit Magda.
Magda war Jos beste Freundin. Viele Schwule haben ein Mädchen als beste Freundin, und Mark hatte auch eigentlich nichts dagegen, dass sein Freund mit Mädchen über intime Dinge quatschte. Aber Magda war nicht gerade das, was man als angenehmen Menschen bezeichnen würde. Ihr Egoismus schien grenzenlos. Ihre Art, Menschen in Schubladen zu stecken und diese fest abzuschließen, war eine perfekt ausgearbeitete Taktik ihrerseits, mit ihrer Umgebung umzugehen. Sie war launisch und exzentrisch. Wäre sie für Jo nicht eine so große Hilfe im Leben, dann hätte Mark ihr schon längst die Meinung gesagt und sie anschließend tödlich ignoriert. So aber hatte er Jo zuliebe geschwiegen, und Magda so gut es ging ohne offene Konfrontation ignoriert.
An diesem Abend auf der Party, da hatte sich Jo schon unglaublich früh dem Absturz hingegeben. Mark und Magda hatten dies zwar bemerkt, waren aber beide unabhängig voneinander dem Partyrausch verfallen. Erst zwei Stunden später oder so hatte sich Mark aufgemacht, seinen Freund zu suchen. Er hatte ihn auch auf dem Parkplatz nicht gefunden, aber dafür war ihm Magda, in Tränen aufgelöst, in die Arme gelaufen, und stumm hatte sie ihn an die Hand genommen und in Jos Auto gesetzt hatte. „Fahr,“ hatte sie gesagt. Und: „Fahr los“ als er noch gezögert hatte, und „Nun fahr schon endlich!“, als er den Schlüssel immer noch nicht umgedreht hatte.
Da er wusste, dass es besser war zu tun, was Magda wollte, hatte er schließlich den Wagen gestartet und war losgefahren. Zuerst war es ihm nicht bewusst gewesen, aber im Laufe der Fahrt, schon bevor sie den schlafenden Jo auf der Rückbank entdeckt hatten, hatten beide im stillen Einvernehmen beschlossen, zur Ostsee hinaus zu fahren. Die Nacht war so klar und warm, und nach dieser stickigen und emotional aufgewühlten Nacht war es die beste Idee gewesen, die ihnen hatte einfallen können. Einer Kompassnadel gleich, bewegten sie sich nun in Richtung Nordpol.
Um die Anspannung durch eine kleine Pause zu lösen, blinkte Mark kurz vor einem Parkplatz rechts und fuhr raus. „Warum zum Teufel fährst du raus?“ fragte Magda, nahm die Füße vom Armaturenbrett und setzte sich gerade auf. „Ich brauch ne Pause. Ich komm da noch nicht so drauf klar, diese ganze Aktion hier mein ich, einfach abzuhauen,“ antwortete Mark und brachte den Wagen zum Stehen. Magda stieg aus. Das war typisch Mark, genau so, wie sie ihn sich immer schon vorgestellt hatte. Langweilig und verkrampft.
Der Parkplatz war zu dieser gottlosen Zeit menschenleer. Die Luft war immer noch unerträglich warm, aber immerhin nicht mehr so trocken wie in der Stadt. Trotzdem regte sich kein Lüftchen. „Wie weit ist es noch?“ wollte Magda wissen. Mark zuckte mit den Schultern und ging zu den Picknicktischen auf der anderen Seite des Parkplatzes. Magda tippelte barfuß hinterher. Dieses Schweigen machte sie noch wahnsinnig.
„Du könntest ruhig mal den Mund aufmachen,“ fauchte sie, als sie vor Mark stand. Dieser hockte auf einem der originellen Baumstammbänke und betrachtete still die funkelnden Sterne. Als Antwort folgte Mark ihrem Wunsch, öffnete demonstrativ den Mund und hielt ihn der Nervensäge hin.
Sehr witzig, dachte Magda erbost. Und dann dachte sie, na warte!, und schob ihm, schneller als Mark denken konnte, die Zunge in den Mund. Mark jedoch, von dem sie dies niemals erwartet hätte, küsste sie zu ihrem Erstaunen zurück.
Magda ließ sich auf die Bank neben Mark fallen. „Wieso hast du das gemacht?“ fragte sie. „Was gemacht? Warum hast DU das gemacht?“ grinste er und starrte wieder zu den Sternen empor. Sie zuckte mit den Schultern und nahm neben ihm Platz. „Du bist doch mit Jo zusammen!“ warf sie ihm mit einem Mal vor.
Ein irres Kichern kam aus Marks Kehle. Als er ihre großen Augen sah, die zum ersten Mal nicht vor Böswilligkeit sprühten sondern vor Staunen so groß wie Suppenteller waren, da verwandelte sich sein Kichern in lautes Lachen. Er legte den Arm um sie und lachte so laut und so lange wie schon seit Urzeiten nicht mehr. Nun fühlte er sich besser.
Der Parkplatz vor den Dünen war leer bis auf Jos alten verrosteten Wagen. Sie waren kurz vor dem Morgengrauen angekommen. Die Luft, die durch die heruntergekurbelten Scheiben ins Auto drang, war frisch und feucht und auch ein wenig salzig. Die ersten Sonnenstrahlen wurden von einem Dunstschleier gefiltert und färbten das Licht blau.
Dies war alles, was sie von der Außenwelt wahrnehmen konnten. Nun, da sie angekommen waren, erschien ihnen die vergangene Nacht wie ein schlechter Traum und der neue Morgen wie ein Eintauchen in die Surrealität. Die Nacht war vorbei und machte Platz für die Nüchternheit, die den schalen Geschmack im Mund erklärte.
Magda warf einen Blick auf Mark, der wiederum drehte sich um zu Jo. Der schlief immer noch den Schlaf der Gerechten.
"Sind wir schon da?" fragte Magda ungläubig und blinzelte ins Blau. Mark sah, dass ihr Make-Up verwischt war, aber ihre Augen strahlten. Er nickte und grinste. "Bereit?" - "Bereit."
Sie stiegen aus, Magda war noch immer barfuß, und gingen mit festen Schritten über die Dünen. Der Sand war fein und kühl.
Noch Stunden später stand der Wagen auf dem kleinen leeren Parkplatz am Meer und in seinem Inneren wachte Jo endlich auf.
Neben ihr saß Mark und fuhr. Seine großen Hände umgriffen fast verkrampft das Lenkrad. Magda sah, wie die kleinen Knöchelchen auf seinem Handrücken weiß hervorstanden. Auch in seinem Gesicht arbeitete es. Ganz deutlich konnte man sehen, wie er seine Kiefer aufeinander presste und hin-und herschob. Ab und an nahm Mark eine Hand vom Steuer, um den Schweiß seiner Hände an seiner kurzen Hose abzuwischen. Dies war alles, was er tat. Das übrige war Schweigen.
Magda drehte sich ruckartig nach hinten um. Hier auf der Rückbank mit braunem Kordbezug saß Jo, den Kopf mit den strohblonden kurzen Haaren scheinbar nach hinten verrenkt. Sein Mund war halb geöffnet, so dass ein wenig Speichel heraustropfe, der aber sogleich wieder auf dem Kinn trocknete. Magda hätte dies sicherlich widerwärtig gefunden, hätte sie Jo nicht schon länger gekannt. Freundschaftliche Intimitäten wie diese konnten in einem keinen Ekel mehr hervorrufen, sobald man beim Kotzen einmal den Kopf des anderen gehalten hatte. So stieß sie heute nur noch seine Auswahl an Partyklamotten ab. Heute Nacht trug er zum Beispiel ein schreiend gelbes Hemd und eine silberfarbene Hose. Beide Kleidungsstücke waren ein wenig bekleckert. Ob es nun Speichel, Tequila oder Kotze war, konnte Magda nicht sagen, dafür hatte sie ihn zu früh am Abend aus den Augen verloren. Jetzt war Jo der einzige, der im Wageninneren den Geruch von Alkohol ausschwitzte. Was vielleicht auch erklären konnte, warum er in dieser unbequemen Haltung in diesen unglaublich tiefen Schlaf gefallen war.
Magda drehte sich mit dem Oberkörper mit einem Plumps nach vorne um und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Die Autobahn war zu Beginn der Fahrt noch ziemlich voll gewesen, lauter Autos mit dröhnenden Bassboxen voll schriller Partymenschen auf der Gegenspur. Sie kamen aus dem Umland nach Berlin, weil es sonst nichts zu tun gab. Der Weg hatte die drei durch die Vororte der Stadt geführt, und auch wenn die Straße am Anfang mit hohen Mauern einbetoniert gewesen war, so hatte man doch die endlosen Reihen von Hochhäusern erkennen können, die den Weg nach Norden gesäumt hatten.
Jetzt schien es, als hätte sich die Strecke beruhigt. Die Kurven waren weniger eng geworden und die Fahrzeuge um sie herum weniger zahlreich. Nun gab es keine Mauern mehr und auch keine Häuser. Um sie herum war es tiefe Nacht. Magda vermutete abgeerntete Felder jenseits der Fahrbahn. Vielleicht ein Bauernhaus oder zwei. Vielleicht sogar einige Kühe, die hier schliefen. Sofern die Bauern ihre Kühe auf den Weiden stehen ließen über Nacht. Das wusste Magda als Stadtkind nicht so genau.
Nun, da die Straße ruhiger und leerer geworden war, ließ die Anspannung in ihr nach. Magda rutschte in ihrem Sitz ein wenig nach unten und lehnte den Kopf an. Ihre Augen schloss sie jedoch nicht. Dafür war sie viel zu wach.
Marks innere Unruhe hingegen ließ sich nicht so leicht vertreiben. Er musste sich schwer beherrschen, um nicht den Wagen unsinnig zu beschleunigen. Denn seit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, hatten sie alle Zeit der Welt. Er spürte, wie der Schweiß ihm immer wieder in die Augen lief und ihm die Sicht nahm. Mit dem linken kurzen Ärmel seines Hemdes versuchte er dann, Stirn und Augen trocken zu reiben. Er war nicht müde, aber dieses Schweißproblem machte ihm sehr zu schaffen. Es lenkte ihn von seiner eigentlichen Aufgabe, dem Fahren, ab.
Jo hinter ihm schlief. Mark wusste nicht, ob Jo es bequem hatte oder ob er jeden Augenblick aufwachen würde, um den Wagen vollzukotzen. Jo war berühmt dafür. Aber es interessierte Mark auch nicht weiter. Es war sowieso Jos Auto und nicht seines. Ob es nun Jos Pech war, ausgerechnet jetzt dazusein, oder sein Glück, das konnte Mark nicht sagen. Ohnehin war es unsinnig, sich mit Jo weiter zu beschäftigen. Jo war einfach da. Darum widmete Mark seine volle Konzentration wieder der Straße.
Die Zivilisation war geringer geworden. Links und rechts von ihnen gab es keine Häuser mehr und auch keine Straßenbeleuchtung. Die Scheinwerfer waren das einzige Licht weit und breit. Eine verheerende Tatsache für all die Insekten, die gegen die Leuchten und die Windschutzscheibe des Wagens prallten und aufgrund ihres hohen Eiweißgehalts klebenblieben. Je weiter sie fuhren, desto öfter schienen Insekten ihr Leben an diesem alten Auto zu lassen. Zudem schienen die Biester auch noch immer größer zu werden.
Die Autobahn führte immer weiter Richtung Norden. Sie führte die drei zum Meer.
Nun da sie ein wenig ruhiger und wieder sie selbst geworden war, öffnete Magda das Handschuhfach für eine nähere Inspektion. Zwischen längst abgelaufenen Kondomen und Bleistiften (wusste dieser Wahnsinnige nicht, dass man Kondome nicht im Handschuhfach aufbewahrte?) entdeckte sie auch ein halbgerauchtes Päckchen Zigaretten. Eigentlich rauchte sie nicht, nur auf Partys, und so sehr sie sich auch davon zu überzeugen versuchte, dies hier war KEINE Party. Dies war purer Ernst. Aber allein schon um den Alkoholgeruch aus dem Auto zu verscheuchen, zündete sie sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Mark sah kurz missbilligend zu ihr rüber, sagte aber nichts. Hätte sie länger darüber diskutiert, sie hätte die Zigarette nicht angesteckt.
Sicher, früher am Abend waren alle drei auf einer Party gewesen. Sonst wäre Jo ja jetzt auch nicht so eine unerträgliche Schnapsleiche. Aber dann hatten sie die Party verlassen, waren in Jos Auto gestiegen und losgefahren. Jo selbst hatte das Auto nicht in der selben Absicht bestiegen. Ihn hatten sie erst entdeckt, als sie schon auf dem Zubringer zur Autobahn gewesen waren. Da war es schon zu spät gewesen, um Jo rauszuschmeißen. Also hatten sie beschlossen, ihn im Auto zu lassen. Immerhin war es sein Wagen. Und die Erfahrung hatte gelehrt, dass nichts und wieder nichts Jo in diesem Zustand ernüchtern oder überhaupt aufwecken konnte.
Mark, dieser Langeweiler, warf ihr schon wieder einen Blick zu, diesmal ärgerlicher. Magda ergab sich dieser stummen Gewalt und warf die Zigarette halbgeraucht aus dem Fenster. Sie entschuldigte sich nicht, zog die Schuhe aus und legte die nackten Füße aufs Armaturenbrett. Noch so ein stummer Blick, dachte sie, und ich schreie.
Marks Aufregung hingegen ließ sich nicht drosseln. Er hätte sich gern beruhigt, aber es schien, als ob mit jedem Kilometer sein Ärger mehr wuchs. Was machte er hier eigentlich? Warum saß er hinter dem Steuern eines Autos, das fast so alt war wie er selbst und fuhr mitten in der Nacht zum Meer? Warum saß Magda neben ihm?
Warum Jo hinter ihm saß, war klar. Es war ja Jos Auto. Aber was hatte ihn geritten, einfach so von der Party abzuhauen. Und dann auch noch mit Magda.
Magda war Jos beste Freundin. Viele Schwule haben ein Mädchen als beste Freundin, und Mark hatte auch eigentlich nichts dagegen, dass sein Freund mit Mädchen über intime Dinge quatschte. Aber Magda war nicht gerade das, was man als angenehmen Menschen bezeichnen würde. Ihr Egoismus schien grenzenlos. Ihre Art, Menschen in Schubladen zu stecken und diese fest abzuschließen, war eine perfekt ausgearbeitete Taktik ihrerseits, mit ihrer Umgebung umzugehen. Sie war launisch und exzentrisch. Wäre sie für Jo nicht eine so große Hilfe im Leben, dann hätte Mark ihr schon längst die Meinung gesagt und sie anschließend tödlich ignoriert. So aber hatte er Jo zuliebe geschwiegen, und Magda so gut es ging ohne offene Konfrontation ignoriert.
An diesem Abend auf der Party, da hatte sich Jo schon unglaublich früh dem Absturz hingegeben. Mark und Magda hatten dies zwar bemerkt, waren aber beide unabhängig voneinander dem Partyrausch verfallen. Erst zwei Stunden später oder so hatte sich Mark aufgemacht, seinen Freund zu suchen. Er hatte ihn auch auf dem Parkplatz nicht gefunden, aber dafür war ihm Magda, in Tränen aufgelöst, in die Arme gelaufen, und stumm hatte sie ihn an die Hand genommen und in Jos Auto gesetzt hatte. „Fahr,“ hatte sie gesagt. Und: „Fahr los“ als er noch gezögert hatte, und „Nun fahr schon endlich!“, als er den Schlüssel immer noch nicht umgedreht hatte.
Da er wusste, dass es besser war zu tun, was Magda wollte, hatte er schließlich den Wagen gestartet und war losgefahren. Zuerst war es ihm nicht bewusst gewesen, aber im Laufe der Fahrt, schon bevor sie den schlafenden Jo auf der Rückbank entdeckt hatten, hatten beide im stillen Einvernehmen beschlossen, zur Ostsee hinaus zu fahren. Die Nacht war so klar und warm, und nach dieser stickigen und emotional aufgewühlten Nacht war es die beste Idee gewesen, die ihnen hatte einfallen können. Einer Kompassnadel gleich, bewegten sie sich nun in Richtung Nordpol.
Um die Anspannung durch eine kleine Pause zu lösen, blinkte Mark kurz vor einem Parkplatz rechts und fuhr raus. „Warum zum Teufel fährst du raus?“ fragte Magda, nahm die Füße vom Armaturenbrett und setzte sich gerade auf. „Ich brauch ne Pause. Ich komm da noch nicht so drauf klar, diese ganze Aktion hier mein ich, einfach abzuhauen,“ antwortete Mark und brachte den Wagen zum Stehen. Magda stieg aus. Das war typisch Mark, genau so, wie sie ihn sich immer schon vorgestellt hatte. Langweilig und verkrampft.
Der Parkplatz war zu dieser gottlosen Zeit menschenleer. Die Luft war immer noch unerträglich warm, aber immerhin nicht mehr so trocken wie in der Stadt. Trotzdem regte sich kein Lüftchen. „Wie weit ist es noch?“ wollte Magda wissen. Mark zuckte mit den Schultern und ging zu den Picknicktischen auf der anderen Seite des Parkplatzes. Magda tippelte barfuß hinterher. Dieses Schweigen machte sie noch wahnsinnig.
„Du könntest ruhig mal den Mund aufmachen,“ fauchte sie, als sie vor Mark stand. Dieser hockte auf einem der originellen Baumstammbänke und betrachtete still die funkelnden Sterne. Als Antwort folgte Mark ihrem Wunsch, öffnete demonstrativ den Mund und hielt ihn der Nervensäge hin.
Sehr witzig, dachte Magda erbost. Und dann dachte sie, na warte!, und schob ihm, schneller als Mark denken konnte, die Zunge in den Mund. Mark jedoch, von dem sie dies niemals erwartet hätte, küsste sie zu ihrem Erstaunen zurück.
Magda ließ sich auf die Bank neben Mark fallen. „Wieso hast du das gemacht?“ fragte sie. „Was gemacht? Warum hast DU das gemacht?“ grinste er und starrte wieder zu den Sternen empor. Sie zuckte mit den Schultern und nahm neben ihm Platz. „Du bist doch mit Jo zusammen!“ warf sie ihm mit einem Mal vor.
Ein irres Kichern kam aus Marks Kehle. Als er ihre großen Augen sah, die zum ersten Mal nicht vor Böswilligkeit sprühten sondern vor Staunen so groß wie Suppenteller waren, da verwandelte sich sein Kichern in lautes Lachen. Er legte den Arm um sie und lachte so laut und so lange wie schon seit Urzeiten nicht mehr. Nun fühlte er sich besser.
Der Parkplatz vor den Dünen war leer bis auf Jos alten verrosteten Wagen. Sie waren kurz vor dem Morgengrauen angekommen. Die Luft, die durch die heruntergekurbelten Scheiben ins Auto drang, war frisch und feucht und auch ein wenig salzig. Die ersten Sonnenstrahlen wurden von einem Dunstschleier gefiltert und färbten das Licht blau.
Dies war alles, was sie von der Außenwelt wahrnehmen konnten. Nun, da sie angekommen waren, erschien ihnen die vergangene Nacht wie ein schlechter Traum und der neue Morgen wie ein Eintauchen in die Surrealität. Die Nacht war vorbei und machte Platz für die Nüchternheit, die den schalen Geschmack im Mund erklärte.
Magda warf einen Blick auf Mark, der wiederum drehte sich um zu Jo. Der schlief immer noch den Schlaf der Gerechten.
"Sind wir schon da?" fragte Magda ungläubig und blinzelte ins Blau. Mark sah, dass ihr Make-Up verwischt war, aber ihre Augen strahlten. Er nickte und grinste. "Bereit?" - "Bereit."
Sie stiegen aus, Magda war noch immer barfuß, und gingen mit festen Schritten über die Dünen. Der Sand war fein und kühl.
Noch Stunden später stand der Wagen auf dem kleinen leeren Parkplatz am Meer und in seinem Inneren wachte Jo endlich auf.