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Empfohlener Beitrag
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Freitag abends, wenn die Luft noch lau war und ein paar Sterne über dem Innenhof glitzerten, saß Johanna gern im Dunkeln vor dem Fenster und beobachtete das Ehepaar Forstenau auf seiner Terrasse. Ein Opernglas lag griffbereit auf dem Fensterbrett. Sie benutzte es, um die Tischdekoration und die Speisen auf den Tellern zu betrachten.
Die Forstenaus feierten den Beginn ihrer Wochenenden mit einem Abendessen, das man als gediegen bezeichnen konnte. Oft gab es Muscheln, Austern oder Meeresfrüchtesalat, manchmal auch Hummer oder Weinbergschnecken mit Butter und Petersilie, dazu Baguettes, Sekt oder Weißwein. Das ist Tischkultur, dachte Johanna, wenn frische Blumen und ein Kerzenleuchter auf dem Tisch stehen, Schüsseln und Teller in den Farben harmonieren und die Damast-Servietten wie im Restaurant auf dem Schoß liegen. Sie war nicht neidisch, nur traurig, weil es in ihrem Leben niemanden gab, für den sich ein solcher Aufwand gelohnt hätte.
Frau Forstenau trug meistens ein helles ärmelloses Kleid und ein schweres Goldarmband am zierlichen Handgelenk. Ihr Mann speise nie ohne Krawatte, zog aber sein Sakko aus und krempelte die Ärmel hoch, wenn der Abend noch warm war. Sie hatten beide die langen, kraftlosen Arme der jungen Kopfarbeiter, die man so fürstlich für ihre Ideen entlohnt.
Merkwürdig war vielleicht, wie geräuschlos diese Mahlzeiten vonstatten gingen. Bis auf ein leises Klappern der Gabeln, ein dumpfes Puffen, wenn eine Flasche geöffnet wurde, und kurze geflüsterte Anweisungen, um noch dieses oder jenes herbeizuholen oder über den Tisch zu reichen, war nichts zu hören. Das Paar hatte offenbar kein Bedürfnis, einander am Freitag Abend Geschichten aus dem Berufsalltag zu erzählen, oder sie warteten damit bis nach dem Essen, denn der Innenhof war nicht so groß und manche Fenster vis-à-vis waren nur allzu nahe.
Johanna kannte den Nachnamen der beiden, weil eine Nachbarin gesagt hatte: "In unserem Haus legen sich die Kaviarfresser quer, die Forstenaus. Eine Waschküche ist angeblich nicht zeitgemäß, weil ohnehin jeder eine Waschmaschine in der Wohnung hat. Manche Leute sind nicht von dieser Welt." In der Bäckerei wusste man, dass er "irgendetwas mit Computern" zu tun hatte und sie in einem Labor arbeitete.
"Also Mut haben die schon", meinte ein Nachbar, "die Leute von Gegenüber. In solchen Zeiten auf der Terrasse sitzen und Austern schlürfen, wo andere nicht wissen, wo sie die Butter aufs Brot hernehmen sollen! Da könnte einem schon die Galle überlaufen, finden Sie nicht?" - "Ich weiß nicht," antwortete Johanna, "sie können es sich eben leisten. Er hat eine Computerfirma und sie ist Bakteriologin." Sie hatte ein wenig im Internet recherchiert und wusste jetzt, dass Forstenaus Firma Software für Krankenhäuser und Apotheken entwickelte.
Außerdem war nun klar, dass die beiden am Freitag Abend auch aus anderen unbeleuchteten Fenstern beobachtet wurden. Johanna musste an die öffentlichen Tafeln an den Fürstenhöfen der frühen Neuzeit denken, wo der Herrscher und seine Königin unter einem Baldachin speisten und das Volk aus einige Entfernung zuschauen durfte. Es konnte sehen, dass das Paar gesund und bei gutem Appetit war und der Staatsschatz, das Tafelsilber, noch vollzählig.
In der Bäckerei indes wurde der Ton rauer, so als hätte Frau Forstenau gesagt: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen! Es ging noch immer um die Waschküche, bei deren Beeinspruchung "das hohe Paar", wie sie nun spöttisch genannt wurden, eine überraschende Renitenz an den Tag legte. Neuerdings ging es auch um abgestorbene Blätter, die von den Kübelpflanzen der Terrasse abfielen und den Hof verschmutzten.
Man hatte erwartet, dass die Forstenaus in Anbetracht von 160 Quadratmetern Eigentum bald einknicken würden, vor allem, wenn man ihnen vor Augen führte, dass alle anderen, unteren Wohnungen nicht größer als vierzig bis siebzig Quadratmeter und in Miete vergeben waren. Reichtum musste sich früher oder später schämen und dem Drängen der Besitzlosen nachgeben.
Die Forstenaus aber schämten sich nicht. Sie verwiesen auf die hohe Summe, die sie für ihre Bleibe bezahlt hatten, und wollten letztere nicht von Waschmaschinenlärm gestört wissen. Eher, sagten sie, würden sie den kleinen, überflüssigen Raum auf ihrem Stockwerk auch noch kaufen, damit die Debatte um die Waschküche ein Ende nähme. Um den "Komposthaufen" im Hof werde sich ab sofort ihre Putzfrau kümmern. Das Auftreten und Verhalten der beiden auf dieser informellen Versammlung wurde als entnervt und herablassend beschrieben. Angeblich sagte Herr Forstenau, dass er selber nicht mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen und also von kleinen Substandard-Wohnungen nicht zu beeindrucken sei.
Johanna glaubte zu bemerken, dass die beiden nun noch stiller zu Abend aßen. Sie hielten die Köpfe über die Teller gesenkt und schienen sich mit dem Essen zu beeilen. Früher hatte sie die Forstenaus manchmal auch am Sonntag auf der Terrasse frühstücken gesehen. Dann natürlich nur kurz, weil sie rasch die Vorhänge zuzog, um nicht als Gafferin dazustehen. Jetzt blieben sie lieber im Inneren der Wohnung, vielleicht auch, weil es auf der Terrasse tagsüber zu heiß war. Ob sie gern bei ihnen zu Gast gewesen wäre? Schwer zusagen, worüber hätte sie mit ihnen reden können?
Als in der Bäckerei wieder die Wogen hochgingen, weil irgendwer das Gerücht in Umlauf gebracht hatte, dass die Forstenaus demnächst das ganze Haus kaufen und alle Mieter hinausekeln wollten, versuchte Johanna, sie zu verteidigen. Sie gab zu bedenken, dass das Haus ja auch vor seiner Aufstockung keine Waschküche besessen hatte und die Kosten für die Mitbenutzung einer solchen nicht unerheblich seien. Wenn man den Ärger über nicht eingehaltene Waschzeiten und eine unsachgemäße Behandlung der Maschinen ins Kalkül zog, sagte sie, sei der Besuch eines Waschsalons jedenfalls vorzuziehen.
Ihre Argumente überzeugten nicht. Die Rädelsführer wollten vor Gericht ziehen, und die Nachtragenden erinnerten an die lange Bauzeit für das obere Stockwerk, in der die Nachbarschaft mit Staub, Schutt und Lärm zu kämpfen hatte und nun also erwarten durfte, dass nach so vielen Unannehmlichkeiten auch für sie etwas heraussprang. Einer der Mieter stand nur da und schwieg beklommen. Eine Hausbewohnerin meinte, dass seit dem Einzug des Ehepaar Forstenau das Klima vergiftet sei. "Wir waren eine kleine eingeschworene Gemeinschaft. Jetzt ist der Wurm drin - und jeden Tag stinkt der Aufzug nach dem Parfum von Madame."
Johanna war besorgt. Sie hatte sich mit den Forstenaus gewissermaßen angefreundet, war den Sommer über in Gedanken an ihrem Tisch gesessen, hatte ihnen beim Schmausen zugeschaut und ihre Kultiviertheit bewundert. Im Grunde, dachte sie, ist der Mensch dem Menschen gut, solange er ihn nur aus der Ferne kennt.
Wie sehr sie sich irrte, wurde im Herbst offenbar. Da fand man eines Tages die Putzfrau der Forstenaus vor den Mülltonnen. Der unauffällige junge Mann, der so still allen Gesprächen gelauscht hatte, hatte sie mit einer alten Mauser erschossen, weil er sich von der fremden Frau im Hof beobachtet und bedroht gefühlt hatte. Er sagte, er habe gemeint, der Hausgemeinschaft damit einen Dienst zu erweisen.
Die Forstenaus feierten den Beginn ihrer Wochenenden mit einem Abendessen, das man als gediegen bezeichnen konnte. Oft gab es Muscheln, Austern oder Meeresfrüchtesalat, manchmal auch Hummer oder Weinbergschnecken mit Butter und Petersilie, dazu Baguettes, Sekt oder Weißwein. Das ist Tischkultur, dachte Johanna, wenn frische Blumen und ein Kerzenleuchter auf dem Tisch stehen, Schüsseln und Teller in den Farben harmonieren und die Damast-Servietten wie im Restaurant auf dem Schoß liegen. Sie war nicht neidisch, nur traurig, weil es in ihrem Leben niemanden gab, für den sich ein solcher Aufwand gelohnt hätte.
Frau Forstenau trug meistens ein helles ärmelloses Kleid und ein schweres Goldarmband am zierlichen Handgelenk. Ihr Mann speise nie ohne Krawatte, zog aber sein Sakko aus und krempelte die Ärmel hoch, wenn der Abend noch warm war. Sie hatten beide die langen, kraftlosen Arme der jungen Kopfarbeiter, die man so fürstlich für ihre Ideen entlohnt.
Merkwürdig war vielleicht, wie geräuschlos diese Mahlzeiten vonstatten gingen. Bis auf ein leises Klappern der Gabeln, ein dumpfes Puffen, wenn eine Flasche geöffnet wurde, und kurze geflüsterte Anweisungen, um noch dieses oder jenes herbeizuholen oder über den Tisch zu reichen, war nichts zu hören. Das Paar hatte offenbar kein Bedürfnis, einander am Freitag Abend Geschichten aus dem Berufsalltag zu erzählen, oder sie warteten damit bis nach dem Essen, denn der Innenhof war nicht so groß und manche Fenster vis-à-vis waren nur allzu nahe.
Johanna kannte den Nachnamen der beiden, weil eine Nachbarin gesagt hatte: "In unserem Haus legen sich die Kaviarfresser quer, die Forstenaus. Eine Waschküche ist angeblich nicht zeitgemäß, weil ohnehin jeder eine Waschmaschine in der Wohnung hat. Manche Leute sind nicht von dieser Welt." In der Bäckerei wusste man, dass er "irgendetwas mit Computern" zu tun hatte und sie in einem Labor arbeitete.
"Also Mut haben die schon", meinte ein Nachbar, "die Leute von Gegenüber. In solchen Zeiten auf der Terrasse sitzen und Austern schlürfen, wo andere nicht wissen, wo sie die Butter aufs Brot hernehmen sollen! Da könnte einem schon die Galle überlaufen, finden Sie nicht?" - "Ich weiß nicht," antwortete Johanna, "sie können es sich eben leisten. Er hat eine Computerfirma und sie ist Bakteriologin." Sie hatte ein wenig im Internet recherchiert und wusste jetzt, dass Forstenaus Firma Software für Krankenhäuser und Apotheken entwickelte.
Außerdem war nun klar, dass die beiden am Freitag Abend auch aus anderen unbeleuchteten Fenstern beobachtet wurden. Johanna musste an die öffentlichen Tafeln an den Fürstenhöfen der frühen Neuzeit denken, wo der Herrscher und seine Königin unter einem Baldachin speisten und das Volk aus einige Entfernung zuschauen durfte. Es konnte sehen, dass das Paar gesund und bei gutem Appetit war und der Staatsschatz, das Tafelsilber, noch vollzählig.
In der Bäckerei indes wurde der Ton rauer, so als hätte Frau Forstenau gesagt: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen! Es ging noch immer um die Waschküche, bei deren Beeinspruchung "das hohe Paar", wie sie nun spöttisch genannt wurden, eine überraschende Renitenz an den Tag legte. Neuerdings ging es auch um abgestorbene Blätter, die von den Kübelpflanzen der Terrasse abfielen und den Hof verschmutzten.
Man hatte erwartet, dass die Forstenaus in Anbetracht von 160 Quadratmetern Eigentum bald einknicken würden, vor allem, wenn man ihnen vor Augen führte, dass alle anderen, unteren Wohnungen nicht größer als vierzig bis siebzig Quadratmeter und in Miete vergeben waren. Reichtum musste sich früher oder später schämen und dem Drängen der Besitzlosen nachgeben.
Die Forstenaus aber schämten sich nicht. Sie verwiesen auf die hohe Summe, die sie für ihre Bleibe bezahlt hatten, und wollten letztere nicht von Waschmaschinenlärm gestört wissen. Eher, sagten sie, würden sie den kleinen, überflüssigen Raum auf ihrem Stockwerk auch noch kaufen, damit die Debatte um die Waschküche ein Ende nähme. Um den "Komposthaufen" im Hof werde sich ab sofort ihre Putzfrau kümmern. Das Auftreten und Verhalten der beiden auf dieser informellen Versammlung wurde als entnervt und herablassend beschrieben. Angeblich sagte Herr Forstenau, dass er selber nicht mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen und also von kleinen Substandard-Wohnungen nicht zu beeindrucken sei.
Johanna glaubte zu bemerken, dass die beiden nun noch stiller zu Abend aßen. Sie hielten die Köpfe über die Teller gesenkt und schienen sich mit dem Essen zu beeilen. Früher hatte sie die Forstenaus manchmal auch am Sonntag auf der Terrasse frühstücken gesehen. Dann natürlich nur kurz, weil sie rasch die Vorhänge zuzog, um nicht als Gafferin dazustehen. Jetzt blieben sie lieber im Inneren der Wohnung, vielleicht auch, weil es auf der Terrasse tagsüber zu heiß war. Ob sie gern bei ihnen zu Gast gewesen wäre? Schwer zusagen, worüber hätte sie mit ihnen reden können?
Als in der Bäckerei wieder die Wogen hochgingen, weil irgendwer das Gerücht in Umlauf gebracht hatte, dass die Forstenaus demnächst das ganze Haus kaufen und alle Mieter hinausekeln wollten, versuchte Johanna, sie zu verteidigen. Sie gab zu bedenken, dass das Haus ja auch vor seiner Aufstockung keine Waschküche besessen hatte und die Kosten für die Mitbenutzung einer solchen nicht unerheblich seien. Wenn man den Ärger über nicht eingehaltene Waschzeiten und eine unsachgemäße Behandlung der Maschinen ins Kalkül zog, sagte sie, sei der Besuch eines Waschsalons jedenfalls vorzuziehen.
Ihre Argumente überzeugten nicht. Die Rädelsführer wollten vor Gericht ziehen, und die Nachtragenden erinnerten an die lange Bauzeit für das obere Stockwerk, in der die Nachbarschaft mit Staub, Schutt und Lärm zu kämpfen hatte und nun also erwarten durfte, dass nach so vielen Unannehmlichkeiten auch für sie etwas heraussprang. Einer der Mieter stand nur da und schwieg beklommen. Eine Hausbewohnerin meinte, dass seit dem Einzug des Ehepaar Forstenau das Klima vergiftet sei. "Wir waren eine kleine eingeschworene Gemeinschaft. Jetzt ist der Wurm drin - und jeden Tag stinkt der Aufzug nach dem Parfum von Madame."
Johanna war besorgt. Sie hatte sich mit den Forstenaus gewissermaßen angefreundet, war den Sommer über in Gedanken an ihrem Tisch gesessen, hatte ihnen beim Schmausen zugeschaut und ihre Kultiviertheit bewundert. Im Grunde, dachte sie, ist der Mensch dem Menschen gut, solange er ihn nur aus der Ferne kennt.
Wie sehr sie sich irrte, wurde im Herbst offenbar. Da fand man eines Tages die Putzfrau der Forstenaus vor den Mülltonnen. Der unauffällige junge Mann, der so still allen Gesprächen gelauscht hatte, hatte sie mit einer alten Mauser erschossen, weil er sich von der fremden Frau im Hof beobachtet und bedroht gefühlt hatte. Er sagte, er habe gemeint, der Hausgemeinschaft damit einen Dienst zu erweisen.
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