Ich sitze mit meiner Klasse (5c) in der S-Bahn. Wir machen heute einen Ausflug. Ich heiße Sarah. Stefan erzählt gerade einen versauten Witz.
"...bei uns zerplatzen die sonst immer!", endet er. Die Jungs grölen vor Lachen. Stefan ist zufrieden. Die Pointe ist gut angekommen. Zur allgemeinen Überraschung lacht auch Mischa laut mit. Er lacht sonst fast nie. Zumindest nicht so ausgelassen. Er lacht sogar noch eine Sekunde länger als alle Anderen und zieht damit die Aufmerksamkeit aller auf sich. Stefan grinst ihn mitleidlos an. "Mischa, so gut drauf heute? Erklär uns den Witz doch mal!". Der Verhöhrte wird augenblicklich rot.
"Weil... sie ihre Tage haben?"
Jetzt lacht die Klasse noch lauter als vorher.
"Falsch geraten, armer Mischa", denke ich. Mir fällt auf, dass Stefan nicht lacht. Er blickt Mischa nur an. Ernst. Fast schon richterlich. Als würde er gerade entscheiden, was mit dem Gedemütigten als nächstes passieren soll.
Ich merke, dass Mischa kurz und vorsichtig zu mir rüberguckt. Er will wohl wissen, ob auch ich ihn auslache. Die Sache ist nämlich so, dass er in mich verliebt ist. Mir wäre es nicht aufgefallen, aber meine Freundinnen sind sich da sicher, und die merken solche Dinge besser als ich. "Du Arme!", haben sie mich lachend aufgezogen. Ich mag Mischa. Er ist immer nett. Außerdem schmeichelt es mir, dass er auf mich steht. Aber mein Fall ist er überhaupt nicht. Er ist klein und blond, hat leicht abstehende Ohren und sieht irgendwie verwachsen aus. Koboldartig. Jetzt gibt er sich gerade große Mühe, lässig auszusehen, als hätte er die Sache mit dem Witz schon wieder vergessen. Es gelingt ihm nicht wirklich.
"Nächster Halt; 'Ruhbank, Fernsehturm'. Ausstieg in Fahrtrichtung links.", sagt jetzt eine weibliche Ansage-Stimme und die S-Bahn bremst ab, bis sie mit einem sanften Ruck zum Stillstand kommt. Ich steh auf und nehme meine Tasche. Wir sind angekommen.
"Oh Gott!, ich kann da gar nicht runtergucken!" ruft Rebecca mit mädchenhaft- gespieltem Entsetzen. Wir stehen jetzt auf dem Fernsehturm. Höhe: 217 m. Nicht gerade spektakulär, aber für Stuttgart ok. Hier oben weht ein leichter Wind und es ist spürbar kälter als auf dem Boden. Außerdem ist es leise. Der Stadtlärm dringt nicht bis hier oben durch. Ich betrachte den Ausblick. Große, aber irgendwie gemütlich aussehende Häuser verteilen sich gleichmäßig über den sanft geschwungenen Hügeln. Die Weinberge erstrecken sich bis unmittelbar vor den Hauptbahnhof.
"Stuttgart ist eine schöne Stadt", denke ich anerkennend.
Jetzt nähere ich mich dem Rand der Plattform. Das Metallgeländer ist erstaunlich kalt, obwohl den ganzen Tag die Sonne gescheint hat. Ich schaue nicht gerne direkt runter. Da bekomme ich so ein komisches Kribbeln, das in meinem Hintern beginnt und mir in den Rücken läuft. Ich hab in einem meiner Psychologiebücher gelesen, Höhenangst sei eigentlich nicht die Angst davor, zu Fallen, sonder zu Springen. Ich finde das macht Sinn. Ich interessiere mich für Psychologie. Für das Unbewusste und so.
Ich könnte jetzt einfach runterspringen, denke ich, das Geländer ist nicht besonders hoch. Erst eine Sekunde später würde Allen klar werden, was passiert ist und sie würden entsetzt schreien. Irgendwann würden die Lehrer in hilflosem Aktionismus herumwuseln und so tun, als würden sie was Wichtiges in die Wege leiten, aber das würde dann natürlich auch nichts mehr nützen. Später am Tag würde es bei meinen Eltern an der Tür klingeln. Meine Mama würde öffnen, erst entspannt, dann erschrocken, wenn sie die Polizei sieht. Und dann... Ich beende meine Gedanken gewaltsam und entferne mich vom Geländer.
"Ja, tolle Aussicht, ist schon klar, aber jetzt reichts' doch auch mal wieder", denke ich.
Endlich fahren wir mit dem Aufzug wieder nach unten. An Stelle von Stockwerken, werden die Besucher auf einer Anzeige über die zurückgelegten Höhenmeter informiert. Der Aufzug ist wirklich schnell. In der Kabine steht, abgesehen von meiner Klasse, noch ein alter Mann. Er lächelt befangen. Er wirkt einsam. Wie eben fast alle alten Menschen, zumindest in Deutschland. Auf die Kabinenwand hat jemand "Merve ist eine Fotze" geschrieben. Ich wette, als der Mann jung war, stand das da noch nicht. Mir fällt auf einmal ein, dass ich meinen Opa seit drei Monaten nicht mehr besucht habe.
"Kinder, bleibt weg vom Rand", ruft die Klassenlehrerin, als die Bahn einfährt. Sie hat es vorher schon zwei mal gesagt. Wenn jetzt was passiert, kann keiner ihr die Schuld daran geben. Aber es passiert natürlich nichts. Wir steigen ein und verteilen uns auf die Vierersitze. Die Jungs und die Mädchen sitzen diesmal in getrennten Abteilen, hat sich irgendwie so ergeben.
Mischa hat bei den Jungs keinen Platz gefunden. Wir sind 13 Jungen und 11 Mädchen. Die Jungen haben also drei Vierer-reihen besetzt und Mischa ist übrig geblieben. Er hat also keine andere Wahl, als ins Mädchenabteil zu kommen. Zu uns will er sich aber auch nicht setzen, es wäre ein zu offensichtliches Eingestehen von Schwäche. Er läuft mit seinem sperrigen Rucksack durch das Abteil, die Arme viel zu nah und unbeweglich am Körper gehalten, und setzt sich auf einen einzelnen Platz einer Viererreihe, von der drei Sitze von einem jungen Ehepaar und ihrem kleinen Sohn besetzt sind.
Dort sitzt er jetzt und weiß nicht, wo er hingucken und was er mit seinen Händen machen soll. Und zur Zeit, in der die Geschichte spielt, gibt es noch keine Smartphones, was die Sache noch verschlimmert. Ich bin die einzige meiner Freundinnen, die ihn von unserer Sitzreihe aus sehen kann. Weil ich glaube, dass ihm das sonst peinlich wäre, tue ich so, als würde ich ihn nicht bemerken. Ich bin mir sicher, dass mir das gelungen ist, denn ich kann gut schauspielern. Die Gespräche zwischen mir und meinen Freundinnen sind jetzt aufs Thema Jungen gekommen. Wir haben da ein Spiel erfunden, das echt Spaß macht. Wir sagen den Namen von einem Jungen, den wir kennen, und geben ihm Punkte zwischen 1 und 10. Also wie sexy wir ihn finden.
"Gregor?", beginne ich und blicke meine Freundin erwartungsvoll an.
"Keine Ahnng. Sechs oder sieben", sagt sie nach kurzem Überlegen. Sie ist heute großzügig.
Jetzt ist sie dran mit fragt: "Gülsah, wie viel Punkte gibst du Stefan?"
"Oh, ich weiß nicht", lacht sie und wird etwas rot. "Acht oder so". Mit Gülsah macht das Spiel keinen Spaß. Sie gibt fast immer acht.
"Ok, Sarah", fragt mich Gülsah, und ich merke an ihrem Gesichtsausdruck gleich, was sie sagen will."Wie viele Punkte bekommt dein Mischa?", fragt sie mich und fängt an zu Lachen. Auch meine andre Freundin lacht jetzt.
Aus den Augenwinkeln merke ich, wie Mischas' Körperhaltung sich noch mehr verkrampft, wenn das überhaupt möglich ist. Ich bin mir sicher, dass er uns zuhört.
Mir fällt ein Satz aus irgendeinem amerikanischen Film ein, den ich letztens geguckt hab; "Wir sind alle so entsetzlich verletzlich". Dieser Satz hat mich irgendwie beeindruckt.
Ich spüre wieder dieses merkwürdige Kribbeln in meinem Rücken.
"Mischa?", wiederhole ich die Frage, "den find ich eigentlich ganz süß". Meine Freundinnen fangen wieder an zu lachen.
"Ach, komm schon", drängt Gülsah, "sei halt ehrlich. Im Grunde kann ich Gülsah nicht leiden.
"Nein, wirklich", wiederhole ich. "Klar, der ist manchmal ein bisschen komisch und so, aber vom Aussehen her find ich den ziemlich gut. Der sieht nicht so '08/15-mäßig' aus. Also ich glaub, ich geb ihm neun Punkte".
"Ok", meint Gülsah und wirkt seltsam enttäuscht, aber dann fährt sie fort: "Ja, das mit dem nicht so 08/15 stimmt schon, ich würde ihm auch acht geben". Meine andere Freundin gibt ihm schließlich sieben Punkte.
"Das ist der Ankereffekt", denke ich. Darüber steht auch was in meinen Psychologiebüchern.
Ohne direkt hinzusehen, nehme ich war, wie Mischas' Körperhaltung sich auflockert. Die restliche Heimfahrt über gebe ich mir große Mühe, ihn nicht wissen zu lassen, dass ich seine Anwesenheit bemerke. Ich rede erhitzt mit meinen Freundinnen über irgendeinen belanglosen Scheiß. Die wenigen Male in denen mein Blick, scheinbar blind, Mischas' Platz streift, sehe ich, dass er so glücklich aussieht, wie ich ihn davor noch nie gesehen habe.
Ich finde, das war ziemlich nett vor mir.
"Wie war euer Ausflug?", fragt meine Mama, als sie die Tür öffnet.
"Ganz gut", antworte ich und werfe meine Tasche in die Ecke des Hausflurs.
"Freut mich. Ich hab heut nicht gekocht, aber es sind Tiefkühlpizzen in der Gefriertruhe"
Das ist mir sowieso lieber.
"Oh, und bevor ich es vergesse", erinnert meine Mutter sich, "dein Vater repariert grade was am Kühlschrank, ich hab die Sicherung rausgezogen, nur dass du es weißt"
"Alles klar", antworte ich.
Meine Mama verlässt den Flur.
Aus dem Keller höre ich Papas' Schimpfen: "Fuck, das kann doch nicht sein, was ist los mit dem scheiß Ding?"
Mein Papa ist im letzten Jahr ziemlich alt geworden. Seit dem Tod von Oma. Sein Gang ist irgendwie vorsichtiger und umständlicher geworden. Verletzlich.
"Ich hab meinen Papa so lieb", denke ich.
Ich sehe, dass der Sicherungskasten noch geöffnet ist. Schon wieder dieses Kribbeln in meinem Rücken.
"Wenn jemand den Schalter drücken würde, wäre das eine Katastrophe", denke ich, und während ich das denke, merke ich, dass ich es bereits getan habe. Es gibt einen Schlag. Im Keller hört man jetzt einen schwachen Schrei.
Ich sitze seit zwei Stunden auf dem Balkon und beobachte, wie der strahlend-schöne Julitag viel zu langsam zu Ende geht. Meine Mama hat meinen Papa im Krankenwagen begleitet. Laut Sanitätern besteht keine Lebensgefahr. In den 15 Minuten zwischen Papas' Unfall und der Abfahrt des Krankenwagens hat sie mich kein einziges Mal angeschaut. Wütend sah sie nicht aus.
Jetzt höre ich den Schlüssel im Schloss.
Jetzt kommt meine Mama die Treppe hoch gelaufen, langsam, vorsichtig, als wäre sie sich auf einmal nicht mehr sicher, in welchem Stockwerk sich mein Zimmer befindet.
Es klopft an meine Tür.
Ich will doch nur schlafen.
"...bei uns zerplatzen die sonst immer!", endet er. Die Jungs grölen vor Lachen. Stefan ist zufrieden. Die Pointe ist gut angekommen. Zur allgemeinen Überraschung lacht auch Mischa laut mit. Er lacht sonst fast nie. Zumindest nicht so ausgelassen. Er lacht sogar noch eine Sekunde länger als alle Anderen und zieht damit die Aufmerksamkeit aller auf sich. Stefan grinst ihn mitleidlos an. "Mischa, so gut drauf heute? Erklär uns den Witz doch mal!". Der Verhöhrte wird augenblicklich rot.
"Weil... sie ihre Tage haben?"
Jetzt lacht die Klasse noch lauter als vorher.
"Falsch geraten, armer Mischa", denke ich. Mir fällt auf, dass Stefan nicht lacht. Er blickt Mischa nur an. Ernst. Fast schon richterlich. Als würde er gerade entscheiden, was mit dem Gedemütigten als nächstes passieren soll.
Ich merke, dass Mischa kurz und vorsichtig zu mir rüberguckt. Er will wohl wissen, ob auch ich ihn auslache. Die Sache ist nämlich so, dass er in mich verliebt ist. Mir wäre es nicht aufgefallen, aber meine Freundinnen sind sich da sicher, und die merken solche Dinge besser als ich. "Du Arme!", haben sie mich lachend aufgezogen. Ich mag Mischa. Er ist immer nett. Außerdem schmeichelt es mir, dass er auf mich steht. Aber mein Fall ist er überhaupt nicht. Er ist klein und blond, hat leicht abstehende Ohren und sieht irgendwie verwachsen aus. Koboldartig. Jetzt gibt er sich gerade große Mühe, lässig auszusehen, als hätte er die Sache mit dem Witz schon wieder vergessen. Es gelingt ihm nicht wirklich.
"Nächster Halt; 'Ruhbank, Fernsehturm'. Ausstieg in Fahrtrichtung links.", sagt jetzt eine weibliche Ansage-Stimme und die S-Bahn bremst ab, bis sie mit einem sanften Ruck zum Stillstand kommt. Ich steh auf und nehme meine Tasche. Wir sind angekommen.
"Oh Gott!, ich kann da gar nicht runtergucken!" ruft Rebecca mit mädchenhaft- gespieltem Entsetzen. Wir stehen jetzt auf dem Fernsehturm. Höhe: 217 m. Nicht gerade spektakulär, aber für Stuttgart ok. Hier oben weht ein leichter Wind und es ist spürbar kälter als auf dem Boden. Außerdem ist es leise. Der Stadtlärm dringt nicht bis hier oben durch. Ich betrachte den Ausblick. Große, aber irgendwie gemütlich aussehende Häuser verteilen sich gleichmäßig über den sanft geschwungenen Hügeln. Die Weinberge erstrecken sich bis unmittelbar vor den Hauptbahnhof.
"Stuttgart ist eine schöne Stadt", denke ich anerkennend.
Jetzt nähere ich mich dem Rand der Plattform. Das Metallgeländer ist erstaunlich kalt, obwohl den ganzen Tag die Sonne gescheint hat. Ich schaue nicht gerne direkt runter. Da bekomme ich so ein komisches Kribbeln, das in meinem Hintern beginnt und mir in den Rücken läuft. Ich hab in einem meiner Psychologiebücher gelesen, Höhenangst sei eigentlich nicht die Angst davor, zu Fallen, sonder zu Springen. Ich finde das macht Sinn. Ich interessiere mich für Psychologie. Für das Unbewusste und so.
Ich könnte jetzt einfach runterspringen, denke ich, das Geländer ist nicht besonders hoch. Erst eine Sekunde später würde Allen klar werden, was passiert ist und sie würden entsetzt schreien. Irgendwann würden die Lehrer in hilflosem Aktionismus herumwuseln und so tun, als würden sie was Wichtiges in die Wege leiten, aber das würde dann natürlich auch nichts mehr nützen. Später am Tag würde es bei meinen Eltern an der Tür klingeln. Meine Mama würde öffnen, erst entspannt, dann erschrocken, wenn sie die Polizei sieht. Und dann... Ich beende meine Gedanken gewaltsam und entferne mich vom Geländer.
"Ja, tolle Aussicht, ist schon klar, aber jetzt reichts' doch auch mal wieder", denke ich.
Endlich fahren wir mit dem Aufzug wieder nach unten. An Stelle von Stockwerken, werden die Besucher auf einer Anzeige über die zurückgelegten Höhenmeter informiert. Der Aufzug ist wirklich schnell. In der Kabine steht, abgesehen von meiner Klasse, noch ein alter Mann. Er lächelt befangen. Er wirkt einsam. Wie eben fast alle alten Menschen, zumindest in Deutschland. Auf die Kabinenwand hat jemand "Merve ist eine Fotze" geschrieben. Ich wette, als der Mann jung war, stand das da noch nicht. Mir fällt auf einmal ein, dass ich meinen Opa seit drei Monaten nicht mehr besucht habe.
"Kinder, bleibt weg vom Rand", ruft die Klassenlehrerin, als die Bahn einfährt. Sie hat es vorher schon zwei mal gesagt. Wenn jetzt was passiert, kann keiner ihr die Schuld daran geben. Aber es passiert natürlich nichts. Wir steigen ein und verteilen uns auf die Vierersitze. Die Jungs und die Mädchen sitzen diesmal in getrennten Abteilen, hat sich irgendwie so ergeben.
Mischa hat bei den Jungs keinen Platz gefunden. Wir sind 13 Jungen und 11 Mädchen. Die Jungen haben also drei Vierer-reihen besetzt und Mischa ist übrig geblieben. Er hat also keine andere Wahl, als ins Mädchenabteil zu kommen. Zu uns will er sich aber auch nicht setzen, es wäre ein zu offensichtliches Eingestehen von Schwäche. Er läuft mit seinem sperrigen Rucksack durch das Abteil, die Arme viel zu nah und unbeweglich am Körper gehalten, und setzt sich auf einen einzelnen Platz einer Viererreihe, von der drei Sitze von einem jungen Ehepaar und ihrem kleinen Sohn besetzt sind.
Dort sitzt er jetzt und weiß nicht, wo er hingucken und was er mit seinen Händen machen soll. Und zur Zeit, in der die Geschichte spielt, gibt es noch keine Smartphones, was die Sache noch verschlimmert. Ich bin die einzige meiner Freundinnen, die ihn von unserer Sitzreihe aus sehen kann. Weil ich glaube, dass ihm das sonst peinlich wäre, tue ich so, als würde ich ihn nicht bemerken. Ich bin mir sicher, dass mir das gelungen ist, denn ich kann gut schauspielern. Die Gespräche zwischen mir und meinen Freundinnen sind jetzt aufs Thema Jungen gekommen. Wir haben da ein Spiel erfunden, das echt Spaß macht. Wir sagen den Namen von einem Jungen, den wir kennen, und geben ihm Punkte zwischen 1 und 10. Also wie sexy wir ihn finden.
"Gregor?", beginne ich und blicke meine Freundin erwartungsvoll an.
"Keine Ahnng. Sechs oder sieben", sagt sie nach kurzem Überlegen. Sie ist heute großzügig.
Jetzt ist sie dran mit fragt: "Gülsah, wie viel Punkte gibst du Stefan?"
"Oh, ich weiß nicht", lacht sie und wird etwas rot. "Acht oder so". Mit Gülsah macht das Spiel keinen Spaß. Sie gibt fast immer acht.
"Ok, Sarah", fragt mich Gülsah, und ich merke an ihrem Gesichtsausdruck gleich, was sie sagen will."Wie viele Punkte bekommt dein Mischa?", fragt sie mich und fängt an zu Lachen. Auch meine andre Freundin lacht jetzt.
Aus den Augenwinkeln merke ich, wie Mischas' Körperhaltung sich noch mehr verkrampft, wenn das überhaupt möglich ist. Ich bin mir sicher, dass er uns zuhört.
Mir fällt ein Satz aus irgendeinem amerikanischen Film ein, den ich letztens geguckt hab; "Wir sind alle so entsetzlich verletzlich". Dieser Satz hat mich irgendwie beeindruckt.
Ich spüre wieder dieses merkwürdige Kribbeln in meinem Rücken.
"Mischa?", wiederhole ich die Frage, "den find ich eigentlich ganz süß". Meine Freundinnen fangen wieder an zu lachen.
"Ach, komm schon", drängt Gülsah, "sei halt ehrlich. Im Grunde kann ich Gülsah nicht leiden.
"Nein, wirklich", wiederhole ich. "Klar, der ist manchmal ein bisschen komisch und so, aber vom Aussehen her find ich den ziemlich gut. Der sieht nicht so '08/15-mäßig' aus. Also ich glaub, ich geb ihm neun Punkte".
"Ok", meint Gülsah und wirkt seltsam enttäuscht, aber dann fährt sie fort: "Ja, das mit dem nicht so 08/15 stimmt schon, ich würde ihm auch acht geben". Meine andere Freundin gibt ihm schließlich sieben Punkte.
"Das ist der Ankereffekt", denke ich. Darüber steht auch was in meinen Psychologiebüchern.
Ohne direkt hinzusehen, nehme ich war, wie Mischas' Körperhaltung sich auflockert. Die restliche Heimfahrt über gebe ich mir große Mühe, ihn nicht wissen zu lassen, dass ich seine Anwesenheit bemerke. Ich rede erhitzt mit meinen Freundinnen über irgendeinen belanglosen Scheiß. Die wenigen Male in denen mein Blick, scheinbar blind, Mischas' Platz streift, sehe ich, dass er so glücklich aussieht, wie ich ihn davor noch nie gesehen habe.
Ich finde, das war ziemlich nett vor mir.
"Wie war euer Ausflug?", fragt meine Mama, als sie die Tür öffnet.
"Ganz gut", antworte ich und werfe meine Tasche in die Ecke des Hausflurs.
"Freut mich. Ich hab heut nicht gekocht, aber es sind Tiefkühlpizzen in der Gefriertruhe"
Das ist mir sowieso lieber.
"Oh, und bevor ich es vergesse", erinnert meine Mutter sich, "dein Vater repariert grade was am Kühlschrank, ich hab die Sicherung rausgezogen, nur dass du es weißt"
"Alles klar", antworte ich.
Meine Mama verlässt den Flur.
Aus dem Keller höre ich Papas' Schimpfen: "Fuck, das kann doch nicht sein, was ist los mit dem scheiß Ding?"
Mein Papa ist im letzten Jahr ziemlich alt geworden. Seit dem Tod von Oma. Sein Gang ist irgendwie vorsichtiger und umständlicher geworden. Verletzlich.
"Ich hab meinen Papa so lieb", denke ich.
Ich sehe, dass der Sicherungskasten noch geöffnet ist. Schon wieder dieses Kribbeln in meinem Rücken.
"Wenn jemand den Schalter drücken würde, wäre das eine Katastrophe", denke ich, und während ich das denke, merke ich, dass ich es bereits getan habe. Es gibt einen Schlag. Im Keller hört man jetzt einen schwachen Schrei.
Ich sitze seit zwei Stunden auf dem Balkon und beobachte, wie der strahlend-schöne Julitag viel zu langsam zu Ende geht. Meine Mama hat meinen Papa im Krankenwagen begleitet. Laut Sanitätern besteht keine Lebensgefahr. In den 15 Minuten zwischen Papas' Unfall und der Abfahrt des Krankenwagens hat sie mich kein einziges Mal angeschaut. Wütend sah sie nicht aus.
Jetzt höre ich den Schlüssel im Schloss.
Jetzt kommt meine Mama die Treppe hoch gelaufen, langsam, vorsichtig, als wäre sie sich auf einmal nicht mehr sicher, in welchem Stockwerk sich mein Zimmer befindet.
Es klopft an meine Tür.
Ich will doch nur schlafen.