auf ruf

4,30 Stern(e) 4 Bewertungen

Tula

Mitglied

auf ruf


siehst du nicht
das Eis es bricht jetzt
immer früher dort
wo es mal ewig war

spürst du nicht
wie alles wächst und sich ent-
wickelt aus dem Schlick
ein Fisch mit dreizehn Augen

merkst du nicht
wir sind nun endlich gleich
gebrechlich gleichen wir
uns ein und immer tiefer

sieh doch nur
das Eis es bricht dich mit
der Zeit die dir noch bleibt
für einen Blick

voraus
 

Perry

Mitglied
Hallo Tula,

dein "auf ruf" sollte nicht ungehört bleiben. :)

Das (ewige) Eis bricht könnte auf die Polareisschmelze hindeuten, doch ich denke, es ist mehr eine innere Eisschmelze gemeint, die die Sicht frei macht für einen (letzten) Blick voraus.
Interessant, dass neben dem realen Sehen auch indirekte Sinne wie spüren und merken angeführt werden.

Irgendwie ist es für mich ein zwischenmenschlicher Text, der das Werden und Vergehen einer Beziehung beschreibt.
Bei dem "dreizehnäugigen Fisch" kann ich nur eine Metamorphose vermuten, die über das reale Sein hinausreicht.

Gern gelesen und reflektiert.
LG
Manfred
 

Tula

Mitglied
Hallo Perry

Nun war ich fast erleichtert, dass das Ding 'ungeschoren' auf Seite 2 rutschte :)

Nein, lieber Perry, ich meinte es bildlich wirklich direkter, es geht um die Zerstörung der Umwelt. Weil sich die Dichter gern 'angewidert von Mensch und Gesellschaft abwenden', wollte ich es mal konstruktiver mit einem Aufruf versuchen. Bei der Trennung dachte ich auch an das 'auf Ruf bereit stehen', denn das sind wir ja irgendwie. Wir sehen, dass es so nicht weitergehen darf, wissen aber selbst kaum, wie und womit man entscheidend beitragen kann und soll, von der täglichen Mülltrennung mal abgesehen.

So ist der Fisch mit dreizehn Augen eine Art Unheil bringendes Zeichen (wie im Mittelalter das Kalb mit zwei Köpfen), das Bild steht für die doch so deutlichen Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe und steht hier im Gegensatz zur angeblichen Entwicklung und dem wirtschaftlichen Wachstum der ersten zwei Zeilen der Strophe.
So habe ich versucht, einen Kontrast in jede Strophe einzubauen - das augenscheinlich Positive (die jeweils ersten zwei Zeilen) mit dem ökologischen Verhängnis in den darauffolgenden zwei Zeilen. Was ich genau mit der dritten sagen wollte, überlasse ich nun dem Leser.

Dennoch sehr interessant dein alternativer Ansatz zur Interpretation des Gedichtes. Mit Ausnahme der zweiten Strophe finde ich diesen recht treffend. Und letztendlich geht es ja auch um ein 'Verhältnis', des Menschen zu seiner Umwelt.

Dankend lieben Gruß

Tula
 

Perry

Mitglied
Hallo Tula,

nun wundert es mich auch nicht mehr, warum sich außer mir noch keiner zu deinem Aufruf gemeldet hat.:)
Deine Absicht die Umweltzerstörung zu thematisieren ist tatsächlich schwer erkennbar, denn außer der Eisschmelze und eventueller (radioaktiver) Mutationen sind weitere Bezüge nur schwer zu erkennen.
Wo steht im Text übrigens was von einer Trennung?
LG
Manfred
 

HerbertH

Mitglied
Für mich war der Umweltaspekt schon beim ersten Lesen glasklar, weil mich das Thema selbst auch lyrisch umtreibt. Den dreizehnäugigen Fisch sehe ich als Mutation des Neunauges, mit Bezug zur "Unglückszahl" 13, und daher sehr plastisch gewählt.

Manche Zeilenumbrüche würde ich anders machen, aber da ist viel Spielraum für eigene Vorstellunge.

Insgesamt ein Aufruf, der bei mir gut ankommt.

LG Herbert
 
T

Trainee

Gast
Hallo Tula,

dieses Werk wolltest du dem Vergessen anheimstellen? Jammerschade!
Für mich ist das einer deiner besten Texte.
Lediglich der Titel missfällt mir. - Im Netz besteht leider fortwährend die Gefahr, sich zu sehr an fremde Stile anzupassen.
Für dich ist dies kontraproduktiv, weil du bereits eine eigene, sehr poetische Sprache entwickelt hast, die Wortzerhackungen Ernst Stadler'scher Prägung überflüssig macht, jene eher fremdeln lässt.
Viele wissen es nicht: Der Telegrammstil hat sich seinerzeit parallel zu den Errungenschaften der Post entwickelt und ist schon insofern nicht mehr zeitgemäß, zuweilen sogar unfreiwillig komisch.
Andererseits: Wenn es thematisch passt (Bombenabwurf, Zerstücklung von Menschen usw), wirkt das nach wie vor sehr stark. - Hier ist jedoch davon nicht die Rede und das Gedicht nicht als Hommage zu lesen..
Vielmehr handelt es sich um ein ausgesprochen sprachschönes Umweltdrama. - Allein für den "dreizehnäugigen Fisch" gebühren dir Lob und Ehre. :)
Besonders gelungen auch die letzte Versgruppe:

sieh doch nur
das Eis es bricht dich mit
der Zeit die dir noch bleibt
für einen Blick

voraus
Wenn du noch was am Titel schrauben möchtest, dann "solltest" du etwas wählen, was im direkten Zusammenhang mit dem Schlusswort steht ... jetzt mal als Beispiel

Alle Kraft
....
....
....
voraus

Trotz dieser kleinen Mäkelei: ein dolles Dingens!
Trainee
 
Guten Abend, Tula!

Diese Verse gefallen mir auch sehr gut, auch dass das Thema von dir aufgegriffen wird. Naturlyrik einmal nicht nur allein als Ausdruck subjektiver innerer Befindlichkeiten, sondern verknüpft mit sehr konkreten inhaltlichen Intentionen...

Da muss ich an einen bitter-ironischen Song aus den Siebzigern (Achtzigern?) denken, den ich in der Kindheit gehört habe, da ging es auch um die Umweltverschmutzung und um mutierte Fische; der Name der Band ist mir entfallen - ein Vers/Refrain hallt noch nach:

"Rechts ist Blei, links ist Blei, Cadmium ist auch dabei..."

Aber das nur am Rande - dein Text weckt viele Assoziationen und regt doch sehr zum Nachdenken und Handeln an.

Gerne gelesen

Gruß,
Artbeck
 

Tula

Mitglied

Aufruf


siehst du nicht
das Eis es bricht jetzt
immer früher dort
wo es mal ewig war

spürst du nicht
wie alles wächst und sich ent-
wickelt aus dem Schlick
ein Fisch mit dreizehn Augen

merkst du nicht
wir sind nun endlich gleich
gebrechlich gleichen wir
uns ein und immer tiefer

sieh doch nur
das Eis es bricht dich mit
der Zeit die dir noch bleibt
für einen Blick

voraus
 

Tula

Mitglied
Hallo Herbert, Trainee, Artbeck und Walther

Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich hiermit eine gesammelte Antwort einstelle, ich habe mich über den regen Zuspruch und die Wertungen natürlich sehr gefreut.

Beim Drang, sich (ein Gedicht) mit sprachlichen Sonderheiten zu schmücken, sollte man vorsichtig sein. Der Hintergrund bezüglich veralteter Tele-Technik war mir so gar nicht klar. Und ich gebe zu, dass die Trennung den Leser wohl eher verwirrt, also belasse ich es der inhaltlichen Absicht entsprechend beim "Aufruf".

An den Text mit den vermeintlichen Bleien kann ich mich vage erinnern, muss mir das Lied nochmal ergoogeln. Ich denke beim Thema auch sehr gern an die verloren gegangenen Maikäfer (von Reinhard Mey) zurück. Auch dieses Zeichen nahmen damals wenige zur Kenntnis oder eben als Grund zur Besorgnis. Nun sind wir bei den Bienen und morgen ... wer weiß.

Also nochmals Dank und allen ein Blick voraus, womit ich jetzt nicht den verfluchten Montag meine :)

LG
Tula
 



 
Oben Unten