Augenblicke in Rom

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Stazione Termini: Das ist der Hauptbahnhof, ein großer Kopfbahnhof am Rand des Zentrums. Hier enden die Züge von Norden wie von Süden. Gewöhnlich drangvolle Enge in den Hallen und Durchgängen. Man kann seinen Hunger im Stehen eilig stillen, wie anderswo auf Bahnhöfen. Vielleicht schmeckt es nicht oder man ist vorzeitig satt. Du hast keinen Abfallbehälter gesehen und legst das Angebissene verschämt auf den Tresen zurück - der Angestellte wird es schon entsorgen. Das tut er, auf eine überraschende Weise: Verächtlich fegt er das schon bezahlte halbe Sandwich hinab auf den Steinfußboden. Da liegt noch mehr herum: Der Hallenboden dient als Sammelstelle für Kehricht jeder Art. Nachts wird dann gründlich aufgeräumt.

Du besuchst mitten am Tag in der Nähe der Engelsburg ein großes Café. Da debattiert eine Gruppe junger Männer. Gleich bei deinem Eintreffen wendet sich einer von ihnen dir zu, er lächelt. Du bist irritiert. Was soll das bedeuten? Er redet weiter mit seinen Freunden und schaut noch immer herüber. Er hat ein offenes, voraussetzungslos freundliches Gesicht. Du bist nahe daran, ihm zuzunicken - da hat er genug von deinem Zögern. Er wendet sich ab und sieht dich nicht mehr an, solange du noch im Café bist.

Beim Besuch der Ruinen von Ostia Antica regnet es. Es ist feucht-kühl und riecht muffig zwischen den alten Mauerresten. Wie in den Ruinenfeldern Roms gibt es Katzenkolonien. Die Katzen warten auf trockenen Plätzen das Ende des Regens ab. Allein ein verwaister Hund sucht Kontakt. Es ist ein mittelgroßer Bastard mit nur drei gesunden Beinen, das vierte hat er zum größten Teil eingebüßt. Bei diesem Mistwetter humpelt er auf drei Beinen durch die Ruinen von Ostia und sucht Anschluss an Menschen. Aber wer nimmt einen dreibeinigen Hund? Er weiß nichts von Impfzwang und Tiereinfuhrverboten. Man darf ihn sich nicht an einen gewöhnen lassen, man wird ihn dann nur schwer wieder los. Hoffnungsloser Optimist, hast keine Chance mehr und machst es dir nicht klar …

An der Via Appia Antica steht ein kleines Doppelgrabmal, er und sie frontal auf gemeinsamer Steinplatte abgebildet, wie zwei Medaillons dicht beieinander. Voller Demut schauen sie auf die Vorübergehenden. Die Plastik scheint überaus realistisch: zwei alternde, eng miteinander verbundene Menschen, die gemeinsam das Ungewisse erwarten, schicksalsergeben. Sie warten seit zweitausend Jahren. Von den Körpern ist vermutlich nichts geblieben, getreu erhalten haben sich in der Abbildung ihre Seelen.
 
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lietzensee

Mitglied
Gar nicht so leicht zu sagen, warum mir der Text gefällt. Er zeigt Motive aus dem Reiseführer schmutzig und deprimierend. Aber nimmt ihnen nicht ihren Reiz. Er verleugnet nicht, wie banal die Dinge sind. Aber er weist trotz dem auf eine tiefere Bedeutung. Ach ja, und das Stazione Termini: am Anfang passt schön zu dem Grabmal am Ende.

Viele Grüße
lietzensee
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
ein etwas unglücklich gefügtes quartett, in dem der zweite teil der schlechteste ist
was ist ein offenes voraussetzungslos freundliches gesicht? ist ein so beschriebenes gesicht als solches überhaupt noch erkennbar?
diese episode gibt auch sonst nicht viel her

die beste episode ist die vierte
aber leider auch nachlässig formuliert
lassen wir das dicht beieinander ruhig stehen, dann kann man schnell das nachfolgende eng miteinander ausdünnen und schön und einfach 'eng verbundene Menschen' schreiben
diese episode hätte eine eigene kurzprosa verdient (oder gedicht) : sie warten seit zweitausend jahren - das berührt

insgesamt nur durchschnittlich, kaum besser

gruß
gun.
 
Meinen Dank an die Kommentatoren und Bewerter für die mehr oder weniger wohlwollende Aufnahme des Textes.

Gunnar möchte ich dreierlei erwidern:

1. Ein freundliches Gesicht kann einer mit konkreten Absichten zeigen, es kann aber auch spontan das Naturell erkennen lassen. Hier war der zweite Fall gemeint.

2. Die ersten drei Kurzepisoden bilden eine Reihe von vergeblichen Anläufen. Die abschließende vierte ist dann der Kontrapunkt.

3. dicht beieinander bezieht sich auf die plastische Darstellung des Körperlichen, eng miteinander aufs Seelische der Figuren.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
ich antworte nicht auf deine nichtantwort

bei dir weiß man worauf es hinausläuft

gun.
 
Gunnar, ich bin inhaltlich auf deine Einwände eingegangen. Es steht dir frei, darauf einzugehen oder nicht. Nur solltest du Letzteres nicht für Verdrehung und Unterstellung benutzen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

steyrer

Mitglied
Kleine Irritation am Ende des dritten Absatzes:

Du hoffnungsloser Optimist: Hast keine Chance mehr und machst es dir nicht klar …
Wer ist hier mit der Anrede "Du" gemeint? Der Hund oder vielleicht doch der Leser, der ebenfalls von Beginn an mit Du angesprochen wird?

Über die Bedeutung des Wortes "hoffnungslos" könnte ich lange philosophieren, aber vermutlich ist es umgangssprachlich gemeint : )

Ansonsten: Das Viech nutzt die Chance, die es nicht hat.

Liebe Grüße
steyrer
 
Wer ist hier mit der Anrede "Du" gemeint? Der Hund oder vielleicht doch der Leser, der ebenfalls von Beginn an mit Du angesprochen wird?
Danke, steyrer, für den Hinweis. Ja, das "Du" ist hier missverständlich und sollte von mir beseitigt werden. Im Übrigen wird sonst mit "Du" nicht der Leser angesprochen, sondern der Erzähler im Gespräch mit sich selbst.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Hallo Arno Abendschön,

mir gefällt diese Prosa:
Konnte beim Lesen schnell in die entsprechende, jeweils ansprechend illustrierte Umgebung/Szenerie eintauchen (wenn auch nur assoziativ, da ich noch nie in Rom war) und mir die Figuren/Umstände ausmalen bzw. weiterspinnen.

LG
Keram
 
Danke, Keram, für Zustimmung und Wertung. Es ist natürlich eine sehr subjektive Zusammenstellung und die Eindrücke sind auch nicht mehr ganz taufrisch. Andere mögen ein ganz anderes Rom-Bild haben.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Arno,

gerne gelesen, auch wenn ich einige Formulierungen als gestelzt empfinde, wie z.B. "drangvolle Enge" und "Hunger im Stehen eilig stillen" ...

Jeder liest ja anders, aber mir gefällt die Idee, dass ein Mann "seine große Liebe" stalkt, obwohl er weiß, dass er nie sie nie kriegen wird. Daher ist der Mann für mich auch der dreibeinige Hund, den keiner will. So schon traurig, durch das Ende dann nochmal verstärkt: 2 Menschen, die sich gefunden haben, bleiben für immer vereint. Apropos: Das Ende finde ich zu dick aufgetragen. Hätte den letzten Satz einfach weggelassen.

Just my 2 Cents

Gruß,
Vitelli
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke, Vitelli, für die positive Reaktion. Über deinen Anmerkungen zum Stil habe ich nachgedacht und bin zu folgenden Ansichten gelangt: "Drangvoll" und "Hunger im Stehen eilig stillen" könnten hier im Zusammenhang mit einer Bildungsreise als Ausdrücke gehobener Sprache durchgehen, als "gestelzt" empfinde ich es nicht. Eine flüchtige Prüfung ergab, dass "drangvoll" relativ häufig schriftsprachlich verwendet wird. Den letzten Satz des Textes kann man wohl für entbehrlich halten, würde ich jedoch mit "Sie warten seit zweitausend Jahren" schließen, bekäme er einen von mir nicht gewollten pathetischen Schluss. Der jetzige letzte Satz scheint mir insofern etwas gefälliger. Außerdem thematisiert er noch den Gegensatz von körperlich = vergänglich und seelisch = überdauernd. Damit wird Rom als Ewige Stadt noch ein klein wenig interpretiert.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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