AURUM 4/11

Michael Kempa

Mitglied
Hoffnung

September, 19875 vor Christus



Istar stieg aus ihrer Schlafkammer. Das Licht war schemenhaft, die Luft roch muffig. Es wurde heller, ein Monitor begann Bilder zu zeigen, die Luft wurde frischer. In der Schlafkammer gab es Nahrung und Wasser.
Die Außenbilder waren wenig spektakulär, eine verschneite Hochebene, spurlos glänzender Schnee.
Nachdem sie gegessen und getrunken hatte und die Kleider gewechselt waren, ging Istar an den Tisch, den sie für ihre Arbeiten benutzen würde. Eine erfreuliche Nachricht gab es: Ka meldete sich auf dem Monitor, sie musste nur noch ihre Kennung bereitstellen. Ka war im Wartemodus.
Der Bioscan war fast nicht zu bemerken, die Kristalle arbeiteten einwandfrei.
Ka meldete sich mit einer angenehmen Stimme: „Es ist schön, dass du wieder mit mir sprichst“, freute sich Ka.
„Was kannst du berichten?“, fragte Istar.
„Ich habe Kartenmaterial und viele Bilder von der Erde; es regt sich Leben, doch vieles ist verloren. Was mich wundert: Es gibt keine Nachrichten von Cela eno, es ist so, als ob es dort niemanden gäbe. Von Mardu habe ich auch nichts gehört; die Zerstörung der Himmelspaläste ist total. Kein Signal. Es gibt noch Fragmente der Paläste, und ohne Pause regnen die Trümmer auf die Erde, viele kleine Stücke; doch morgen kannst du mit eigenen Augen sehen, wie ein Reaktor verglühen wird, das kommt nicht mehr so oft vor. Vor Mitternacht wird das Schauspiel sichtbar werden.“
„Ich werde es mir ansehen.“
„Wie sind deine Pläne, Herrin?“, fragte Ka.
„Lass mich denken! Sind noch welche unserer Art da?“
„Ich habe Hinweise - keine Beweise, hier und da gibt es Aktivitäten. Vom Nil wird Aurum gesendet - wenig und immer seltener. Das letzte Paket vor 87 Zyklen - Entschuldigung - Jahren. In den Ozeanen gibt es Spuren. In Madol und am Kontinent jenseits des Atlantik. Das sind nur schwache Spuren; Kontakte gibt es nicht. Alles, was ich weiß, beobachte ich als Ka aus meiner Umlaufbahn.“

Istar setzte sich schwer auf den Stuhl vor den Monitoren. Sie las, sortierte, betrachtete Landkarten, Bilder und Berichte. Dann sprach sie mit Ka und wünschte sich Begleitung.
„Natürlich!“, versprach er. „Du wirst mich in Tanesar finden, dann können wir wieder zusammenarbeiten.“
Istar war etwas verstört und wusste nicht, wie sie antworten sollte, Ka war nicht ihr Untertan, das war er nie gewesen.
Es vergingen Wochen, bis ihr Gleiter startklar war.

Der Flug nach Tanesar war von Umwegen und Zwischenlandungen geprägt. In Tanesar war der Empfang dürftig, nur wenige Menschen warteten auf Istars Auftritt. Eine Delegation begleitete Istar zum Palast, der ihr eher wie eine staubige Burg vorkam. Es gab keinen Marmor mehr, durch die Fenster wehte der Wind, die Möbel waren grob behauen, und Felle waren neben den Öllampen der einzige Luxus. Höflich, aber deutlich zurückhaltend verneigten sich die wenigen Anwesenden vor Istar. Die Einheimischen erkannten sie nicht als ihre Herrscherin, brachen nicht in Jubel aus, sondern behandelten sie wie einen Gast aus einem fernen Land. Selbst ihre Sprache hatte sich verändert, sie war einfacher, direkter und grob.

In Kalkata gab es einen Herrscher, der Unterwürfigkeit verlangte, und es wurde gerade an einer Straße dorthin gebaut.
Im Rat gab Istar ihren Wunsch bekannt, zu diesem Herrscher zu reisen. Niemand hielt sie auf, niemand unterstützte sie.
Dann kam ein halbwüchsiger Junge auf Istar zu und zupfte sie an ihrem Gewand.
„Ich bin Harom, du wirst mich erkennen!“
Istar war verblüfft, fühlte sich angegangen und überlegte, wie sie dieser Unverfrorenheit begegnen sollte. Begeistert war sie nicht. Dann kam Jak, der Älteste von Tanesar, und entschuldigte sich.
„Herrin, das ist Harom, ein Waisenjunge, der von mir aufgenommen wurde, er hat hier nichts zu sagen, er ist einfach hier, weil er da ist. Soll ich ihn bestrafen?“
„Wofür? Weil er da ist?“
Jak zuckte mit den Schultern und ging wieder zu seinen Leuten.

Zusammen mit Harom machte sich Istar auf den Weg, der Gleiter blieb in Wartestellung. Der Junge erwies sich als tauglicher Führer: Er kannte das Land und die Bewohner, und er konnte die Zeichen der Natur deuten. In einem Dorf, eher eine kleine Ansammlung von Hütten, verbrachten sie die Nacht.
Die Straße von Tanesar nach Kalkata war eine Schneise durch den Dschungel. Istar wollte es nicht als Straße bezeichnen. Die Menschen in dem Dorf waren arm; sie lebten von dem, was der Dschungel hergab, kleine Gärten lagen versteckt hinter den Hütten; die Frauen stampften Körner und Wurzeln in großen Holztrögen, zahnlose ältere Menschen saßen am Dorfplatz, einige flochten Körbe, andere arbeiteten an Seilen, die auf Spulen gewickelt wurden. Die Kinder liefen barfuß im Schlamm, einige hatten dicke Bäuche; offenbar waren sie mitten im Dschungel schlecht ernährt und litten an Krankheiten. Harom drängte zum Aufbruch. „Ein schlechter Ort,“ sagte er ohne Emotion.

Am zweiten Tag mussten sie einen Fluss überqueren; es gab keine Brücke. Am Ufer stauten sich die Wagen, die Fuhrleute beruhigten die Ochsen, und einige wagten die Fahrt durch die hüfttiefe Furt. Zwei Fähren boten ihre Dienste an, für Waren die nicht nass werden sollten, und jene, die das Wasser fürchteten. Mit dem Fährmann kamen sie in ein Gespräch: Von einer Brücke wusste er nichts, er hatte auch nie eine gesehen und konnte sich einen festen Weg über das Wasser nicht vorstellen.
„Das wird eine Geschichte, die ich erzählen kann, ein Weg über das Wasser, ohne nass zu werden!“ Der Fährmann bedankte sich für die Geschichte und winkte den Reisenden freundlich nach.

So, wie die erste Furt, so kam auch die zweite; dann waren sie im Reich von Esa. Noch zwei Tagesreisen, dann sollten die Mauern von Kalkata erscheinen. Es dauerte drei Tage; die Wege waren irgendwann ausgetrampelte Pfade, von einer Straße war kaum etwas zu erkennen.
Kalkata bot sich als eine befestigte Karawanserei dar. Der Sitz vom Herrscher des Landes war ein Gebäude aus Lehm, mitten in der Ansiedlung. Es hatte sich herumgesprochen, dass eine Reisende aus Tanesar eingetroffen war, die mit Jak, dem Herrscher der anderen Stadt, bekannt war.
Istar wurde zum abendlichen Treffen in den Räumen Esas eingeladen - eher vorgeführt. Esa war ein kleiner, gedrungener Mann, gesund, doch längst nicht so elegant wie Jak.
„Erzähle mir von deiner Reise und erzähle mir von Tanesar und seinem Herrscher.“ Esa stopfte sich Trauben in den Mund und schaute gelangweilt über die Versammlung. „Wer ist dein Begleiter? Hältst du dir einen Galan?“ Die Bemerkung wurde durch Gemurmel der Anwesenden begleitet.
Istar überlegte. Von diesem plumpen Wilden hatte sie nichts zu erwarten. Sie musste sich Respekt verschaffen, um wahrgenommen zu werden.
„Edler Herrscher,“ hob sie an, „ich kann dich nicht richtig sehen, wo bist du in diesen düsteren Hallen? Wo ist dein Glanz?“
Istar hob ihre Hände und füllte den Saal mit hellem Licht. Der Mangel an Schmuck und Glanz wurde schlagartig offensichtlich.
Esa sprang auf und schaute direkt in die Strahlen. Die Wachen um Esa schützten ihre Augen und spähten durch ihre Finger in das Blenden. Es war schlagartig still.
„Eine Zauberin!“, raunte es durch die Halle.
Esa stand eine Weile unbewegt, dann beugte er sich ein kleines Stück und fand wieder seine Worte. „Setze dich zu uns und sage, wer du bist, sei mein Gast, ebenso wie dein Begleiter!“
Die unerkannte Königin nahm sich ihren Platz und deutete Harom einen Sitz an.
„Ich danke dir für deine vorzügliche Gastfreundschaft, Herrscher von Kalkata.“ Die Ironie war in ihrer Stimme nicht zu überhören.
„Wer bist du?“ Die geflüsterte Frage von Esa verstärkte Istar tausendfach und ließ das Echo markdurchdringend durch den Raum hallen.
Wer bist du? Wer bist du? Wer bist du? Wer… Bist du? Bist du? Du? Du?
Der Herrscher von Kalkata wich zurück und hielt seine Hand vor den Mund.
„Morgen werden wir reden, Harom, du und ich. Bis dahin bedanke ich mich für deine Gastfreundschaft.“

Der Morgen begann kurz nach dem Sonnenaufgang. Vorsichtig fragten Diener nach den Wünschen ihrer Gäste, und nach einer Weile war es Zeit zur Unterredung.
Istar verlangte eine feste Unterkunft, und sie setzte ihre regelmäßige Teilnahme an den Audienzen des Herrschers durch.
Esa war nicht begeistert, doch der durchdringende Blick aus den kalten, grünen Augen einer Echse ließ ihn wanken; und wieder fragte er: „Wer bist du?“
„Du würdest es nicht verstehen, vertraue mir, und du wirst es nicht bereuen!“ So ließ Istar den kleinen, wilden Mann stehen und begann mit ihrer Arbeit.

Auf dem Weg von Kalkata nach Tanesar gab es bald die ersten Holzbrücken, die Wege wurden befestigt. Ein stabiler Handel zwischen den Städten begann und sorgte für bescheidenen Reichtum. Harom entwickelte sich zu einem angesehenen Lehrer und entwickelte das Umland von Tanesar; Kinder mit Hungerbäuchen gab es immer weniger. Esa begann sein Reich in Richtung Norden auszudehnen.
Harom und Istar trafen sich regelmäßig in Kalkata und Tanesar.
„Ich bin müde“, begann Istar das Gespräch mit Harom. „Die Entwicklung der beiden Städte verläuft zäh und schleppend, Esa versteht nicht, worum es geht, er bereichert sich, wo er kann - sein Volk ist ihm egal. Jak entwickelt seine Religion und pflegt seine wöchentlichen Brandopfer. Mit beiden kann ich nicht vernünftig arbeiten, und muss aufpassen, dass ich nicht Ziel einer Verschwörung werde. Das Wissen fehlt, und der Machthunger der Leute ist groß.“
Harom stimmte zu. „Es stimmt Herrin, es gibt noch viel zu tun, und manchmal bin ich versucht, die Macht zu übernehmen, und die Dinge zu beschleunigen.“
„Dann beschleunigen wir die Dinge!“ Istar wirkte entschlossen.
„Wir versammeln die Menschen mit Verstand und gründen zwei Zentren, an denen Bildung entstehen kann. Eine Schule hier in Kalkata und eine Schule in Tanesar.“
„Viele Menschen mit Verstand wirst du nicht finden…“ Harom konnte ein Grinsen nicht komplett unterbinden.

Jahre später gab es zwei Schulen. In Tanesar wurde Heilkunde gelehrt, in Kalkata ging es um Gebäude, Straßen und Brücken. Der Grundstein war gelegt, die erste Brücke aus Stein stand.
„Harom, ich will, dass du dich weiter um diese zwei Städte kümmerst. Ich werde sehen, ob ich jemanden von unserer Art finde, und ich will herausfinden, warum sich von Cela eno niemand mehr meldet. Ich will wissen, was mit Ningal passiert ist, warum meine Mutter nicht mehr spricht, was aus Enk, meinem Vater, geworden ist.“
Harom verstand.
„Herrin, ich diene dir als Ka und halte Kontakt zwischen den Sternen, so wie es mir möglich ist. Heute nenne ich mich Harom, und alleine du weißt, dass ich dein Ka bin. Ich werde unser bestes geben, wenn du das befiehlst, und du wirst es wissen, wenn ich dir wieder begegne.“
Istar war selten emotional, doch sie schloss Harom in ihre Arme, beugte sich, und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
So begann die Tochter von Ningal und Enk ihre Reise auf der Suche nach Leben ihrer Art.
Harom blieb mit feuchten und grün leuchtenden Augen zurück.





 



 
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