Aus dem Leben eines Außenseiters

Sich nach gut zwanzig Jahren an ein einzelnes Thema des Deutschunterrichts in der elften Klasse zu erinnern ist ungewöhnlich. Dass Gerrit Wirtz sich in seiner heutigen Situation daran erinnert, ist mehr als das, zumal er jahrelang keinen erkennbaren Bezug mehr zu seiner Schulzeit gehabt hat. In seiner momentanen Lage gäbe es auch relevantere Themen für ihn, als eine Interpretation zu Goethes Die Leiden des jungen Werther. Unvorhergesehen steigt hierzu ein Gedankensplitter aus seinem Unbewusstem auf, er fühlt sich in die damalige Zeit zurückversetzt. Aktuell ist Gerrit am Ende. Alle Versuche von Freunden und Familienangehörigen, ihn aus seiner prekären sozialen Situation herauszuholen, prallen an ihm ab. Er bleibt am Bodensatz der Gesellschaft kleben, wie sein Vater es einige Wochen vorher resigniert ausdrückte. In einem seiner wenigen klaren Momente erkennt Gerrit seine aussichtslose Lage. Sein verquollenes, vom jahrelangen Alkoholmissbrauch gezeichnetes Gesicht scheint sich dann zu glätten. Es liegt ein trauriges Lächeln in seinem Ausdruck, nicht das dümmliche Grinsen, das in diesem Stadium der Trunkenheit oft die Gesichtszüge entgleisen lässt. Das Stadium der Verzweiflung und des Selbsthasses liegen hinter ihm. Gelegentlich aufkeimende Anwandlungen einer irrationalen Euphorie lockern immer seltener seine Stimmung auf.

Und jetzt dieser Flashback, ausgelöst durch eine spontane Erinnerung an den früheren Deutschunterricht. Wechselnde diffuse Bilder tauchen auf; Gerrit erlebt Gefühle der damaligen Situation erneut. Das Thema Selbsttötung des jungen Werther in Goethes Roman ist ein sehr komplexes Thema für siebzehnjährige Schüler. Sein Entsetzen über den flapsigen Umgang etlicher seiner Mitschüler mit dem Thema Suizid hat ihn seinerzeit stark verunsichert. Dies wirkt lange in ihm nach. Allein der empathische Deutschlehrer vermag den sensiblen Jungen von dessen düsteren Gedanken zu befreien. Die ausdrucksstarken Worte des Dichterfürsten Goethe haben in nicht vorhersehbarer Weise das Seelenleben eines jungen Menschen erschüttert. Unterschwellig belastet diesen das Thema Selbsttötung sein Leben lang. Und das hat Folgen für den Werdegang des Jugendlichen. Er kann mit emotionalen Komplikationen schlecht umgehen. An etliche vergangene Begebenheiten erinnert Gerrit sich nur noch schwach. Einige markante Erlebnisse aus der Phase direkt nach den Jurastudium erscheinen ihm hingegen immer noch in erschreckender Klarheit. Es ist die Zeit als Referendar nach dem ersten Staatsexamen in einer renommierten Anwalt-Sozietät in der nahen Großstadt. Dies sollte sein erster Schritt auf dem Weg nach oben sein. Er, der mit Fleiß und Ehrgeiz sein Studium absolviert hat, durchlebt hier Monate voller richtungsweisender Eindrücke. Nicht nur die Berufswelt als junger Anwalt, sondern auch das gesellschaftliche neue Umfeld, der scheinbar nahe Aufstieg, faszinieren ihn, einen Menschen, der aus sehr einfachen Verhältnissen stammt.

Und dann ist es ein sehr privates Ereignis, das ihn in ein emotionales Desaster führt. Gerrit verliebt sich in die Tochter seines Chefs, Luisa. Die attraktive junge Frau geht zunächst auf seine Annäherungen ein, distanziert sich aber von ihm, als ihr Verlobter Adrian von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückkehrt. Das Gefühl der Ablehnung schmerzt, Gerrit stürzt in eine emotionale Krise. Ab hier verschwimmen seine Erinnerungen, die nur durch schlaglichtartige Aufhellungen wieder erkennbarer werden. Eine davon ist die an den Disput mit seinem Widersacher Adrian Tauber. Es kommt zu einer Diskussion über Allgemeines im Privatleben und Beruf, die in eine Auseinandersetzung über Gerrits Begehrlichkeiten mündet. Im weiteren Verlauf der heftigen Diskussion wird der abgewiesene Nebenbuhler im angetrunkenen Zustand verbal übergriffig. Er beschimpft die Familie und das gesellschaftliche Umfeld seines Arbeitgebers. Er will mit dieser aufgeblasenen Mischpoke, wie er sie nun nennt, nichts mehr zu tun haben. Zu heftig sein Ausbruch. Gerrit wird tags darauf gefeuert. Er sucht die Schuld für sein Dilemma nicht bei sich, es sind die anderen, die ihn seiner Einschätzung nach zum Außenseiter machen. Ein letztes Gespräch mit Luisa verläuft frustrierend; sie weist ihn endgültig ab. Gerrit Wirtz geht den seiner Ansicht nach einzig richtigen Weg: zurück ins kleinbürgerliche Milieu. Mit seiner Bildung und Eloquenz fällt es ihm nicht schwer, eine berufliche Tätigkeit außerhalb einer akademischen Laufbahn zu finden. Aber auch hier stößt er bald auf Probleme. Er macht sich in verschiedenen Anstellungen erneut zum Außenseiter, dessen Tiraden auf die sogenannte bessere Gesellschaft, auf die oberen Zahntausend, für sein Umfeld irgendwann unerträglich werden. Seine sozial-romantisch verbrämten Parolen vom Leben der einfachen Leute, die ihren Lebensunterhalt mit ehrlicher, harter Arbeit fern einer selbstzufriedenen Oberschicht bestreiten, führen ihn auch hier ins Abseits. Nach verschiedenen, häufig wechselnden Tätigkeiten stürzt er gesellschaftlich weiter ab, unverschuldet, wie allerdings ausschließlich er es empfindet.

Gerrit Wirtz ist mit Ende dreißig am Tiefpunkt angekommen. Das Leben, das er führt, findet nun tatsächlich bei sehr einfachen Leuten statt - tief in deren unterstem Milieu. Er wird zum Sozialfall. Die öffentliche Unterstützung, die er erhält, genügt für die Nutzung einer Schlicht-Wohnung in einer kommunalen Einrichtung. Der Rest der finanziellen Beihilfe geht für Alkohol und Tabak drauf. Sein zweites Zuhause wird eine Kaschemme, in der er häufig seine Tage verbringt. Äußerlich ist er bald kaum noch von den anderen Gestrandeten zu unterscheiden. Es ist aber seine Art sich darzustellen, und wie er über die Dinge des Lebens redet, die ihn auch hier in kürzester Zeit wieder zu einem Nichtdazugehörigen macht. Er wird erneut zum Außenseiter, er ist hier nur geduldet, und an der Stelle begreift er dieses. Und dann der denkwürdige Tag seiner Rückbesinnung; für ihn ist eine Umkehr keine Option mehr. Gerrit erkennt, er hat die Deutungshoheit über sein Dasein verloren, er hat im falschem Leben gelebt. Dazu die Erinnerung an ein belastendes Thema des lange zurückliegenden Deutschunterrichts, das ihn aufrüttelt, aber ihn nicht aus seiner Zwangslage befreien kann. Seine neuerliche Sicht auf den Konflikt Goethes tragischen Helden Werther bleibt unscharf – trotzdem, er wirkt fokussiert als er das Lokal verlässt. Dort wird er nie wieder gesehen. Gerrit Wirtz hat einen Entschluss von Wertherscher Tragweite gefasst. Es sind nur wenige hundert Meter bis zu seiner Unterkunft.

Wenige Tage später finden Polizeibeamte in einer Wohneinheit der städtischen Gemeinschaftseinrichtung die Personaldokumente Gerrit Wirtz'. Direkt daneben entdecken die Beamten eine geladene, schussbereite Pistole der Marke Beretta auf einer Anrichte. Nachforschungen ergeben, es ist die Pistole, die ein gewisser Adrian Tauber vor längerer Zeit als gestohlen gemeldet hat.
 
Hallo Horst,
kennst Du eigentlich von Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Er hat sich locker an dem Original von Goethe orientiert. Durch Plenzdorf bin ich darauf erst aufmerksam geworden und habe es dann nach mehrmaligen Anläufen gelesen. Jetzt finde ich es genial. Man spürt ein echtes Gefühl. Obwohl die Liebesgeschichte nur einseitig ist, hat sie die Jahrhunderte überdauert und ist frisch, als wenn sie erst gestern geschehen wäre. Goethe zu seinen besten Zeiten.

Die Geschichte hinter dem Buch ist auch interessant. Goethe hat sehr autobiographisch geschrieben. Er hält sich extrem nah an die wirklichen Geschehnisse. Das Vorbild für Werther, war neben ihm selber, wohl ein gewisser Jerusalem, merkwürdiger Name. Sogar die Pistole ist wirklich von Albert, dem Verlobten von Lotte. Auf einem Grabbeltisch fand ich ein Biographie von ihr. Ich vermute, dass sie von Anfang an nur Albert geliebt hat, und G benutzt hat, um ihn eifersüchtig zu machen. Außerdem wollte sie so schnell wie möglich heiraten und nicht länger warten, was ihr ja auch gelungen ist.

Jetzt zu Deiner Geschichte. Vielleicht hättest Du Zitate vom Werther mit einbeziehen können, wie Plenzdorf es gemacht hat. Ich finde, Du hast Möglichkeiten verschenkt. Die Idee, dass jemand in eine Kleinstadt kommt, und dort sein Referendariat macht, so wie G es auch gemacht habe, finde ich gut. Ich hätte das noch mehr mit dem Originaltext verknüpft. Aber Du hast ja eine Kurzgeschichte geschrieben. Plenzdorf dagegen einen Roman. Es ist ihm gelungen, etwas vom Genie der Vorlage in sein Buch einfließen zu lassen.
Gruß Friedrichshainerin
 
Hallo Friedrichshainerin,
danke für Deinen Kommentar. Die Werther-Adaption von Plenzdorf kenne ich nicht, klingt aber interessant. Wie Du richtig anmerkst, ist meine Niederschrift eine Kurzgeschichte, sie lehnt sich nur entfernt an Goethes Werther an und hätte sicher mehr Tiefe vertragen. Zitate oder eine größere Nähe anderer Art habe ich bewusst vermieden, in einen Roman würden diese eher hineinpassen; ich wollte aber nicht zu stark in das 'Fahrwasser' des übermächtigen Meisters geraten. Stimmt, etliche Werke Goethes haben oft einen Bezug zu seiner Vita - viel Aufschlussreiches darunter.
Herzliche Grüße.
Horst
 



 
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