Aus der Provinz

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Didi Costaire

Mitglied
Aus der Provinz

Die Größen des Ortes sind relativ klein.
Wer hier mal gewohnt hat, ist kaum prominent.
Zentral steht ein Denkmal aus gräulichem Stein,
benannt nach nem Bauern, den keiner sonst kennt.

Nicht einer, der rennt, denn die Zeit bleibt hier stehn,
genau wie die Busse. Die fahren nicht oft.
Gleich hinter dem Mond lebt wohl niemand mondän,
obwohl manches Mondkalb auf Besseres hofft.

Allein das Gefängnis ist prachtvoll und groß.
Wer dort erst mal drinsitzt, kommt schwer wieder raus.
In unserem Städtchen ist selten was los.
Geh nicht über Los! Geh am besten nach Haus.





(Juli 2011)
 

Didi Costaire

Mitglied
Hallo Andreas,

es freut mich, dass dieses Gedicht nicht ganz ohne Reaktion in der Versenkung verschwindet.

Danke und beste Grüße,
Dirk
 

sufnus

Mitglied
Hey Dirk!

Ja, also so schnell sollten diese überaus wohlgelungenen Zeilen wirklich nicht der Versenkung anheimfallen! :)
Der offenkundige "Star" dieser Zeilen, jedenfalls für mich und beim ersten Leseeindruck (das Bid differenziert sich dann bei mehrmaliger Lektüre) - also der erste Erfreunisfunke, der auf mich überspringt, entzündet sich an der rhythmischen Gestaltung.

Man kann jetzt trefflich debattieren, was für ein Metrum aus der großen daktylischen Familie der Doppelsenkungen hier jetzt genau am Start ist. Auf alle Fälle sind wir mit vier Hebungen unterwegs. Und man könnte da jetzt einen Amphibrachys kognoszieren, dem die letzte unbetonte Silbe abhanden gekommen ist (durchgängig männliche Kadenzen). Alternativ könnte man auch einen Anapäst ausrufen, wobei am Anfang eine unbetonte Silbe weggelassen wurde (akephaler Anapäst). Oder (das ist die argumentativ aufwändiste Lesart) man deutet die Chose als Daktylus mit Auftakt (eine unbetonte Silbe "außer der Reihe" vorneweg) und mit Kürzung von zwei unbetonten Silben am Ende.
Also: Katalektischer Amphibrachys oder akephaler Anapäst oder auftaktischer Daktylus mit Brachykatalexe.

Gut ockhamisch Argumentiert kommt die letzte Lesart eigentlich nicht in Frage, weil man hier zuviele Schleifchen drehen muss, um das auf diese Beschreibung einzugrooven.
Aber ehrlich gesagt, gefällt mir die am besten. Einen Amphibrachys verbinde ich mit einer noch stärkeren Schaukelbewegung (wobei man natürlich sagen muss, dass alle diese Metren mit regelmäßigen Doppelsenkungen im Deutschen mehr oder weniger "schaukeln" und eine gewisse walzerhafte Anmutung haben). Den Anapäst wiederum assoziiere ich mit einem stärker vorwärtsdrängenden, auf die Betonung zielenden Rhythmus, was den Versen oft etwas leicht Atemloses verleiht (bsp. "Der Anapäst" von Weinheber). Bei Deiner schönen Provinzklage, lieber Dirk, korrspondiert für mich mit dem melancholischen Duktus der Zeilen sehr schön eine irgendwie "fallende" Rhythmuslinie, so dass ich beim laut Lesen für mich am Ende fast zwei ungelesene unbetonte Silben ergänze und das Ganze für mich wie eine Art Daktylus rüberkommt. Sehr interessanter Effekt ist das! :)

Und nach diesem langen Rhythmuserguss nur noch eine kurze Anmerkung zur Sprache (kurz nur, um hier nicht völlig den Rahmen zu sprengen - je öfter ich diese Zeilen lese, desto mehr interessiere ich mich für die Sprachhandhabung, die hier realisiert wurde): Was mir ganz besonders gut gefällt, ist, dass das melancholische oder "beklagende" Element hier durch ein gerüttelt Maß Verschmitztheit gewürzt wird, so dass der Text überhaupt nicht in einen Jammerton kippt, sondern einiges an augenzwinkerndem Humor auffährt. Kästner oder Kaléko hätten diesem Text sicher wohlwollende Wesensverwandtschaft attestiert.

Ich mags sehr! :) Wirklich äußerst gerne gelesen!

LG!

S.
 

Didi Costaire

Mitglied
Hallo sufnus,

vor zwölf Jahren war dieses Gedicht einer der ersten Versuche mit dem wiegenden daktylischen Rhythmus. Ich mag ihn vom Klang her sehr gern und habe in letzter Zeit relativ viele solcher Verse verfasst, teils dreihebig und teils vierhebig, manchmal auch zweihebig. Das gelingt mir, denke ich, auch ganz gut, vollständig theoretisch durchdrungen habe ich die Materie allerdings noch längst nicht.

Daher gefällt mir deine Formulierung
Katalektischer Amphibrachys oder akephaler Anapäst oder auftaktischer Daktylus mit Brachykatalexe.
ausgesprochen gut. Dein Kommentar geht ohnehin runter wie Öl. Herzlichen Dank dafür, Dank auch an Arianne und fee für die weiteren Sternchen.

Liebe Grüße,
Dirk
 

sufnus

Mitglied
Hey Dirk!
Ja, also ich bin ja im Allgemeinen gar nicht sooooo der Fan metrisch streng gefügter Klänge aus dem Fundus der Doppelsenkungsrhythmen, vor allem habe ich eigentlich dann ein bisschen Schwierigkeiten, wenn die Hebungen und Senkungen so achtsam verfugt wurden, dass eine rhythmisch freie Lesart praktisch verunmöglichst ist.
Genau diese Art der Verarbeitungssorgfalt ist in Deinem schönen Gedicht zu konstatieren und eine metrisch-ungebundene Lesart wird listig hintertrieben, also sollte der Text für mich, in meiner Privatästhetik, eigentlich gar nicht so gut funktionieren - das tut er aber doch! Was mal wieder zeigt, dass Regeln (zumal ästhetische Regeln) unbedingt von ihren Ausnahmen leben. Und ich glaube, ich ahne auch, warum der Text für mich funktioniert: Das macht die sehr gelungene Mischung aus metrischem Feinsthandwerk und einer gewissen sprachlichen Saloppheit.
Übrigens wundere ich mich, dass sich hier keine Stimmen aus der Provinz zu Wort melden, die entweder der Beklagnis ländlicher Einöde herzhafte Zustimmung leihen oder aber mit Verweis auf die schönen Seiten ruraler Daseinsformen ein gutes Wort für abgelegene Gegenden einlegen. Gibts hier keine Romantiker:innen der Abgeschiedenheit? Alles Großstadtwesen hier?
LG!
S.
 

Didi Costaire

Mitglied
Hey sufnus

und danke für die Einblicke. Mich reizt bei Reimgedichten aller Art unter anderem, innerhalb von sprachlichen Korsetten unterschiedlicher Art einen lockeren und natürlich klingenden Sprachfluss hinzubekommen und es freut mich, wenn es ganz passabel gelingt.

Der beschriebene Ort ist übrigens immerhin ein sogenanntes "Oberzentrum". :rolleyes:

Herzliche Grüße,
Dirk
 



 
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