Aus einem gefundenen Tagebuch

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lietzensee

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Aus einem gefundenen Tagebuch​

Wir sind jung und rastlos. Noch berauscht von der Freiheit, im Dunkeln allein aus dem Haus zu dürfen, treffen wir uns an Straßenecken und lassen die Zigaretten aus den Mundwinkeln hängen. Erster Kuss und erste Schlägerei, ja, ich fühle, dass unsere Zeit gekommen ist. Uns Jungen soll die Zukunft gehören und sogar der Platz vor dem Rathaus heißt "Platz der Jugend". Aber nachts im Bett bekomme ich manchmal Angst. In dieser Stadt gehen seltsame Dinge vor.

Mit meinen Freunden gehe ich weiter die Straßen entlang, wir Kerle mit breiten Schultern und die Mädels mit wiegendem Po. Die Freunde tun, als wäre alles unverändert. Ich aber spüre, dass nichts mehr ist, wie es war. Früher haben uns die alten Männer auf der Straße misstrauisch beäugt. "Wie seht ihr denn aus?" und "Geh endlich zum Frisör!" riefen sie. Jetzt eilen alle achtlos an uns vorüber. Alte Frauen lächeln nur abwesend. Die Erwachsenen gehen nicht mehr in ihre Büros und meine Eltern schweigen, wenn ich ihnen einen guten Morgen wünsche.

Kein Grund zur Aufregung, würden meine Freunde sagen, wenn sie darüber sprechen würden. Wir wollen ja, dass uns die Alten in Ruhe lassen. Die Schultüren öffnen nicht mehr, wenn die Glocke läutet. Aber auch das Kino bleibt geschlossen. Autos halten vor grünen Ampeln. Die alten Fahrer springen raus und kommen nie zurück. Es wird immer merkwürdiger. Uns Jungen soll die Stadt einmal gehören und es scheint, als würde sie sich vor unseren Augen auflösen. Vielleicht zwei Wochen ist es her, dass die Alten angefangen haben, neue Kleidung zu tragen. Sie reden nicht darüber. Sie ziehen sich einfach anders an. Als ich Vater danach fragte, sagte er nur "Das verstehst du nicht" und hob die Hand zum Schlag. Zumindest dies hat sich nicht verändert. Doch es kann mich kaum trösten.

Die Alten tragen schwarze Mäntel mit merkwürdig hohen Kragen. Die neue Tracht spannt sich straff um ihre Körper und zieht gebeugte Rücken gerade. Sie ziehen ihre Mäntel gar nicht mehr aus. Endlos laufen sie damit in der Stadt umher. Treffen sie aufeinander, bleiben sie stumm stehen. Schwarze Mäntel, graue Haare und faltige Gesichter, die bedeutungsvolle Blicke austauschen. Dann laufen sie plötzlich weiter, ohne sich ein Wort des Abschieds zu sagen. Warum tun sie das? Durch einen Türspalt habe ich gesehen, dass meine Mutter sich in ihrem schwarzen Mantel auch schlafen legt. Die Speisekammer zu Hause ist leer und der Kühlschrank riecht nach verdorbenem Fleisch. Ich habe versucht, Essen zu kaufen, aber die Türen des Supermarkts bleiben verschlossen.

Seit Wochen schon hängt ein Schild vor dem Fahrkartenschalter des Bahnhofs: "Bin gleich wieder da." Was soll das alles? Ich weiß es nicht und habe niemanden, den ich fragen könnte. Meine Freunde schweigen oder lesen aus billigen Heftchen vor, die von UFOs und Werwölfen handeln. Jetzt stehen wir da, mit leeren Bäuchen an den Straßenecken und streiten um die letzten Zigaretten. Ein Junge hat heute Morgen versucht, das Schweigen der Alten zu brechen. Er hat sich die Haare mit Asche grau gefärbt, einen dunklen Mantel angezogen und ist durch die Stadt gelaufen. Das hat er nicht lange gemacht. Alte Hände haben ihn gegriffen. Sie haben ihn umringt und vor das Rathaus geschleift. Ich selbst habe dort gesehen, wie er kopfüber von der Laterne hing. Nackt und steif baumelte er über dem Platz der Jugend.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo lietzzensee,

ich bin von der Stimmung in der Geschichte beeindruckt. Düster, dystopisch, atmosphärisch dicht.

Gelungen!

LG SilberneDelfine
 

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Dem kann ich mich nur anschließen! Eine absolut beklemmend dichte Atmosphäre, die du da erschaffst, lietzensee!

Das muss man erst mal so hinbekommen. Muss ich gleich nochmal lesen und kommt auf meine Lesezeichen-Liste.

Begeisterte, liebe Grüße,
fee
 

ENachtigall

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Hallo lieber Lietzensee,

selbst Boomy finde ich in dieser grandios komponierten Dystopie besonders mitreißend, dass ich mich beim Lesen doppelt reflektiert finde und fühle.. am Ende... und weit zuvor.

Auf einmal nach der Verwandlung der Stadt siehst du, Ich, schwarz und machst dich lang. Das Schwimmen mit dem Strom zum Selbsterhalt und der Verlust des Selbstrespekts. Die Opferrolle. Die Frage nach dem: was tun wir unseren Nachkommen an, außer uns bis in ein utopisches Alter hinein - auf wessen Kosten auch immer - "pflegen" zu lassen oder sonst wie am Leben gehalten zu werden. (Ich arbeite ja selbst in einer Einrichtung seit 20 Jahren.) Nein noch ist nicht Alles so schlecht, aber es explodiert so leicht.
Deine Beschreibung hat dieses Albtraumhafte, das es zunächst entrückt aus dem Greifbaren bis du, Ich, merkst, dass Es dich längst ergriffen hat, ob dieser einstudierten Passivität, der Ahnung, dass du dich verhältst wie Klassisch konditioniert usw.

Und dabei war ich ganz selbst mit dabei an diesem Anfang des Tagebucheintrags: die
Freiheit, im Dunkeln allein aus dem Haus zu dürfen, treffen wir uns an Straßenecken und lassen die Zigaretten aus den Mundwinkeln hängen. Erster Kuss und erste Schlägerei, ja, ich fühle, dass unsere Zeit gekommen ist.
Gegen Ende, mit der Hinrichtung des Jungen, der es wissen wollte frage ich mich, ob ich wissen will
"Wie weit würdest du ,Ich, gehen?"

Danke für dieses sehr intensive Leseerlebnis.

Grüße von Elke
 

lietzensee

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Hallo zusammen,
vielen Dank für eure eure sehr freundlichen Kommentare und die positiven Bewertungen! Es freut mich, wenn der Text irgendwie einen Nerv trifft und so starke Assoziationen auslöst. Das motiviert doch zum Schreiben.

Vielen Dank auch für die Empfehlung, Franke.

Viele Grüße
lietzensee
 

petrasmiles

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Ich finde auch, dass das ein gelungener Text ist.

Was das Boomer-Thema anbelangt, habe ich eine andere Auffassung als ENachtigall - wahrscheinlich sind die Läden zu, weil die auf die Boomer nachfolgenden Generationen lieber in die Politik gegangen sind, oder was mit Medien machen.
Wer heute Teenager oder gerade erwachsen geworden ist, hat vielleicht die Boomer als Großeltern, wenn überhaupt. Wo sind die Eltern? Schon ausgeklinkt?
Man kann das als einen Alptraum derjenigen lesen, die sich noch in Erwartung dazu sehen, Verantwortung zu übernehmen, und keiner ist da, der sie anlernt, geschweige denn teilhaben lässt. Sind das die Boomer? Ist alles, was nicht mehr so jung ist, alt?

Allerdings spricht der aufgehängte Junge am Ende eher für eine Lesart, dass die Alten in eine Art Geheimgesellschaft mutiert sind, die das Junge vernichten wollen, wenn es ihnen zu nahe kommt. Und das hat mit der Realität wenig zu tun.

Liebe Grüße
Petra
 

Dimpfelmoser

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Hallo Lietzensee,

ein toller Text, und ein spannendes dystopisches Szenario, dass sich für mich wie der Auftakt zu einer längeren Geschichte liest - zumindest erzeugt das Geschriebene bei mir den Wunsch, mehr zu lesen, mehr über diese Gesellschaft zu erfahren.
Die Abgrenzung, vielleicht Angst, vielleicht sogar Abscheu der Alten vor den/dem Jungen, was in meiner Lesart das wesentliche Element in der Geschichte ist, hat ja durchaus einen interessanten Gegenwartsbezug, inklusive des aufgehängten Jungen als überspitzte Darstellung eines Generationskonflikts, bei dem Verständnis für unterschiedliche Positionen und unterschiedliche Perspektiven nicht vorhanden und, hier von den Alten, auch nicht erwünscht ist, jegliche Versuche eines Verstehens abgelehnt werden ("Das verstehst Du nicht").
Wenn "alte Hände" den Jungen greifen, wo dieser versucht, sich diesen durch äußerliches Angleichen zu nähern, denn sie sind ja ansonsten "achtlos" und zeichnen sich durch Schweigen aus, wenn sie ihn dann letztendlich entkleiden, zu töten scheinen, ist dieses wohl die offensichste Folge einer vollkommen undurchdringlichen, unüberbrückbaren Distanz, welche zwischen den Alten und den Jungen entstanden ist. Über die Gründe dieser Distanz könnte ewig spekuliert werden; vielleicht ist es aber viel essentieller, darüber nachzudenken, wie das Schweigen aufgebrochen werden könnte, ohne dass jemand "nackt und steif" im Wind hängt.
Naja, wie auch immer ...

Viele Grüße
Dimpfelmoser
 

petrasmiles

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Die Abgrenzung, vielleicht Angst, vielleicht sogar Abscheu der Alten vor den/dem Jungen, was in meiner Lesart das wesentliche Element in der Geschichte ist, hat ja durchaus einen interessanten Gegenwartsbezug,
Ich habe den Eindruck, dass dies hauptsächlich in Kommentaren und Artikeln an allen Orten passiert, also bei Berufsgrüblern und denjenigen, die dafür bezahlt werden, aber nicht in der Realität.
Das ist seit einigen Jahren ein herbeigeredeter Konflikt, der in der Sache substanzlos ist - und in dieser Form sogar eine Täter- Opfer-Umkehr beinhaltet. denn es sind die Alten (so unspezifisch geht es leider zu), die auf einmal mit ihrer Lebensart den Planeten leerfressen und ausgegrenzt werden - weil sie es nicht besser verdient haben?
Wobei immer wieder übersehen wird, dass es keinen Generationskonflikt gibt, der über das Übliche hinausgeht, sondern eine Verschiebung des Konfliktpotentials der sozialen Schieflage von unten und oben stattfindet. Es sind immer die Gewinner der Regeln egal welchen Alters, die ein Interesse daran haben, dass alles beim Alten bleibt. Da werden Ängste geschürt und umgeleitet.
Das ist ein ähnlicher Humbug wie bei den 'alten weißen Männern',

In der Realität erlebe ich freundlichen, rücksichtsvollen Umgang, einen regen Austausch und Wertschätzung für das, was 'alt' und 'jung' jeweils besser können.

Liebe Grüße
Petra
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Es sind immer die Gewinner der Regeln egal welchen Alters, die ein Interesse daran haben, dass alles beim Alten bleibt.
Dies, liebe Petra, ist sehr wahr. Doch wer gewinnt? Im Text bleibt dies ja offen (was gut ist).
Ob es tatsächlich einen Konflikt zwischen Alt und Jung gibt (mit all den schwierig zu beantwortenden Fragen, etwa danach, wo die Grenze zwischen Alt und Jung verläuft) mag aus unterschiedlicher Perspektive sehr unterschiedlich beantwortet werden, ebenso wie die Frage danach, was welches Verhalten triggert, ob und ggf. wie Steuerung, Manipulation etc. erfolgt. Ich sehe ihn (den Konflikt) jedenfalls nicht (oder nicht nur) herbeigeredet, von wem auch immer. Eben dies ist aber, und darum geht's hier vor allem, auch in diesem Text unklar, im Tagebucheintrag finden sich ja entsprechend viele Fragen, jedoch keine Antworten. Schön ist jedenfalls, dass er solche Überlegungen provoziert, und dies ist doch ein Beleg dafür, das es ein guter ist.

Liebe Grüße
Dimpfelmoser
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Dimpfelmoser,

ich halte dies auch für einen guten Text - und den Austausch über das Thema empfinde ich als fruchtbar.

Vielleicht müsste man - neben Deinen Erwägungen - auch noch miteinbeziehen, was eigentlich ein Konflikt ist. Wenn man unterschiedliche Haltungen und Überzeugungen hat, dann ist das allein noch kein Konflikt, sondern eine Konsequenz unterschiedlicher Erfahrungen, vielleicht auch Ziele und Wünsche.
Die spannende Frage wäre, woraus hier ein Konflikt entstehen könnte, denn erst einmal ist das Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft.

Das erinnert mich an den Brexit und einen Artikel, den ich seinerzeit in der Berliner Zeitung las (Wacht auf, Millenials! oder so ähnlich), wo eine junge Autorin mit Entsetzen konstatierte, dass der Brexit beschlossen worden war - und viele, zu viele junge Menschen, die ja diejenigen waren, die am meisten von der europäischen Freizügigkeit profitierten, der Wahl ferngeblieben waren. Aber schnell hatte sie die Schuldigen an dem Desaster ausgemacht - die Alten, die wohl hauptsächlich für den Brexit gestimmt hatten (nagel mich bitte nicht auf Zahlen fest). Ist das ein Generationskonflikt? Ich sehe da zwei Meinungen und Haltungen, die das Ihrige dazu beitrugen, dass es zu diesem Ergebnis kam. Ist es schlimmer, den Versprechungen geglaubt zu haben, dass ohne die EU alles besser würde, oder ist es schlimmer, die Demokratie und ihre lästigen Begleiterscheinungen (wie zur Wahl gehen zu müssen) die anderen machen zu lassen und sich dann zu wundern, dass das Ergebnis nicht den eigenen Wünschen entspricht? Ich sehe da eher einen individuellen Konflikt der einzelnen Personen, die sich entweder haben von der Politik belügen lassen (und das machen die Torys ja schon seit Jahren und man hätte es wissen müssen), oder die nicht bereit waren, einen Finger krumm zu machen für die Umsetzung ihrer Wünsche - auch sie hätten es besser wissen können, dass Demokratie etwas mit Teilhabe zu tun hat, die teilnehmen voraussetzt. Aber das Thema ist ein gefundenes Fressen für diejenigen, die hier einen Generationskonflikt in den Raum stellen und damit wunderbar von den eigentlichen Problemen ablenken können.

An anderer Stelle würde ich Dich fragen, an welchen Stellen Du den Generationskonflikt als nicht 'herbeigeredet' betrachtest, aber vielleicht stellst Du ja fest, dass es sich dabei allenfalls um unterschiedliche Haltungen - oder Werte - handelt, und dann ist es (meiner Meinung nach) kein Konflikt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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