Aus Inas altem Tagebuch

Heute war ein lustiger Tag. Am Anfang, nachdem ich meinen kleinen Bruder in der ersten Pause getrofffen hatte, war es noch gar nicht lustig. Normalerweise bekümmert der mich ja nicht weiter, aber heut sah er so traurig aus, traurig, sauer und wütend. Was war passiert? Pfitzner hatte ihm eine Strafarbeit aufgebrummt. Für irgendeinen Sextanerstreich, aber er war es gar nicht gewesen, sagt er. Zehn mal abschreiben, und einen Eintrag ins Klassenbuch. "Weißt du, wie lang dieses Scheißlied ist? 22 Strophen!", rief er ganz verzweifelt. Ich sagte ihm: "Wer macht denn Strafarbeit fürn Pfitzner?" - "Ja, aber dann gibt er noch einen Eintrag, und dann habe ich drei und bekomme einen blauen Brief nach Hause!" Ich versprach, dass ich den Eltern erzählen würde, was der Pfitzner für ein Arschloch sei, und dann würde das schon klar gehen. Das beruhigte ihn ein wenig.

Aber nun war ich ziemlich sauer. Bei den Kleinen, da traut er sich, da meint er, er könne es machen. Soll er es doch mal bei uns von der 10b probieren! Ich habe es dann dem Peter erzählt, und der meinte auch gleich, dass wir den Pfitzner mal wieder hochnehmen müssen, der habe es mehr als verdient. "Das mit den Sakramenten vom letzten mal, das war doch prima, mach du eine Vorgabe", sagte er, "wir werden dann schon weiter sehen."

Am Anfang fragt Pfitzner immer, ob es Fragen gibt, aber er erwartet natürlich keine. Also legte ich eine ganz piepsige Kleinmädchenstimme auf und fragte, wie das sei mit den heiligen Sakramenten, besonders dem der Ehe, das hätte ich noch gar nicht verstanden. Blödmann Grunski von der letzten Bank stieg sofort ein und krächzte dazwischen, das mit dem Sakrament hätte er auch nicht verstanden. Pfitzner wand und drehte sich und gab schließlich das gleiche Geschwafel wie beim letzten mal von sich. Grunski: "Versteh ich trotzdem nicht. Mein Papa sagt nie, dass die Ehe ein Sack Zement ist, sondern ein Mühlstein um den Hals des Mannes." Verhaltene Heiterkeit in den Bänken, und Pfitzner drohte die ersten Klassenbucheinträge an.

Ich fragte weiter: "Also bis zur Ehe, das dauert ja noch, und ob ich das aushalte und nicht bis dahin ..." Und dann tat ich so, als sei mir beinahe etwas furchtbar Peinliches herausgerutscht. Pfitzner druckste herum, unangenehm berührt, da krähte schon wieder Grunski laut von hinten: "Also Ina, das musste jetzt mal ganz genau erklären, damit ich mir das richtig vorstellen kann", worauf Peter sich umdrehte und rief: "Grunski, du hast ja wirklich keine Ahnung, streng dich mal ein bisschen an." Grunski darauf: "Hohoho! werd bloß nicht frech!" - Peter wieder: "Hat dir dein Papa denn nie gesagt: Hände auf die Bettdecke, der Liebe Gott sieht alles?" Irgend jemand rief dazwischen, "Gott schon, aber der Papa nicht!". Und zu mir sagte der Peter, ganz ernsthaft und seriös: "Weißt du, Ina, das sind Fragen, die solltest du besser deinem Frauenarzt stellen, ein Religionslehrer weiß so was nicht."

Normalerweise hätte ich die Idioten ja jetzt zusammengekreischt, aber die Stimmung war zu gut. Gelächter, alle quatschten durcheinander, das muss man einfach laufen lassen. Pfitzner rief "Ruhe! Ruhe!!" und wurde überhaupt nicht beachtet.

Auf einmal ging die Tür auf und die Bärmann, Deutsch und Geschichte, stand im Klassenzimmer. Ein echter Dragoner, aber im Grunde ganz lieb. Wahrscheinlich gibt die im Lehrerzimmer mit uns an und erzählt, wie gut sie mit der Klasse zurecht kommt. Der Krach erstarb schlagartig. Da sagte der Peter, der sich recht gut mit ihr versteht, obwohl ich in Deutsch ja viel besser bin: "Ach wissen sie, Frau Bärmann, wir haben gerade über die Heiligen Sakramente gesprochen, und da wird die Diskussion naturgemäß immer etwas lebhafter." Sie ließ den Blick langsam über die brav dasitzende Klasse schweifen, sagte "na, wenn das so ist" und verschwand wieder.

Nun können wir jetzt in Ruhe weiter diskutieren", sagte Peter zum Pfitzner, und fing gleich mit seinem ollen Glaubensthema an. Gott sei nur eine Wunschvorstellung des Menschen und eine Beleidigung der Vernunft, und so weiter. Mich langweilt dieses Atheistengerede, mir ist das völlig egal. Ich machte mir einen Zettel mit einer Strichliste, wie oft der Pfitzner den Peter duzte oder siezte. 10 Striche beim Du, 22 beim Sie. Am Schluss nur noch das Sie.

Pfitzner sagte, diese Argumentation mit der Vernunft - er sprach das richtig verächtlich aus - sei so, als ob man versuchen würde, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Peter: "Aber da stehe ich doch gar nicht. Ich stehe auf dem Boden der Wissenschaft! Sie sollten das aber mal versuchen, sie stehen nur auf der wackligen Glaubensoffenbarung!" Worauf die Klasse wieder zu lachen begann. Vor allem, weil der Pfitzner kaum noch Haare hat.

"Jetzt ist aber Schluss! Tragen sie bitte ihre Hausaufgabe vor!" So ein Blödsinn. Er hätte doch langsam wissen müssen, dass noch niemals irgend jemand irgend eine seiner Hausaufgaben gemacht hat. "Welche Hausaufgabe?" - "Lied sowieso, Vers 3 bis 7!" Peter kramte sehr umständlich in der Tasche herum, lieh sich dann vom Nachbarn das Relibuch, stand auf und las das Lied vor. "Halt! Halt! Das reicht! Sie sollten das auswendig lernen! Also schreiben sie die Strophen 10 mal ab, damit sie es lernen!" Peter setzte sich und begann sofort mit dem Abschreiben, was Pfitzner natürlich vollends auf die Palme brachte. "Sie sollen das zu Hause schreiben. Dies ist eine Strafarbeit!!" - "Das haben sie aber nicht gesagt. Dabei bin ich gerade so schön im Schwung und habe nichts Wichtigeres zu tun!"

Inzwischen war es wieder recht laut geworden. "Das gibt einen Klassenbucheintrag!", rief er und begann, das Klassenbuch zu suchen. "Wenn sie wollen, machen sie mir ruhig einen Eintrag, aber ich habe doch wirklich nur ganz sachlich und höflich mit ihnen diskutiert." Ich rief: "Ja, das hat er wirklich", und Grunski blökte von hinten: "Sagt ihm doch gleich, dass ich auch immer ganz brav bin", und die Klasse geriet vollends aus dem Häuschen, Stimmen riefen durcheinander: "Ja, wo ist denn das Klassenbuch, sollen wir suchen helfen?"

Es ist nämlich so, dass die Bärmann keine Lust hat, andauernd blaue Briefe wegen dieser Einträge zu schreiben und deshalb das Klassenbuch vor seinen Stunden gerne mit nimmt. Wenn nicht, nehmen wir es in Verwahrung. Ein paar Stimmen johlten: "Aufn Zettel schreiben, aufn Zettel schreiben!" Das hatte er schon mal probiert, und in der nächsten Stunde waren die Zettel natürlich weg gewesen.

Da war es ihm genug. Gern würde ich berichten, liebes Tagebuch, dass er wie ein geprügelter Hund aus dem Klassenzimmer schlich, aber das tat er nicht. Er stolzierte mit erhobenem Haupte hinaus. Er tat mir trotzdem fast leid, bis mir wieder einfiel, wie traurig mein Bruder heut morgen ausgesehen hatte. In der Klasse entstand eine leicht betretene Stille. "Leute, wir können gehen, der kommt heute nicht wieder", meinte Grunski. Wir warteten trotzdem noch ein Weilchen, ob er vielleicht mit dem Direktor zurück käme. Schließlich gingen fast alle, die nächste Stunde war sowieso eine Freistunde, und ob man danach noch einmal zur letzten Stunde erscheinen wollte, das würde man sehen. War sowieso nur Kunst. Nur ein paar Ängstliche blieben, vielleicht wollten sie auch bloß in Ruhe was lernen.

Unsere Clique ging ins gemütliche Wiener Café, das mit den schmuddeligen Polsterbezügen und den verschnörkelten Tischchen. Man bestellte Milchkaffee, Bluna und Sinalco und unterhielt sich angeregt über das Geschehen. Peter erzählte immer wieder, wie Pfitzner ihn beschuldigt habe, dass er völlig maßlos und undiszipliniert im Denken sei. Das sah er als eine Auszeichnung an. Grunski begann heftig mit der kleinen Heidi zu flirten. Die fand das erstaunlicherweise gut und sie gingen auch bald. „Die machen jetzt ein paar Gefühlsexperimente”, meinte Peter und ich musste lachen. Er lud mich dann zu einer Party bei einem Freund ein, man brauche auch nichts mitzubringen, höchstens ein paar Salzstangen. Aber ich sagte nicht gleich zu. Meine Mutter meint immer, ein Mädchen solle nicht immer gleich ja sagen.
 



 
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