Tante Rosa
Sie war Idas Schwester und die beiden waren viele Jahre lang verzankt, bis sie sich auf einer Beerdigung wieder vertrugen. Ich weiß nicht mehr, wer da zu Grabe getragen wurde, ich weiß nur noch, daß eine freundliche, äußerst redselige kleine alte Dame uns mit einem Blumen-strauß besuchen kam.
Ich fand ihre dicken Ärmchen sehr niedlich mit der "Babyfalte" am Handgelenk. Sie ge-stikulierte beim Reden und hatte entschieden mehr Temperament als Ida. Auch hatte sie andere Auffassungen über Kindererziehung und über das Leben im Allgemeinen. Ich hörte ihr gern zu, wenn sie sprach und sie ließ auch mich zu Wort kommen.
Dann besuchten die Schwestern einander im Wechsel. Ida nahm mich mit, wenn sie zu ihrer Schwester ging. Das war für mich eine gesuchte Abwechslung. Bei Tante Rosa gab es stets Kaffee und Kuchen und ich wurde mit Kakao verwöhnt. Als der Tisch abgeräumt war, fragte Rosa mich: "Wat haste dir denn zum Schpieln mitjebracht?" Ich blickte erstaunt - was sollte ich mir wohl mitgebracht haben? Ida fauchte: "Du denkst doch woll nich, det ick mir mit Schpielkram for die Jöre abschleppe!" Rosa antwortete: "Die kann doch woll ne Puppe ooch alleene traren!" Dann sagte sie: "Ick werd mal sehn, ob ick nich den Zeichnblock finde, den meine Enkel letztens hierjelassn haam." Ida sagte, daß das nicht nötig ist und das Papier und die Stifte viel zu schade sind, um von mir benutzt zu werden. Rosa erwiderte: "Die kommt doch bald in de Schule, da muß se vorher wissn, wie man mit Papier und Stifte umjeht!" und ich be-kam ein großes Blatt Papier, auf dem ich herumkrakeln durfte. Ich fragte: "Wat soll ick denn maln, Tante Rosa?" Sie sagte: "Fällt dir selba nischt ein? Na, denn male Männekens." Bald wa-ren mir die Strichmännchen zu blöd und ich begann, eine Landschaft zu zeichnen, die ich als Titelbild auf einem der Acht-Groschen-Romane, die Ida so gern las, gesehen hatte. Da waren zwei Hügel mit einem Weg dazwischen, auf der einen Seite stand ein kleines Haus und auf der anderen Seite war ein Wäldchen. Rosa gefiel das Bild sehr und sie bewahrte es lange Zeit auf, worüber ich mich sehr wunderte. Ida wäre es nie in den Sinn gekommen, eine Zeichnung von so einem blöden Gör aufzubewahren!
Da ich das Bild zu perfektionieren suchte, wurde es der Rosa langweilig. An einem Sommertag schickte sie mich auf den Hof zum Spielen. Der Hof war riesig, beinahe parkähnlich und gehörte zu vielen Häusern. Man mußte um den langen Häuserblock herumgehen, um ihn zu erreichen. In der Mitte befand sich ein Spielplatz mit Buddelkasten, Wippe, Karussell und Klet-tergerüst. Ich wollte am Klettergerüst turnen, da formierte sich eine Kindergruppe und die Anführerin - sie war etwa doppelt so alt wie ich, die anderen Kinder ein wenig jünger als sie - sagte zu mir: "Ej, runta da, det is unsa Klettajerüst! Du hast hier nischt zu suchn, hier dürfn nur Kinda schpieln, die hier wohn!" Ich sagte, daß ich bei meiner Tante zu Besuch bin und sie mich auf den Spielplatz schickte. Die Kinder wollten wis-sen, wie die Tante heißt und wo sie wohnt. Das konnte ich nicht genau beschrei-ben, ich wußte die Hausnummer nicht, nur, daß sie im Parterre wohnt und Rosa B. heißt. Die Anführerin wollte nicht glauben, daß es einen solchen Namen über-haupt gibt, bis ein anderes Mädchen sagte: "Rosa Luxemburg hats ooch jejehm!" Sie berieten kurz miteinander und die Anführerin verkündete letztendlich: "Be-such is nich wohn. Also hau ab!" und ich mußte den Spielplatz verlassen. Noch Jahre später dachte ich: Wenn das Demokratie ist, dann kann ich darauf verzichten!
Einige Wochen später gingen wir wieder zu Tante Rosa. Vorher gab Ida mir eine Tasse süßes Wasser mit den Worten: „Komm, trink det janz aus, det is wat janz wat Feinet!“ Unterwegs wunderte ich mich, daß mir so schwindlig war und ich oft stolperte. Nach dem Kaffee schickte Tante Rosa mich auf den Hof zum Spielen. Ich hatte Glück: Die Rotte war nicht zuge-gen, ich konnte am Klettergerüst turnen. Ich probierte eine "Rolle" und stürzte ab. Mit blutendem Kopf kehrte ich in Rosas Wohnung zurück. Heute ist mir klar, daß Ida mir irgendetwas eingegeben hatte, damit ich nicht – wie beim letzten Besuch – irgendetwas ausplaudere.
Nachdem die Schwestern sich etwa ein Jahr lang gegenseitig besucht hat-ten, sagte Ida eines Tages zu Rosa: "Du brauchst nich mehr herzukomm und mir is der Weech zu dir ooch viel zu weit." Die Tage der netten Unterhaltungen wa-ren vorbei. Ich weiß nicht, warum Ida sich abermals von ihrer Schwester lossagte, sie redete nicht mit mir darüber. Alle Mitbringsel von Rosa tilgte sie rasch. Kurze Zeit später sagte sie zu mir, daß Rosa gestorben sei, weil ich fragte, wann wir sie wieder besuchen. Ich bedauerte lebhaft, daß ich nicht zu ihrer Beerdigung mitgenommen worden war. Als zwei Jahre später mein Vater starb, war sie sehr stolz dar-auf, als Erstgeborene alle Geschwister überlebt zu haben. In Wahrheit lebte Rosa noch.
Sie war Idas Schwester und die beiden waren viele Jahre lang verzankt, bis sie sich auf einer Beerdigung wieder vertrugen. Ich weiß nicht mehr, wer da zu Grabe getragen wurde, ich weiß nur noch, daß eine freundliche, äußerst redselige kleine alte Dame uns mit einem Blumen-strauß besuchen kam.
Ich fand ihre dicken Ärmchen sehr niedlich mit der "Babyfalte" am Handgelenk. Sie ge-stikulierte beim Reden und hatte entschieden mehr Temperament als Ida. Auch hatte sie andere Auffassungen über Kindererziehung und über das Leben im Allgemeinen. Ich hörte ihr gern zu, wenn sie sprach und sie ließ auch mich zu Wort kommen.
Dann besuchten die Schwestern einander im Wechsel. Ida nahm mich mit, wenn sie zu ihrer Schwester ging. Das war für mich eine gesuchte Abwechslung. Bei Tante Rosa gab es stets Kaffee und Kuchen und ich wurde mit Kakao verwöhnt. Als der Tisch abgeräumt war, fragte Rosa mich: "Wat haste dir denn zum Schpieln mitjebracht?" Ich blickte erstaunt - was sollte ich mir wohl mitgebracht haben? Ida fauchte: "Du denkst doch woll nich, det ick mir mit Schpielkram for die Jöre abschleppe!" Rosa antwortete: "Die kann doch woll ne Puppe ooch alleene traren!" Dann sagte sie: "Ick werd mal sehn, ob ick nich den Zeichnblock finde, den meine Enkel letztens hierjelassn haam." Ida sagte, daß das nicht nötig ist und das Papier und die Stifte viel zu schade sind, um von mir benutzt zu werden. Rosa erwiderte: "Die kommt doch bald in de Schule, da muß se vorher wissn, wie man mit Papier und Stifte umjeht!" und ich be-kam ein großes Blatt Papier, auf dem ich herumkrakeln durfte. Ich fragte: "Wat soll ick denn maln, Tante Rosa?" Sie sagte: "Fällt dir selba nischt ein? Na, denn male Männekens." Bald wa-ren mir die Strichmännchen zu blöd und ich begann, eine Landschaft zu zeichnen, die ich als Titelbild auf einem der Acht-Groschen-Romane, die Ida so gern las, gesehen hatte. Da waren zwei Hügel mit einem Weg dazwischen, auf der einen Seite stand ein kleines Haus und auf der anderen Seite war ein Wäldchen. Rosa gefiel das Bild sehr und sie bewahrte es lange Zeit auf, worüber ich mich sehr wunderte. Ida wäre es nie in den Sinn gekommen, eine Zeichnung von so einem blöden Gör aufzubewahren!
Da ich das Bild zu perfektionieren suchte, wurde es der Rosa langweilig. An einem Sommertag schickte sie mich auf den Hof zum Spielen. Der Hof war riesig, beinahe parkähnlich und gehörte zu vielen Häusern. Man mußte um den langen Häuserblock herumgehen, um ihn zu erreichen. In der Mitte befand sich ein Spielplatz mit Buddelkasten, Wippe, Karussell und Klet-tergerüst. Ich wollte am Klettergerüst turnen, da formierte sich eine Kindergruppe und die Anführerin - sie war etwa doppelt so alt wie ich, die anderen Kinder ein wenig jünger als sie - sagte zu mir: "Ej, runta da, det is unsa Klettajerüst! Du hast hier nischt zu suchn, hier dürfn nur Kinda schpieln, die hier wohn!" Ich sagte, daß ich bei meiner Tante zu Besuch bin und sie mich auf den Spielplatz schickte. Die Kinder wollten wis-sen, wie die Tante heißt und wo sie wohnt. Das konnte ich nicht genau beschrei-ben, ich wußte die Hausnummer nicht, nur, daß sie im Parterre wohnt und Rosa B. heißt. Die Anführerin wollte nicht glauben, daß es einen solchen Namen über-haupt gibt, bis ein anderes Mädchen sagte: "Rosa Luxemburg hats ooch jejehm!" Sie berieten kurz miteinander und die Anführerin verkündete letztendlich: "Be-such is nich wohn. Also hau ab!" und ich mußte den Spielplatz verlassen. Noch Jahre später dachte ich: Wenn das Demokratie ist, dann kann ich darauf verzichten!
Einige Wochen später gingen wir wieder zu Tante Rosa. Vorher gab Ida mir eine Tasse süßes Wasser mit den Worten: „Komm, trink det janz aus, det is wat janz wat Feinet!“ Unterwegs wunderte ich mich, daß mir so schwindlig war und ich oft stolperte. Nach dem Kaffee schickte Tante Rosa mich auf den Hof zum Spielen. Ich hatte Glück: Die Rotte war nicht zuge-gen, ich konnte am Klettergerüst turnen. Ich probierte eine "Rolle" und stürzte ab. Mit blutendem Kopf kehrte ich in Rosas Wohnung zurück. Heute ist mir klar, daß Ida mir irgendetwas eingegeben hatte, damit ich nicht – wie beim letzten Besuch – irgendetwas ausplaudere.
Nachdem die Schwestern sich etwa ein Jahr lang gegenseitig besucht hat-ten, sagte Ida eines Tages zu Rosa: "Du brauchst nich mehr herzukomm und mir is der Weech zu dir ooch viel zu weit." Die Tage der netten Unterhaltungen wa-ren vorbei. Ich weiß nicht, warum Ida sich abermals von ihrer Schwester lossagte, sie redete nicht mit mir darüber. Alle Mitbringsel von Rosa tilgte sie rasch. Kurze Zeit später sagte sie zu mir, daß Rosa gestorben sei, weil ich fragte, wann wir sie wieder besuchen. Ich bedauerte lebhaft, daß ich nicht zu ihrer Beerdigung mitgenommen worden war. Als zwei Jahre später mein Vater starb, war sie sehr stolz dar-auf, als Erstgeborene alle Geschwister überlebt zu haben. In Wahrheit lebte Rosa noch.