Hallo Ralf,
puh, das finde ich sehr bewegend und macht mich sehr nachdenklich. Interpretationsmöglichkeiten gibt es hier sicher viele.
Bei mir triggerten deine Zeilen spontan und unausweichlich das Andenken an meinen Vater, an die "Flüchtlings-Generation", die - noch nicht erwachsen - im Nachkriegs-Deutschland anstrandete, an die Berichte von der verlorenen Heimat und an die anderen, nie erstatteten Berichte von Not- und Gewalterfahrungen, vom erlittenen Trauma.
Das süddeutsche bundesrepublikanische Dörfle avancierte - der Bereitschaft zur unverzüglichen Anpassung sei Dank - schnell zur neuen Heimat, die uns Kindern gegenüber als solche benannt wurde, die aber sicher über längere Zeit hinweg auch den Charakter der 'Kalten Heimat' in sich getragen haben dürfte (Kurzzitat aus die ZEIT vom 29.05.2008: "Kalte Heimat – der Titel sagt bereits viel. Denn die Vertriebenen waren alles andere als willkommen.")
Jenseits der Proklamation der neuen Heimat gab es die andere, (für uns Kinder) deutlich schwerer zu fassende Heimat:
Heimat ist ein Raum aus Zeit
darin sind Bilder
die die Gänze meiden
ohne Schmerz
Bei aller Anpassung, bei aller wirtschaftlichen Konsolidierung, der scheinbar flüssigen Integration zum Trotz: Der Blick blieb oft rückwärtsgewandt, suchte die verlorenen Orte, Zeichen, Erinnerungen, verklärte hie und da, mystifizierte und, wie gesagt, scheute "die Gänze", den "Schmerz", scheute das, was man als
the dark side of the moon bezeichnen könnte.
Eine fundierte Einbettung in einen größeren historischen Zusammenhang fällt unter diesen Umständen schwer, man bastelt sich was zusammen, zimmert ein Behelfsgerüst, das die beschädigte Identität stützt und hält somit
eine Leseprobe
von Geschichte - von dem Eigenen
in den Händen.
Nun gut: die ganze Thematik "stirbt sich aus", die Protagonisten verschwinden zusehends, das Ganze fällt der Vergangenheit anheim.
Oder doch nicht?
lg wüstenrose