Ausfahrt Pritzwalk

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Für eine Weile war alles schwarz. Umgeben von Dunkelheit sah ich in die Richtung, in der noch vor wenigen Minuten die Rücklichter des Abschleppwagens immer kleiner wurden und verschwanden. Ob ich es wünschte oder glaubte, wusste ich nicht aber ich war mir sicher, dass die Lichter im nächsten Augenblick wieder auftauchen würden. Ich starrte minutenlang in die Dunkelheit, bevor ich begriff, dass sie ein Teil der derselben geworden waren. Langsam breitete sich ein vertrautes Gefühl in jedem Winkel meines Körpers aus.


Ich fuhr Richtung Ausfahrt Pritzwalk, als leise etwas gegen das Heck meines Traktors stieß. Der Stoß war kaum zu spüren, trotzdem verschüttete ich etwas Weinbrand aus der Flasche. Meine Jacke roch den ganzen Abend nach Wilthener Goldkrone. Anfangs bemerkte ich es nicht, obwohl mich Marie darauf ansprach. Als ich ihre schmalen Hände das erst mal im Kabinenlicht des Traktors sah, war es mir peinlich.


Ich stieg aus. Der nächtliche Herbstwind wehte kalt in mein Gesicht und ich fühlte, wie mein Verstand aufklarte. Ein paar Meter hinter dem Traktor war ein Auto zum Stehen gekommen. Es leuchtete nur noch ein Scheinwerfer. Der Andere musste beim Zusammenstoß zerbrochen sein. Ich hörte, wie eine Tür knallte aber ich konnte nichts erkennen, weil mich das Scheinwerferlicht blendete. Ist alles in Ordnung bei Ihnen, rief ich. Einen Augenblick herrschte Stille, dann hört ich Schritte. Ich erkannte eine Gestalt, die auf mich zukam. Sie blieb direkt vor mir stehen – eine schwarze Silhouette in einem Kranz aus gelbem Scheinwerferlicht. Sie riechen nach Alkohol. Haben sie getrunken? fragte Marie und bemühte sich um eine feste Stimme. Sind sie verletzt? fragte ich. Marie schwieg einen Moment. Ach so, nein, ich bin nicht verletzt, glaube ich.


Sollen wir die Polizei rufen,
fragte ich. Ich glaube, das ist nicht nötig. Es ist ja kaum was passiert, sagte Marie, außerdem haben sie getrunken. Ich deutete auf den zerbrochenen Scheinwerfer. Der ist kaputt gegangen, oder? Ich bezahl den natürlich, warten sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging ich zu meinem Traktor und suchte nervös ein Stück Papier. Auf einer alten Tankquittung notierte ich meinen Namen, Telefonnummer und Adresse. Schicken Sie die Rechnung einfach an mich, sagte ich und streckte ihr den Zettel entgegen. Marie schüttelte den Kopf. Nein, lassen sie mal. Ich, ich habe eine SMS getippt und Sie deswegen nicht gesehen. Sie müssen nichts bezahlen. Es tut mir leid, sagte sie. Ihre Stimme klang kraftlos. Ist ja nichts Schlimmes passiert, antwortete ich und steckte unbeholfen den Zettel in die Hosentasche. Einen Augenblick lang standen wir uns gegenüber und sagten nichts. Ich merkte, wie meine Hand feucht wurde und die Tankquittung in meiner Hosentasche aufweichte. Wenn's ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne weiterfahren, sagte Marie. Ich muss noch nach Berlin. Bei ihnen ist alles in Ordnung? Ich nickte, ja alles in Ordnung. Marie drehte mir den Rücken zu und ging ein paar Schritte. Es tut mir wirklich leid, hören Sie? Am Klang ihrer Stimme konnte ich erkennen, dass sie sich noch einmal zu mir umgedreht hatte. Machen sie sich keine Sorgen. Gute Fahrt! Marie öffnete die Tür ihres Autos, zog sie zu und versuchte den Motor zu starten. Er gab nur ein heiseres Jaulen von sich. Marie versuchte es ein, zwei, dreimal. Nichts. Nach dem dritten Versuch herrschte, bis auf den Wind, der leise durch die Leitplanken pfiff, beklemmende Stille. Es vergingen vielleicht zwei Minuten, bevor ich zögerlich auf Maries Auto zuging und durch die Scheibe sah, dass sie ihren Kopf auf das Lenkrad gelegt hatte. Ich klopfte gegen das Glas. Als Maries Kopf sich nicht bewegte, schlug mein Herz kurz und heftig gegen die Brust. Dann hob sie ihren Kopf und kurbelte das Fenster runter. Können Sie einen Abschleppdienst rufen?


Anfangs war Marie etwas durcheinander und ich überfordert. Ihr alter Fiat war voller Krempel und sie erzählte etwas von Resten. Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Ich hörte nur, dass mit jedem Wort mehr Erschöpfung in ihre Stimme kroch. Meine Erfahrung mit Frauen beschränkte sich in den letzten Jahren auf Gisela, eine stämmige Frau mittleren Alters, die immer gesprächig und gut gelaunt bei Netto an der Kasse sitzt, Monika, die Frau meines Chefs, die mit großer Sorgfalt das Büro führt und mir jeden Morgen eine Liste aushändigt, auf der sie meine Tagesaufgaben notiert hat (im Großen und Ganzen sind es immer die gleichen Aufgaben, weswegen ich diese Liste für absoluten Unsinn halte). Gelegentlich treffe ich Sylvia, eine Polin, die sich mit käuflichem Sex ihr spätes Studium und einen Neuanfang in Deutschland finanziert. Mit ihr fällt mir der Umgang am leichtesten. Ich glaube, das liegt daran, dass sie nicht von mir erwartet, irgendetwas Persönliches oder Ehrliches aus meinem Leben zu erzählen. Ich glaube, dass sie nicht einmal erwartet, dass ich überhaupt etwas erzähle. Ich komme frisch geduscht zu ihr, zahle, was sie verlangt, dann schlafen wir miteinander und liegen noch eine Weile schweigend da, bis unsere Zeit um ist. Ich habe das Gefühl, dass ich ihren Erwartungen genüge; sie genügt meinen und so können wir daliegen und schweigen, ohne dass es sich gezwungen anfühlt. Wir haben die gleichen Vorstellungen, denke ich, und keiner verlangt mehr vom anderen, als dieser bereit ist zu geben.


Als Marie zu weinen begann, ließ ich sie stehen und ging zu meinem Traktor. Ich kramte den Weinbrand aus der Kabine, ging zurück zu ihr und hielt ihr die Flasche hin. Zuerst sah sie mich fassungslos an, nahm dann aber einen Schluck ohne sich zu schütteln und blickte über die Autobahn hinweg in die Dunkelheit.


Warum fahren Sie nachts mit einem Traktor auf der Autobahn? fragte Marie. Nur so, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Können Sie mir zeigen, wie man Traktor fährt? fragte sie. Ich habe nur Musik dabei, die Sie wahrscheinlich nicht mögen werden. Meine Wangen begannen zu glühen. Wenn sie mir nicht gefällt, können wir sie ja leise machen, antwortete Marie. Ja, das können wir machen, sagte ich unsicher und hoffte darauf, dass die Hitze endlich aus meinem Gesicht verschwinden würde. Auf was muss ich achten? Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und erklärte ihr, dass der Diesel vorglühen muss, weil die Maschine schon alt war und wie man zwischenschaltet, weil das Getriebe nicht in der Lage ist, die höhere Drehzahl des niedrigeren Ganges an die niedrigere Drehzahl des höheren Ganges anzupassen. Ansonsten sei alles wie beim Auto. Marie folgte konzentriert meinen Ausführungen. Als ich fertig war, schwiegen wir einen Moment. Dann kam Marie einen Schritt auf mich zu und reichte mir ihre Hand. Ich heiße Marie Kleeberg, bin Grundschullehrerin und würde gerne Traktor fahren lernen. Sie können gern Du sagen. Ich fühlte, wie meine Hand feucht wurde und wischte sie an der Hose ab. Maries Hand schien in meiner fast zu verschwinden. Ich zog den Schlüssel aus der Tasche und gab ihn Marie. Sie ging auf den Traktor zu, kletterte die Leiter zur Kabine hinauf und öffnete die Tür. Das Kabinenlicht schaltete sich ein und im gelben Schimmer sah ich, dass sie dunkelblondes Haar hatte.


Rising up, back on the street. Did my time, took my chances. Went the distance, now I'm back on my feet. Just a man and his will to survive. Marie drehte die Musik etwas leiser, als die Kassette ansprang und fuhr dann langsam den Standstreifen entlang. Anfangs war Marie noch steif und angespannt, ihr fiel das Zwischenschalten schwer. Aber mit jedem Meter fasste sie mehr Vertrauen in sich und die Maschine. Ich hockte zwischen Tür und Fahrersitz auf dem vibrierenden Boden und betrachtete Maries Hände. Sie hielten das Lenkrad fest. Die Finger waren schlank, die Haut fast weiß. Ihre rechte Hand hatte sich angefühlt wie weicher kühler Stoff. Mit meiner linken Hand hielt ich mich am Türgriff fest. Rot, rau und grobporig war sie. Mir fiel auf, dass ich nach Alkohol roch. Mir fiel auf, dass ich am Morgen nicht geduscht hatte. Ich rückte näher an die Tür und wollte mich am liebsten in der Nacht auflösen. Mache ich das gut? Ich mache das gut, oder? fragte Marie und drehte ihr Gesicht zu mir. Ich nickte und fragte mich, ob sie mich roch und ob ich mich in zwei Wochen noch an die Farbe ihrer Augen erinnern würde.


Wir fuhren eine Weile, ohne zu reden über die leere Autobahn. Die Kassette dudelte und gab unserem Schweigen einen Soundtrack. Für einen Moment vergaß ich, wie seltsam diese Situation war und sah, wie Maries Lippen sich bewegten. Sie drehte das Radio lauter. Any place is better. Starting from zero, got nothing to lose. Maybe we'll make something. Me myself I got nothing to prove. Plötzlich hörte sie auf mitzusingen. Dieser Song ist ein Märchen, sagte sie leise. Eine Geschichte, die man hört und die man toll findet, weil die Frau stark ist. Weil sie sich nicht unterkriegen lässt, von den Eltern oder Geldnot oder Tod. Aber ich glaube nicht, dass so eine Geschichte auch etwas mit meinem Leben zu tun hat. Das Leben ist doch nicht so klar, wie in einem Song, da gibt es doch keinen Roadtrip mit einem Liebhaber, für den man alles liegen lässt und irgendwo glücklich wird. Im Leben gibt es vielleicht eine Ehe, die langsam und unbemerkt scheitert. Da gibt es Menschen, die sich mal geliebt haben aber schon seit Jahren nicht mehr wissen, wie sich das angefühlt hat. Die gleichen Menschen wissen aber auch seit Jahren nicht, warum sie noch zusammen sind. Sie sagen, dass sie es wegen der Kinder miteinander aushalten aber in Wirklichkeit ist da nur unglaublich viel diffuse Angst, vor der sie sich verkriechen. Marie nahm das Gas weg und der Traktor wurde langsamer. Sie lenkte ihn nah an die Leitplanke und stellte den Motor ab. Als ich 1992 mit dem Studium anfing, hab ich mich gegen Pop und Rebellion entschieden. Meine Eltern hatten viel Angst vor der Zukunft. Das hat damals ein bisschen auf mich abgefärbt, glaube ich. Ich dachte, dass man mit zu großen Zielen nur scheitern kann, dass die Ellenbogen der anderen schon dafür sorgen würden oder zumindest das eigene Unvermögen oder der Zufall. Deswegen wollte ich spießig sein. Ein einfaches kleines Modell: Lehrerin, Reihenhaus, Kinder, Sportverein. Das kann ich doch schaffen, dachte ich. Das kann ich überblicken. Dieser Plan könnte erfolgreich sein, dachte ich. Marie schwieg und sah auf die Straße. Vielleicht wünschte sie sich, dass irgendetwas passieren würde. Vielleicht ein Fuchs, der im Scheinwerferlicht die Straße überquert oder eine Fledermaus, deren Beutezug sie am Traktor vorbeiführt. Es geschah nichts. Der Asphalt blieb schwarz, die Leitplanke grau und das dunkelblaue Gras, das am Seitenstreifen wuchs, starrte reglos in den Himmel. Zwischen mir und der Frau im Song klafft eine Lücke. Marie saß gebeugt im zerschlissenen Polster des Fahrersitzes. Ihr Blick ruhte auf dem Lenkrad, an dem sich ihre schlanken Hände festhielten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kannte diese Frau nicht und ich wusste auch nicht genau, wovon sie sprach aber ich mochte, dass sie spießig sein wollte. Sie haben Angst, sagte ich. Kann sein, antwortete Marie. Als junger Mann hab ich geboxt. Anfangs hatte ich immer Angst davor, getroffen zu werden. Ich habe nur darauf geachtet, mich zu verteidigen und alle Kämpfe verloren. Als ich das erste Mal gegen jemanden geboxt habe, der viel besser war als ich, brach meine Verteidigung zusammen. Er traf mich. Immer wieder. Ich habe richtig was kassiert. Und irgendwann wurde ich sau wütend. Dann habe ich angefangen zu boxen. Ich habe meine Deckung vernachlässigt und begann damit auszuteilen. Ich wollte nicht, dass mich dieser Mensch weiter verletzt. Wenn man boxt, steckt man Schläge ein, das verhindert die Angst nicht. Das wurde mir in diesem Kampf klar und ich habe versucht, mich nicht mehr vor der Angst zu fürchten. Marie sah mich an. Ich hatte schon lange niemandem mehr von dieser Zeit erzählt. Haben sie den Kampf damals gewonnen, fragte sie. Nein, sagte ich und schüttelte den Kopf. Es war der erste Nasenbeinbruch meiner Karriere. Mein Trainer beendete den Kampf mit dem Handtuch. Marie hatte ein freundliches Gesicht. Ihre Augen waren offen und die Mundwinkel ihrer Lippen wölbten sich nach oben. Danke, dass Sie mir gezeigt haben, wie man Traktor fährt, sagte sie. Gerne, sagte ich. Du kannst aber auch Du sagen.


Marie startete die Maschine und schlug das Lenkrad ein. Sie wendete den Traktor, zog auf die rechte Spur und gab Gas. Ich glaube, dass Marie und ich gleichzeitig die beiden Scheinwerfer gesehen haben, die auf uns zu kamen. Maries Hände zitterten am Lenkrad, ich stellte mich auf und drückte mich dicht neben sie auf den Sitz. Wir halten das Lenkrad einfach fest. Wir bleiben auf dieser Spur, Okay? Marie nickte. Okay. Als die Scheinwerfer auf uns zu rasten und immer näher kamen, konnte ich durch meine Jacke ihren Körper spüren, dass sie da war und dass sie lebte. Ich drückte mich näher an sie, vielleicht weil ich glaubte, sie so beruhigen zu können, vielleicht auch, weil ich selbst Angst hatte und ihre Nähe mich beruhigte. Unsere Hände krampften sich in das Lenkrad, als laut hupend das Auto an uns vorbeiraste. Wir fuhren schweigend und starr vor Schreck weiter. Mir war kalt und ich schwitzte. Marie, die immer noch dicht neben mir saß, fühlte sich hart an. Ich wusste nicht, ob ich von ihr wegrutschen oder bei ihr bleiben sollte. Ich wusste nicht, ob ich diese Nähe genoss oder sie mich verunsicherte. Bald tauchte Maries Fiat vor uns auf. Marie schlug das Lenkrad ein und bog auf den Standstreifen. Als der Traktor stillstand, atmete sie durch. Ich konnte fühlen, wie der Atem ihren Körper bewegte.


Ich rief noch einmal den Abschleppdienst an. Niemand nahm ab und ich hinterließ eine weitere Nachricht. Was machen wir jetzt? fragte Marie. Warten, die melden sich bestimmt bald, antwortete ich. Wir standen neben Maries Fiat. Wir sagten nichts und beobachteten unseren kondensierenden Atem, der sich in einer fast sternenklaren Nacht verlor. Wollen wir ein Feuer machen? Mir ist kalt, sagte Marie und rieb sich ihre Hände an den Oberarmen warm. Eigentlich fand ich die Idee bescheuert aber Marie hatte recht. Es war kalt. Da hinten sind Bäume, da finden wir Holz, sagte ich. Dann los, sagte sie und kletterte über die Leitplanke. Wir durchsuchten eine kleine Baumgruppe abseits der Autobahn und kamen jeder mit einem Arm voller Äste und Zweige zurück. Der Boden hier ist zu feucht, sagte Marie und deutete auf das Gras, dass unsere Schuhe schon durchnässt hatte. Wir machen das Feuer auf dem Standstreifen. Bevor ich etwas sagen konnte, war Marie schon zurück über Leitplanke geklettert und begann gekonnte das Holz auf dem Asphalt aufzuschichten. Ich legte Äste und Zweige ab und beobachtete Marie dabei, wie sie eine kleine Pyramide aus unserem Brennholz baute. Als sie fertig war, runzelte sie die Stirn. Hast Du einen Lappen dabei? fragte sie. Ich denke schon, antwortete ich und ging zu meinem Traktor. Unter dem Sitz lag ein altes dreckiges Unterhemd. Es war ein Putzlappen, der dazu diente, Vogelscheiße und verkrusteten Dreck vom Stromanschluss der Hängerkupplung zu schrubben, der sich dort ab und zu festsetzte. Geht der? fragte ich Marie und hielt ihr den dreckigen Lappen hin. Der geht, sagte Marie und verzog das Gesicht, brauchst du den noch? Ich schüttelte den Kopf. Marie nahm den Lappen und ging zu ihrem Auto, schraubte den Tankdeckel auf und stopfte das Unterhemd ins Loch. Dann zog sie den benzingetränkten Stoff wieder heraus und schob ihn vorsichtig unter das Feuerholz. Sie holte Streichhölzer aus ihrer Jackentasche und einen Augenblick später brannte das Lagerfeuer. Die feuchten Zweige zischten erst, bald aber knackten sie und das Feuer strahlte eine wohltuende Wärme ab. Marie grinste mich an. Hast du noch was von dem Schnaps, fragte sie. Ja, antwortete ich, wenn Du mir verrätst, woher du den Trick mit dem Benzinlappen hast. Marie zuckte mit den Schultern und sagte: Sachkundeunterricht.


Wir saßen am Feuer und tranken Weinbrand. Manchmal redeten wir, dann schwiegen wir eine Weile und sahen den Flammen dabei zu, wie sie die Äste verzehrten. Ab und zu kamen Autos vorbei. Ihre Scheinwerfer erhellten unsere Gesichter. Einmal, als ein weißes Neonlicht über Maries Gesicht glitt, blinzelte sie. Ich habe nicht begriffen, was ich fühlte. Ich wusste nur, dass etwas ganz Altes, etwas, das tief in mir vergraben war, in diesem Moment wieder erwachte. Warum fährst Du den Krempel durch die Gegend? fragte ich Marie. Das sind meine restlichen Sachen. Ich ziehe für eine Weile zu meinen Eltern. Mein Mann hat sich von mir getrennt. Unsere Tochter ist im Frühjahr siebzehn geworden und fängt bald eine Ausbildung an. Er wollte noch so lange warten, hat er gesagt. Jetzt muss er neu anfangen. Ich kann nichtmal richtig wütend sein. Marie presste kurz die Lippen aufeinander und nahm dann einen Schluck. Obwohl sie mir gegenüber auf der anderen Seite des Feuers saß, hatte ich das Gefühl, dass sich mein Arm um ihre Schulter legte.


Mein Trainer hatte mir mal gesagt, dass ich gute Chancen auf Olympia hätte. Marie hob ihren Kopf und sah mich ungläubig über das Feuer hinweg an. In der achten Klasse bin ich auf die KJS Schwerin. Man wollte mich zu einem Symbol des aufstrebenden Sozialismus machen. Ist aber nichts draus geworden. In der zehnten Klasse hab ich einem Mitschüler den Kiefer und das Jochbein gebrochen, weil er ein Mädchen geküsst hatte, auf das ich scharf war. Er war der Sohn von einem Parteitypen. Mir wurde nahe gelegt, meine sportliche Karriere weiter auf lokaler Ebene fortzusetzen. Für den internationalen Leistungssport seien meine Leistungen nicht ausreichend. Ich hatte meine Chance vergeben, weil ich dämlich war, weil ich nicht wusste, was ich wollte. Danach bin ich hierher zurück. Du hast es durchgezogen. Ist doch gut. Manchmal kriegt man halt auf die Fresse. Ist eben so. Marie stand auf, ging um das Feuer und setzte sich neben mich. Schnaps? fragte sie und hielt mir die Flasche hin. Ich stieß ein krächzendes Ja aus und nahm den Weinbrand. Dabei berührte ich flüchtig ihre Hand. Der Alkohol brannte im Hals aber meine Gedanken kreisten nur um einen leuchtenden Fleck Haut am Finger. Marie nahm einen Stock und schob die brennenden Äste zusammen. Wir sahen den Funken dabei zu, wie sie aufstiegen, um uns herum flogen und ein paar Meter von uns entfernt in der Nacht verglühten. Am Horizont blieben meine Augen kleben. Es tauchten zwei gelbe rotierende Lichter auf, die immer näher kamen. Mir wurde übel. Meine Hände zitterten ein wenig und meine Augen bohrten sich hilfesuchend in das Feuer. Marie stand auf. Da kommt der Abschleppwagen. Sie stellte sich neben ihr Auto, hob die Arme und winkte. Wie eine Schiffbrüchige sah sie aus, die endlich gerettet wird. Als der Abschleppwagen bei ihr hielt, stand ich ebenfalls auf. Meine Beine waren schwer und der knirschende Sand unter meinen Sohlen dröhnte laut in den Ohren.


Der Mechaniker wirkte verschlafen und lustlos. Er meinte, dass er den Fiat nicht vor Ort reparieren kann. Der muss in die Werkstatt. Bei dem Alter könnte es Alles sein. Er kennt eine Werkstatt in der Nähe, die schon um sieben aufmacht. Marie soll gleich mitkommen. Der Fahrer hat Ketten um die Reifen gelegt und den Fiat mit einem Kran auf die Ladefläche des Abschleppwagens gehoben. Einen Augenblick lang flog Maries Auto durch die Nacht, vorbei am Mond wie ein kleines verrostetes Raumschiff. So, wir können dann, hat der Fahrer gesagt, bevor er schwerfällig in die Fahrzeugkabine geklettert ist. Marie und ich standen voreinander. Wir haben nichts gesagt. Wir haben einander die Hand gegeben. Ihre war feucht und kühl. Auf Wiedersehen, hat Marie gesagt, bevor sie eingestiegen ist. Mit einem heiseren Grollen sprang der Abschleppwagen an und setzte sich langsam Richtung Ausfahrt Pritzwalk in Bewegung. Wenn ich heute versuche mich an Maries letzten Gesichtsausdruck zu erinnern, verschwimmt er vor meinen Augen.


Als die roten Rücklichter am Horizont ein Teil der Dunkelheit geworden waren, kroch die Kälte an mir hoch. Ich fror und ging zum Feuer. Es war bis auf ein paar schwach glimmende Äste herunter gebrannt. Daneben stand der Weinbrand. Asche hatte sich auf der Flasche abgesetzt, in der nur noch ein Rest war. Ich trank ihn aus und schleuderte die Flasche über die Leitplanke. Ein paar Meter konnte ich ihrer Flugbahn folgen, dann verlor ich sie aus den Augen. Sie landete mit einem dumpfen Geräusch irgendwo auf der Wiese umgeben von Dunkelheit und feuchtem Gras. Ich trat den Rest der Glut aus und ging zu meinem Traktor. Er stand da, unberührt und stumm. Aus meiner Hosentasche fischte ich den Schlüssel heraus und mit ihm eine zerknüllte Tankquittung. Als ich sie sah, stieg ein sehr vertrautes Gefühl in mir auf, dass ich in den letzten Stunden ganz vergessen hatte. Das erste Mal seit vielen Jahren.
 

ahorn

Mitglied
Hallo Christian Mahlow,
herzlich willkommen in der Leselupe.
Eine Frage, bevor ich mich ans Lesen deines Textes mache.
Ist deine Tastatur kaputt, oder warum schreibst du die direkte Rede kursiv?
Der Text ist dadurch, echt schwer zu lesen. Das Auge nimmt die direkte als indirekte Rede wahr.

Gruß
Ahorn
 

Max

Mitglied
Geht ins Herz. Weshalb sollte man sonst überhaupt schreiben.

Bei den Zutaten Traktor, Autobahnausfahrt und Boxen kam mir eine eigene Erzählung in den Sinn. Sie spielt im letzten Dorf an der letzten Ausfahrt vor der polnischen Grenze. Du findest sie unter "Wegen Wegner".
 



 
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