Ausgebaggert

juleb

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Vorbemerkung:
Der Anfang eines recht voluminösen Romans - und hier niedergelegt, weil ich auf ein paar Stimmen hoffe, weil ich zuvor immer auf maximal sechs Seiten beschränkt war.
Je nach Reaktionen gibt es in den nächsten Tagen / Wochen mehr - bisher so knapp 150 Seiten, die ich mir ansehen kann, ist ein Ende auch bei 500 Seiten noch nicht klar zu erkennen.



1​
Angst und Schmerz, Langeweile, Todessehnsucht und unterdrückte Geilheit, Freude und Hoffnung verschmolzen mit gereizter Unzufriedenheit überarbeiteter Schwestern, Pfleger und Ärzte. Ein permanentes Summen in dem Einzelstimmen um einen Weg nach oben kämpften. Leicht auszublenden, vereinten sie sich mit Grundtönen und sterilem Geruch nach Formaldehyd, anderen Desinfektionsmitteln, Tee und Ersatzkaffee: Krankenhausmelodien.
Während ich Personal, Besucher und Türen passierte, überlagerten Unsicherheit und unterdrücktes Misstrauen stetes Summen. Was weiß er? Spricht er mit dem Chef über mich? Er kennt meine Gedanken. Wie ich Gestern vergaß, Hardenbergs Schieber zu wechseln. Mein Verhältnis zu der verheirateten Kollegin. An etwas anderes denken, damit er meine Masken nicht durchschauen kann. Lautloses Brüllen nach privater Einsamkeit, nach immer kleiner gewordenen Zonen eigenen Lebens. Dieses Brüllen nicht bewusst wahrzunehmen war die Kunst der Telepathie. Gedanken verfügen nicht über unterscheidbare Stimmen: Je t´aime, I love You, ich liebe dich formten identische Muster. Freude oder Hass zeichneten verschiedenfarbige, immer gleiche Hintergründe. Andere Emotionen manifestierten sich als Geschmack, Geruch oder verwirrende Farbmuster, Dialekte, Sprachen oder Geschlecht dagegen blieben unsichtbar, ausdruckslos.

Als ich nach der Freischaltung aus der Narkose erwachte, hörte ich die Musik zum ersten Mal. Postoperative Schmerzen bohrten glühende Bahnen in den Cortex, unterdrückten einzelne Töne. Vor meinem Bett reihten sich weiße Kittel auf, gekrönt von verschwommenen Gesichtern. Jemand sprach. Geräusche ohne Inhalt. Dann sickerte beruhigendes Flüstern durch die unruhige Melodie. Veronika legte kühlende Hände an pochende Implantate. Streichelte über kahlrasierte Schläfen.
»Versuche nicht zu denken. Stell dir ein Netz vor, das die Töne einschließt. Sie nicht zu dir durchlässt«, materialisierte sie einzelne Worte in meinem Kopf. Sie schmiegten sich an Gehirnwindungen, wurden meine Gedanken. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf die farblosen Töne, die meine Stimme waren. Spürte eher beiläufig den Nadelstich im rechten Oberarm.
Danach: mehrere Tage im Rausch. Valium- und THC-Derivate bremsten fremde Realitäten. Kokain, Amphetamine und Ecstasy milderten Nebenwirkungen von chemischen Bremsen. Ein Gleichgewicht finden, in dem die eigene Seele überlebt und andere Gedanken gezielt verarbeitet werden konnten. Mühsames Erlernen einer neuen Sprache, deren wichtigste Elemente daraus bestehen, Firewalls zu errichten, um Input zu lokalisieren.
Lange Sitzungen mit Veronika Leber, Klaus Schimmer, Aiala Dogan. Klaus und Aiala: kurz vor und nach mir freigeschaltet. Mitte zwanzig und Anfang dreißig. Veronika war die Lehrerin. Seit langem an der Klinik angestellt, half sie bei den ersten Gehversuchen, schulte Walls und züchtete Filter.
»Wird es besser werden?« fragte Aiala in ihrer zweiten Sitzung. Sie sprach langsam. Noch nicht auf den richtigen Dope-Mix eingestellt.
Klaus antwortete, indem er Worte projizierte: »Nur unwesentlich. Es kommt darauf an, die Sinfonien zu kanalisieren und nur Grundmelodien nach oben steigen zu lassen. Irgendwann gelingt es, nur die Geräusche, Farben und Gerüche wahrzunehmen, die wir auswählen. Der Rest verschwindet im Unterbewussten.«
Wir hielten uns in einem Raum im Verwaltungstrakt auf. Nebenan war Veronikas Büro. Hier: drei Tische, zu einem Hufeisen geformt. Acht Stühle. Jeweils paarweise okkupierten wir den unteren Rand des Hufeisens. Auf der einen Seite: Veronika und Klaus, auf der anderen Aiala und ich. Sperrholz versperrte das einzige Fenster, beige Wände, weiches Licht.
»Bitte, Klaus.« Veronika äußerte sich gleichzeitig verbal und telepathisch. »Wir hatten uns darauf geeinigt zu sprechen.«
»Blödsinn!« Klaus war ein sehr guter Sender. Obwohl erst mit wenigen Grundlagen vertraut, untermalte er ausgestrahlte Worte mit Farben. Emotionale Tiefe mit eingeschränkter Wirkung. In seiner Welt war Spott blassgrün, in mir symbolisierte diese Farbe unterdrückten Neid. »Wir können unsere Fähigkeiten nur ausbauen, wenn wir sie einsetzen.«
Veronika nickte. Zauberte Lächeln auf ihr eckiges, mageres Gesicht. »Theoretisch hast du recht. Wir sind so selten mit anderen Telepathen zusammen, dass Sender meinen, ihre Fähigkeiten würden verkümmern. Aber es ist wichtiger, alte Kommunikationskanäle beizubehalten.«
»Daran denke ich nicht!« rief Aiala. Stützte die Ellbogen auf den Tisch und demonstrierte zittrige Hände. »Das hier meine ich.« Sie stockte. Suchte nach Worten. Zupfte an der Oberlippe. »Sie ist taub. Kein Gefühl im ganzen Körper. Alles ist schwer. Sogar. Das. Denken.«
»Nur am Anfang«, erklärte ich. »Wenn der Mix passt wird es leichter.«
»Musst du gerade sagen«, erwiderte Aiala. Stieß mir einen Finger in die Rippen. Nur geringer Schmerz. »Du hast Augen wie ein Angorakaninchen, eine Stimme vom Grund eines Brunnens.«
»Körperliche Nebenwirkungen.« Ich klopfte mit Fingerknöcheln auf meinen Kopf, formte dabei den Mund zu einem O. Klang wie eine Kokosnuss. »Die kleinen grauen Zellen funktionieren wieder ziemlich gut.«
»Ich nehme fast nichts. Alles eine Frage der Kontrolle«, kehrte Klaus zur verbalen Kommunikation zurück. Belegte mich mit zynischem Grinsen. »Ich habe gehört, es gibt Typen, die sich freischalten lassen, um Dope auf Krankenschein zu erhalten.«
»Hast du gehört«, stellte Veronika fest. Demonstrierte zugleich Überlegenheit als Sender. Sachliche Sprache nach außen, torpedierte sie unser Hirn mit offenem, hypnotischen Zorn. Schob freundschaftliches Blau über karmesinrote Momentaufnahmen, während sie Schärfe in weitere Worte packte: »Die Musik ist zu unterschiedlich. Gute Sender sind meistens schlechte Empfänger. Sie müssen sich konzentrieren, um Einzelstimmen aus dem Flüstern zu isolieren. Andere vernehmen stetiges Brüllen, das den Schädel sprengt. Das Brüllen ist lauter als die eigenen Gedanken und nur der richtige Mix kann es zurückdrängen. Wahrscheinlich gibt es wirklich Junkies an sich unter Telepathen. Ich habe noch keinen getroffen. Sondern nur diejenigen, die Dope einsetzen, um sich nicht zu verlieren.«
»Ich. Verstehe. Nicht.«, sagte Aiala. Müdigkeit, Trägheit in jeder Dope-gefüllten Geste.
Bevor Klaus eine weitere spitze Bemerkung abschießen konnte, bedeutete Veronika uns knapp, sie mit Aiala allein zu lassen.

»Machen Sie meine Rezepte fertig«, forderte ich die Schwester auf. Sie hieß Doris. Der Name prangte in schwarzen Lettern auf grünem Schild an einer ausladenden Brust. Hatten Krankenschwestern eigentlich Nachnamen? Oder kamen sie als neutrale Wesen auf die Welt, denen Mitleid antrainiert wurde, bevor man sie in weiß ausgekleidete Formen presste und Identität durch grüne Namensschilder mit schwarzer Schrift festlegte.
Schwester Doris starrte konzentriert über meine Schulter. Fixierte einen imaginären Punkt an der hinter mir liegenden Wand. Sie wichen meinem Blick aus. Glaubten, Augen waren die offenen Wunden, über die ich in ihre Seelen vordringen konnte.
»Dr Gerber möchte Sie sprechen. Sie sollen sofort in sein Büro kommen.«
»Er weiß, wo er mich finden kann«, erwiderte ich schroff. »Ich gehe zu ihm, sobald ich bei Fahan fertig bin.« Kein Interesse, wieder den alten Vorträgen zu lauschen: »Reduzieren Sie endlich den Konsum. Mit jeder neuen Transplantation wird es komplizierter, ihren Organismus auszubalancieren. Nur noch wenige Jahre, und sie enden zwischen unseren Patienten.«
Drei Nieren, zwei neue Lebern. Künstliche Bauchspeicheldrüse, das zweite Herz. Ein zermanschtes Gehirn, das irgendwo zwischen Verblödung und wildem Irrsinn hin und her pendelte. Natürlich hatte Gerber Recht. War ich bereit, auf Implantate zu verzichten? Rückkehr zur bürgerlichen Existenz.

Nach meiner ersten Nierentransplantation beschloss ich Dope abzusetzen: Zuerst die Schmerzen des Entzugs. Irreales, körperliches Leid; aus Derivaten folgte nur geringe physische Abhängigkeit. Ich hatte über Drogen gelesen, das eine oder andere Mittelchen schon viel früher ausprobiert und wieder abgesetzt. Erwartete Schmerzen und erlebte sie. Es gibt keinen Unterschied zwischen selbsthypnotisch beigebrachten und realen Nadelstichen. Nicht länger das leichte Bohren, das mich über Nacht wach gehalten hatte. Krümmte mich auf dem Bett zusammen. Die Augen zusammengepresst, Messerstiche im Rückgrat.
Später, am Nachmittag, zersplitterte der Schmerz. Und mit ihm zersprangen Dope-Barrieren, die er irgendwie zusammengehalten hatte. Ich war: der Taxifahrer an der Ecke, der gelangweilt auf Kunden wartete. Die Kassiererin unten im Supermarkt, die sich über ihren Chef ärgerte. Der Banker im Nachbarhaus, den gerade seine Frau mit seiner Geliebten erwischte. Seine Frau. Die Geliebte.
Myriaden Farben blendeten. Wilder Rock´n´Roll und melancholische Wagnerklänge verstopften meine Ohren. Pfeffer, Stanniol, Schokolade und Batteriesäure sammelten sich auf der Zunge und reizten die Speiseröhre. Salmiakgeist und Rosenblätter, Erdbeeren und Fisch tosten durch die Nase in die Stirnhöhlen, trieben Tränen in blinde Augen. Reaktionslos, unbeweglich in die Decken verkrallt fand Jareth mich am Abend. Alarmierte Notdienste, deren Nadelstiche mein aufgebohrtes Gehirn einschläferten, bevor fremde Realitäten endgültig siegten.

Fensterlos, eingekeilt zwischen Schwestern- , Sprech- und Wartezimmern erinnerte Fahan´s Krankenzimmer an eine Besenkammer. Beinahe quadratische Grundfläche. An einer Wand flackerten farbige Skalen auf verschiedenen Monitoren. Neben und unter den Monitoren ragten unterschiedlichste Apparate auf. Künstliche Nieren, Leber. Herz- Lungenmaschinen, Nährlösungen, Messgeräte für EEG, EKG und andere Körperfunktionen. Schläuche und bunte Drähte ordneten sich zu einem komplexen Muster zwischen den Apparaten und dem Bett an der gegenüberliegenden Wand. Über dem Bett unterbrach eine Reproduktion weiße, fensterlose Wände: Im Vordergrund ein paar hochhackige Damenschuhe. An die Stelle der Schuhspitzen waren die Zehen und ein Teil des Vorderfußes der Trägerin getreten, dahinter ein Nachthemd. Es hing lose über einem Bügel, beinahe bis zum Hals geschlossen. Ein paar wohlgeformter Brüste ersetzte Kleiderstoff an den richtigen Stellen. Nackte Brüste und Füße verschmolzen in weichen Übergängen mit dem Nachthemd und den Schuhen zu jeweiligen Einheiten. Aus der Körperlichkeit gelöst, hatte die Trägerin mit den Kleidungsstücken auch diese Teile eingebüßt. Irgendwie weckte das Gemälde in mir eine klare Vision der Trägerin. Die Füße endeten oberhalb der Zehen - in Fleisch verkleidete Extremitäten einer femininen Teufelin, ihr Brustkorb eröffnete Ausblicke auf die dahinter liegende Welt.
Zwischen Bett, Apparaten und Monitorwand war gerade Raum genug für einen einzelnen Stuhl. Senkrecht aufragende Lehne, steife hölzerne Fläche. In den ersten Sitzungen hatte ich auf dem Bett gesessen oder daneben gestanden, erst auf mein Verlangen hin, hatte jemand diesen Stuhl aus einem der Kellerräume ausgegraben und ihn hierher gestellt, um mein Sitzfleisch zu martern.
Die magere Gestalt auf dem Bett verschmolz mit weißen Laken und Wänden. »Hallo, Fahan«, begrüßte ich ihn. Rutschte auf dem Stuhl hin und her, fand schließlich eine halbwegs annehmbare Position.
Erwartete keine Antwort. Es hatte drei Jahre lang keine Antwort gegeben. Fahan´s Augen standen offen. Braune Pupillen, starr auf die Decke gerichtet. Sie waren immer offen. Deshalb waren Neonröhren früh demontiert worden. Nun tauchte Kunstlicht aus umrankenden Fußleisten den Raum in gedämpftes Dunkelgelb. Die letzte Rasur war einige Tage her. Graubrauner Flaum bedeckte Oberlippen, Kinn und Wangen, dunkle Stoppeln durchstachen die Kopfhaut. Schläuche bohrten sich in papierdünne Haut an Hals, Armen, Rückgrat und Genitalien, die Drähte der verschiedenen Apparate vereinten sich in einem Stecker im linken Unterarm. Einfache Kunststoffscheiben verbargen Schläfenimplantate. Belege für eine Freischaltung.
Ich nahm die rechte Hand. Unnötig, es erleichterte manchmal direkte Kontaktaufnahmen. Knochige Finger. Jede Sehne, jede Ader stärker als verkümmerte ungeübte Muskeln. Senkte meine Walls. Suchte bekannte Muster im aufgebrochenen Chaos. Seelische Schmerzen eines Krebspatienten, der seine Chemotherapie in eine Blechschüssel kotzt. Beiseite! Öde Langeweile des komplizierten Beinbruchs, dessen Freund genau das Buch mitgebracht hat, das er auswendig kennt. Nach hinten! Angst eines Magenkranken vor der Operation. Weg damit! Gereizte Entschlüsse, nur noch Dienst nach Vorschrift zu leisten schieben sich zwischen Überstundenfrist. Nach unten! Freudige Feierabenderwartung, Unsicherheit vor der Diagnose, Schmerzen im verstauchten Fuß, Ekel vor der Magenspülung. Weg! Nach Rechts, nach Links.

...Den Kopf auf die Brust gelegt schaue ich auf den kleinen See. Sauge gierig an der Zigarette und blase Rauch durch die Nase...
Krallte mich am Bild des Sees fest. Roch Zufriedenheit. Fuhr Saugnäpfe aus. Zerrte am See, bis er die anderen Bilder überlagerte. Etwas verärgert. Es würde noch lange dauern, bis ich Kontakt aufnehmen konnte.
...Trockenes Gras sticht an dem freien Hautstreifen zwischen hochgerutschtem T-Shirt und abgeschnittenen Jeans. Ich möchte mich kratzen, bin aber zu träge, die Stellung zu wechseln. Annikas blonde Haare tanzen über dem Wasser. Neben ihr schwimmt Sasch. Die leichte Brise trägt ihr Lachen zu uns herüber. Hinter den beiden liegt die kleine Insel. Sie erinnert mich an die letzte Nacht. An feste Brüste, ihre feuchte Möse unter meinen gierigen Fingern, mein Schwanz in ihrer fordernden Hand. Unsere Küsse schmeckten nach Wein und Gras. Die anderen waren im Wasser oder sammelten sich um das flackernde Feuer. Wir hörten harten Pop, während neugierige Hände Körper erforschten, Badehose und Bikiniunterteil nach unten zogen.
Ich ziehe die Knie an, um meine Erektion zu verbergen. Neben mir plappern Dany und Husseyn über einen Film den sie gesehen haben oder erst noch sehen wollen. Ich drehe den Kopf zur anderen Seite. Dieter hockt auf den Fersen; stützt den Rücken am alten Weidenbaum ab. Ein Piratentuch schützt den rasierten Schädel vor der Sonne. Er bröselt bräunliches Marihuana. Baut eine Reihe regelmäßig geformter Joints vor seinen Füßen auf.
»Ich hole was zu trinken«, sagt er und steht auf. »Will noch jemand was haben?«
Nach einer kurzen Sammelaktion fasst er die Bestellung zusammen. Ich krame noch in den Taschen meiner Jeans, dann in Annikas Tasche. »Kannste uns was pumpen?«
»Klar. Aber dann kommst du mit und hilfst tragen.«
»Kein Problem.« Ich setze mich auf, lege mein Buch aufgeschlagen neben mich und schreie übers Wasser, was wir Annika und Sasch mitbringen sollen.
»Cola.«, »Sprite.«, rufen sie zurück.
Ich werfe Annika einen Handkuss zu, bevor ich meinen Hintern auf die Plastikabdeckung hinter Dieters Sitz pflanze. Ich muss die Knie anziehen und mit ihnen ihnen mein Gewicht ausbalancieren, als er das Mofa anwirft. Unter uns knattert der frisierte Motor. Der Auspuff ist direkt neben meinem Schenkel, ich spüre die Verbrennungshitze durch den Jeansstoff.
Dieter scheucht die Maschine über schlecht ausgebaute Wege. Ich habe die Arme um ihn herum gelegt, den Kopf an seinen Rücken gepresst. Gemeinsam lehnen wir uns in den Kurven nach recht und links. Gemeinsame Erfahrung hilft mir, mich an seinen Fahrstil anzupassen und gleichzeitig die Füße von den Speichen, dem Boden und dem heißer werdenden Auspuff fern zuhalten. Mit elegantem Schwung meistern wir die letzten Kurven, jetzt noch ein scharfer Knick nach links und wir sind auf der Bundesstraße, wo Dieter den Motor voll aufdrehen kann.
Ich bin eins mit ihm. Wir werfen uns in die letzte Kurve. Schrilles Kreischen bohrt sich in meine Ohren. Bremsen? Eine Fußraste, die den Boden berührt? Aus den Augenwinkeln nehme ich ein Metallmaul wahr. Begrenzt von eckigen, weißen Glasaugen mit gelben Unterlidern. Ich spüre einen sanften Stoß an der Hüfte. Er ist gerade so fest, dass ich den Griff um Dieters Hüften löse. Schwerelos gleite ich über die Straße. Einen Meter vor mir, einen Meter über mir segelt das Mofa dahin. Es liegt halb auf der Seite, immer noch dabei, die Kurve zu bewältigen. Dieter krallt sich am Lenker fest. Seine Füße haben die Fußrasten verlassen, sein Rumpf bildet eine parallele Linie zum Sitz der Maschine. Der Mund steht weit offen, aber Fahrtwind - Flugwind - verschluckt seinen Ausruf. Es fehlt nur das Cape und er sieht aus wie Supermann, denke ich, lache in den Wind, während Dieter und das Mofa nach oben verschwinden. Für einen Augenblick schießen blauer Himmel und die strahlende Sonne an mir vorbei, hinter der Leitplanke blitzen Büsche und Bäume auf, dann rast mir schwarzer Asphalt entgegen.
»Sehen wir uns nachher?«, frage ich Annika nach der Schule.
Sie drückt mir einen Kuss auf die Lippen und schwingt sich auf ihr Rad. »Klar! Unten am See! Die anderen kommen auch.«
Ich schaue ihr nach, bis sie um die Kurve verschwindet. Eigentlich schaue ich eher auf ihren Arsch in den engen Jeans. Ich freue mich. Weniger auf den Nachmittag als auf den Abend, die Fortsetzung von gestern. Ich gehe zum Bus, schnorre eine Zigarette von Husseyn. Als wir den Bus verlassen, staube ich noch eine ab, verstecke sie in meiner Tasche, lutsche Pfefferminzdrops. Meine Mutter glaubt, ich sei zum Rauchen zu jung.
Daheim werfe ich noch schnell den Computer an. Zocke bis zum Mittagessen, es gibt Reis, Sosse und Hühnchen. Ich bin als erster fertig.
»Ich fahre zum Baggerloch«, sage ich und will mich hinausstehlen.
»Bleib aber nicht so lang fort wie gestern«, meint meine Mutter. Sie ist mit mir aufgestanden, räumt mein Geschirr weg, um danach weiter zu essen. Wenn sie wüsste....
Es ist kurz nach zwei, als ich die Kiesbagger passiere, die den See Tag für Tag um Zentimeter erweitern. Ich halte in ihrem Schatten an, suche die Zigarette und rauche. Ich bin verärgert, weil ich keine Shorts angezogen habe. Der Tag ist verdammt heiß. Jeans und T-Shirt kleben an meinem Körper. Gegenüber basteln Mitglieder des örtlichen Segelclubs an ihren Booten. Wenn es nach ihnen geht, würden Schwimmer vom Baggerloch vertrieben und ins Schwimmbad zurück gedrängt werden. Wir sind ihnen im Weg.
Die halb aufgerauchte Zigarette zischt kurz, als ich sie ins Wasser schnippe. Nur wenige Meter hinter den Kiesbaggern beginnt der Bereich, den Schwimmer oder Sonnenhungrige erobert haben. Hecken, Büsche und Weiden teilen das Ufer an dieser Seite in kleine Parzellen auf, die jeweils von einer Familie oder einer Clique okkupiert werden. Ich kann Lachen und Stimmen hören, stelle das Rad vor unserer Parzelle ab und gehe hinein. Sasch und Husseyn sind schon da. Sie liegen Arm in Arm auf der Seite und stieren verliebt in die Augen des Anderen.
»Hi«, grüße ich knapp. Husseyn antwortet mit einem Winken, Sasch steckt ihm, anstatt einer Reaktion, die Zunge in den Mund. Ich lege mich neben ihnen auf den Bauch. Überlege, ob ich ein Gespräch beginnen soll, dann hole ich das Buch aus der Tasche: Ray Bradbury - Der illustrierte Mann
Endlich. Zeitpunkt der Kontaktaufnahme. Ich schleuderte einen Speer nach vorn, spießte Buchseiten auf. Fahan´s Kopf zuckte kurz nach oben, als gezielte Gedanken sein Innerstes aufgreifen.
»Wer bist du?«
»Markus. Nenn mich Mark. Ich bin hier, weil ich dir helfen will.«
»Ich bin über meinem Buch eingeschlafen.«
»Markus. Mark. Ach, du. Dann bin ich immer noch im Koma.«
Ich produzierte das geistige Äquivalent eines Nickens, er antwortete mit klar ausgedrückter Langeweile. »Du möchtest es wieder mal versuchen, oder?«
»Deshalb bin ich hier. Willst du es nicht?«
»Es kommt mir jedesmal nutzloser vor. Aber wenn du meinst...« Fahan hob eine imaginäre Hand. Körperlos tanzte sie in komplexen Mustern über mein Gehirn. Fegte mit ausladenden Gesten alle anderen Besucher aus den Winkeln, in denen ich sie mühsam gefangen hielt. Ballte eine Faust. Drehte sie mit den Fingern nach oben. »Abrakadabra.« Öffnete die Finger.
Wir saßen in dem kleinen Café. Fahan war ein kräftiger Mann. Mitte zwanzig. Sonnengebräunte Haut, schmales Oberlippenbärtchen, schulterlange, schwarze Haare. Vor ihm stand eine Tasse Espresso, vor mir ein Cappucino. Dichtes Gedränge auf der Straße. Zwischen Menschen, deren Kleidung aus jedem Jahrhundert entstammte, bewegten sich große, käferartige Geschöpfe.
»Keine Käfer«, verbessert mich Fahan. »Gottesanbeterinnen. Ich habe ihr Bild aus einem Film, den du gerade gesehen hast. Sie sind perfekte Aliens. Übrigens: Was liest du gerade?«
»Später«, sagte ich, dachte natürlich an Delaney, Habermas und Hofstetter. Fühlte, wie der monströse Roman, politisch-philosophische Essays und Logik-Konstrukte aus meinem Inneren gesaugt wurden. Mit ihnen schwanden Tageszeitungen, die ich jeden Morgen im Web abrief und die Bücher über Astronomie, mit denen Schirinov´s Hypnose mich gefüttert hatte. Natürlich verlor ich nicht die Erinnerung an das Gelesene; Fahan saugte angelesenes Wissen auf wie ein trockener Schwamm, deponierte es irgendwo in seinem Bewusstsein. Konfrontierte mich bei späteren Treffen mit Orten aus den Romanen, befremdenden Konzepten oder abstrusen Verknüpfungen unterschiedlichster Theorien.
»Gut getroffen?« fragte er. Deutete auf die Tasse. Die Flüssigkeit dampfte nicht. Versteckt unter einer weißen Schaumkrone. Ich schöpfte etwas Schaum ab. Kostete. Der Schaum schmeckte nach schalem Kaffee. So heiß, dass ich ihn auf der Stelle ausspie. Fahan schüttelte unzufrieden den Kopf. Schnippte mit den Fingern und Cappucino wurde zu einfachem, schwarzen Kaffee. »Manche Sachen kriege ich einfach nicht hin.«
»Es ist nicht wichtig.«
Er nippte an seinem Espresso. Schüttelte angewidert mit dem Kopf. »Noch eine Pleite«, stellte er fest, warf die Tasse achtlos in die Menge. Automatisch sah ich ihr nach. Bevor sie jemanden treffen konnte, löste sie sich auf. Am Rand meines Blickfelds kroch weißer Nebel aus dem Boden. Löste Aliens und Menschen auf, während er auf uns zu kroch. »Du konzentrierst dich nicht. Gibst die wenig Mühe.«
Er zeigte mir die rechte Hand. Um das Handgelenk spannte sich ein breites Lederband. Als er die Faust ballte, stachen Klingen aus dem Band, schmiegten sich an seine Finger. »Orchidee.« Er schabte mit den Klingen über den Tisch. Sie waren zu dünn, verbogen, ohne die Platte zu beschädigen.
Ärger überflog sein Gesicht. Er veränderte den Standort. Brachte uns an eine steil aufragende Klippe. Tief unter uns warf Gischt schaumige Wellen. Wassertropfen spritzten in unsere Gesichter. Es schmeckt zu salzig. In zwanzig oder fünfundzwanzig Metern Entfernung verschmolz dichter Nebel Wasser und Luft zu einer undurchdringlichen Wand. Vor der Nebelwand ging die Sonne unter.
Er packte meine Schultern. Drehte mich im Kreis. Überall vereinten sich Himmel und Erde, Himmel und Bäume, Wasser, Felsen und Himmel zu diesem grauen, undurchdringlichen Nebel. Überall glühte die rote Sonne zwischen uns und der Nebelwand. Trug nach wie vor die Klingen, die Orchidee. Jetzt waren die Klingen fester. Schnitten durch braunkarierte Jacke und Hemd, gruben sich schmerzhaft in meine Schulter.
»Was hast du vor?«, fragte ich. Kannte die Antwort. »Es hilft nicht. So wirst du nicht erwachen.«
Spöttisches Lächeln auf dem bartlosen Gesicht, stieß er mich zurück. Schwingen schnellten aus seinen Schultern, verbanden sich mit seinen Händen. »Ein Flug in die Freiheit«, rief er. Rannte auf die Klippe zu, sprang in die Luft.
Für einen Augenblick glaubte ich, er hätte einen Weg gefunden. Dann sah ich, wie sich Sonnen und Nebel mit ihm bewegten. Sorgfältig bedacht, ihre Distanz zu halten. »Komm zurück!« schrie ich ihm nach. Er drehte den Kopf. Endlose Trauer in den Augen, als er verstand, als mich Sonnenglut von hinten einhüllte. Sonnenglut entzündete meine Jacke. Blasen wuchsen aus dem gemarterten Rücken, dann, ...
...endlich kommen Dieter, Annika und Dany. Ich lege mein Buch zur Seite und die Arme um Annikas anschmiegsamen Körper. Sie erwidert meinen Kuss, streift Bluse und Hose ab. Ihr Körper schimmert silbern vom Schweiß und sie schiebt mich weg. »Ich muss ins Wasser«, erklärt sie, als sie meine Leidensmiene sieht. »Sasch?«
»Ja?«
»Kommst du mit?«
Sie tuscheln leise miteinander, als sie im Wasser untertauchen. Ich überlege, ob ich hinterher springen soll, schnorre eine Zigarette aus Husseyn´s endlosen Vorräten und strecke mich auf dem Rücken aus. Den Kopf auf die Brust gelegt schaue ich auf den kleinen See. Sauge gierig an der Zigarette und blase Rauch durch die Nase...

Als Fahan in die Schleife einsank, kehrten alle Töne, Farben, Gerüche und Geschmäcke, die er verjagt hatte zurück. Instinktiv verschloss ich alle Türen. Erstellte Mauern, um überschäumendes Chaos einzubetten. Nur Teilerfolge. Schmerzen im Rücken und der Schulter stützten meine Realität, aber der nachlassende Mix schwächte meine Persönlichkeit.
Mit geschlossenen Augen suchte ich Pillendosen in der Jackentasche. Nahm zwei. Würgte sie trocken herunter. In einem anderen Raum belauschte ich Schwestern und Pfleger, die Wetten auf den Todestag eines Krebspatienten abschlossen, der vor ihnen lag und in Schmerzen ertrank. Sein Dope wirkte nicht mehr. Schmeckte fauligen Ekel. Roch Abscheu: faulende Fäkalien, eingelegt in beißendem Essig. Nicht meine Gefühle, vereinten sie sich mit der Vision meines, vom Dope zerfressenen Leib.
Riss die Augen auf, als eine Hand die verletzte Schulter berührte. Vor mir, am Fußende des Bettes, saß Dr Gerber. Sportlich. Durchtrainiert. Nicht mehr jugendlich, schleppte er mehrreihig beringte Ohren als Erinnerungen an eine wildere Vergangenheit mit sich herum. Er färbte Haare und schütteren Bart braun, an Stirn und Wangen bewiesen graue Strähnen sein wirkliches Alter.
»Geht es?«
Ich streifte seine Hand von der Schulter. Würgte zwei weitere Pillen herunter. Empfing weiter seinen Ekel. Abscheu vor der Arbeit mit Drogenfreaks. Widersprüche zu seiner idiotischen Gesundheitsphilosophie: Vitamine, Radfahren, Jogging, Hanteln.
Legte die Jacke ab. Stechen in der Schulter. Pochende Glut auf dem Rücken.
»Sie bluten! Können Sie das Hemd ausziehen?« Während er Mitleid in die Stimme zauberte, bombardierte er meinen Geist weiter mit Bildern meines zerfressenen Körpers. Ich presste seine Gedanken nach hinten. Sie schwammen wieder nach vorne. Brauchte Zeit, mich zu sammeln. Nähe veränderte nicht die Empfangsqualität. Gestattete aber häufig leichteres Zuordnen von Personen und Gedanken, Verknüpfungen, die es erschwerten, Gerber in der Hintergrundmelodie zu verbergen.
»Nicht weiter schlimm«, sagte ich. Stimme wie bröckelndes Eisen. Las stumme Entschlossenheit zwischen Ekel und Abscheu. Deshalb hatte er mich sprechen wollen! Versetzte ihm einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Gesteuert von unseren Emotionen, den noch lange nicht gefestigten Firewalls. »Fahan lebt noch!«, keuchte ich. »Und du verkaufst seine Organe an irgendwelche Privatpatienten! Wann?«
Seine Wange färbte sich rot, der Rest des Gesichts nahm dunkleren Ton an: Scham und Wut. Er war aufgestanden. Dachte daran, zurück zu schlagen. Rezepte nicht zu unterschreiben. Stummer Triumph, weil er das Ende meines Jobs kannte. »Es ist Schirinov«, stammelte er. Routinierte Entschuldigungen. »Wir glauben nicht mehr an einen Erfolg. Die Verwaltung klebt uns im Nacken, seit über einem Jahr ist er aus allen Versicherungen herausgefallen. Ich wünschte, wir könnten noch warten, aber es sind...«
»... Sachzwänge.«, ergänzte ich. Unterdrückte weitere körperliche Reaktionen. »Verpiss dich! Er trägt Implantate! Empfängt vielleicht gerade seinen geplanten Tod! Mach, dass du raus kommst!«
Er zwängte sich hastig zwischen mir und der Monitorwand durch. Seine Gedanken wanden sich um durchschaute Lügen. Angst, ich würde seine getürkte Steuererklärung verraten, setzte neue Prioritäten. Wut brannte eine Schneise in mein Gehirn. Auf seine schwache Selbstkontrolle, mein Wissen um seine Täuschungen. In der Tür forderte er mich auf, in sein Büro zu kommen, sobald ich klar im Kopf sei. Sobald meine Schulter behandelt worden ist. Erneut durchflossen ihn Rachegefühle. Mein rechter Arm verfaulte. Blutvergiftung. Zu spät behandelt. Auf seinem Schreibtisch warteten meine Rezepte. »Versuch es nicht!« zischte ich. Sah Begreifen im versteiften Nacken, las zurückkehrende Selbstbeherrschung, als er die Tür hinter sich zuschlug. Aus dem Sichtfeld entschwunden, war es leichter, seine Gefühle, seine Gedanken in eine Ecke zu drängen, in die Krankenhausmelodie einzubauen.
Noch überlagerte Fahan´s Schleife andere Gedanken: Gerade genoss er wieder den wilden Ritt auf dem Mofa. Sollte ich einen weiteren Versuch wagen, ihn zu kontaktieren? Aus der Schleife zu ziehen, die Erwachen aus dem Koma verhinderte?
Taubheit in den Fingern signalisierte eine oder zwei Pillen zu viel. Außerdem brauchte ich reale Hilfe. Jod und Pflaster auf die Schulter, Brandsalbe auf den Rücken. Erinnerungen an den einzigen Doppelkontakt schreckten mich ab. Für ihn bedeutete es keinen Unterschied. Für mich ein weiterer Ritt auf der Feuerwolke, die hochaktive Gehirnteile von der Schleife abschottete. Neue Verbrennungen auf alten Brandblasen. Drei Tage in einer Nährlösung, um Haut zu regenerieren.
Ich integrierte seinen Ausritt. Drehte mich vorsichtig hin und her. Nur oberflächliche Verbrennungen. Es tat weh, war aber nur halb so schlimm. Das Seidenhemd klebte nicht an aufgebrochenen Blasen. Ich trug immer dünne Seidenhemden, lange seidene Wäsche, wenn ich Kontakt aufnahm. Lose fallende Stoffe. Lernprozesse aus üblen Erfahrungen: Schon einmal versucht, schweren Baumwollstoff und verbrannte, nässende Haut zu trennen?
»Wer bin ich?«
Die Frage erschien wie eine Nova. Kindliche Unsicherheit paarte sich mit brutaler Intensität starker Sender. Hatte Schirinov einen frischen Telepathen gebastelt? Ein weiteres Testobjekt unter den kurzen Stummelfingern, die so geschickt Miniaturlaser steuerten, Nervenbahnen im Gehirn trennten und mit Chips verbanden, neue Knoten erstellten, um mögliche Potentiale zu befreien. Entschlossen, Gerber danach zu fragen, drückte ich gegen die Nova. Für einen kurzen Moment federte sie Druck ab, dann glitt sie bereitwillig auf die Seite und in den Hintergrund.
Die Jacke über den Arm gelegt, klopfte ich an die Scheibe des Schwesternzimmers. Wieder war es Schwester Doris. Begleitet von einer Schülerin. Ich streifte Hemd ab, setzte mich rittlings auf ein Notbett vor ihrem Raum. Unter fachlicher Anleitung besprühte die Schülerin den Rücken aus der einen, die Schulter aus einer anderen Dose. »Fünf Minuten warten«, kommandierte Schwester Doris.
»Danach sind die Verbände trocken genug, dass sie sich wieder anziehen können.« Wöchentliche Routine. Könnte den Satz sprechen, ohne Gedanken zu kennen. Unterließ es. Überließ ihn ihr. Zynische, witzige, bekannte Bemerkungen erzeugten zusätzliches Misstrauen in Nicht-Freigeschalteteten. Sie interpretierten sofort, wir würden sie ausspähen. Während ich wartete, füllte ich letzte Lücken in den Walls. Zufrieden, als ich nur noch bekannte Krankenhaussinfonie vernahm. Jetzt einzelne Gedanken aufzufangen, bedeutete, die Walls niederzubrennen.

Gerber´s Sportlichkeit fiel nicht auf hinter dem mächtigen Schreibtisch. Verschluckt vom weichen, lederbezogenen Schreibtischstuhl, unscheinbar zwischen zwei ausladenden Plasmaschirmen und Aktenbergen. Seine Finger spielten mit einem Tintenstift. Ich wusste, dass meine Rezepte vor ihm lagen. Er deutete auf einen der Sessel vor dem Tisch. Niedrig genug, damit Sitzende zu ihm aufsehen mussten. Psychologischer Vorteil, den er zunichte machte, weil er während der ganzen Unterhaltung angestrengt das beschriftete Bild des Gehirns musterte. Auch Wissen und Ausbildung schützten nicht vor instinktivem Verlangen, Blickkontakte zu meiden.
Entschuldigte sich, nachdem ich Platz genommen hatte. »Ich hätte warten sollen, bis Sie sich gefangen haben, Mark. Ich kenne die Probleme schließlich genau, wenn Sie den Kontakt gerade gelöst haben.«
»Kein Problem«, wehre ich ab. »Habe genauso Mist gequatscht. Bedaure verletzte Intimsphäre, aber es war nicht vermeidbar.«
Floskeln. Wir wussten, es waren Notlügen. Konventionen bewahren.
»Ich möchte Sie am Freitag sehen. Bis dahin wird endgültig feststehen, ob wir das Experiment Fahan Ergolan fortführen. Morgen bespreche ich mich mit Schirinov, nächste Woche mit dem Verwaltungsrat.« Ich kannte die Antworten. Sie wurden schon lange von ihm gedacht. Seine Entscheidung fiel spätestens mit dem Privatpatienten, der auf Fahan´s Herz wartet. Die Wahrheiten meines Wutausbruchs in Fahan´s Zimmer sollten wir in stiller Übereinkunft ignorieren. Nie von ihm freigegeben Worte: meine Schweigezonen.
Aber zu großer Zorn störte antrainierte Konzessionen an die Nichttelepathen. »Sie haben längst entschieden?« Zynismus in der Stimme. Das Fragezeichen am Ende des Satzes war kaum hörbar. »Ein Fehler. Denke ich. Fahan lebt. Fühlt, denkt.«
»Einmal pro Woche, wenn Sie ihn besuchen.« Er kaute auf dem Stift. »Wir verlassen uns auf Ihre Berichte. Die Messgeräte zeigen keine veränderte Gehirnaktivität. Manchmal glaube ich, es sind Ihre Phantasien.«
»Hat er eine Chance?«
»Es ist nicht meine Entscheidung. Außerdem«, er warf einen Blick auf einen Monitor, »wird es noch ein paar Wochen dauern, bis wir alles abschalten.«
Bis dein Privatpatient genügend geschröpft ist, korrigierte ich stumm.
»Ihr Vertrag läuft noch sechs Wochen«, fügte er hinzu. »Abzüglich Urlaub natürlich. So wie es aussieht, werden wir beide Ereignisse kombinieren.«
»Seine Eltern?«
»Sie haben uns den Jungen vor drei Jahren überschrieben«, stellte Gerber nach kurzem Suchen auf dem Schirm fest. Es gibt niemanden mehr, der sich um ihn kümmert. Wenn Schirinov damals sein telepathisches Potential nicht entdeckt hätte, wäre er bereits abgeschaltet worden. Im Grunde sind wir seine letzten Bezugspersonen.«
Ich lehnte mich zurück. Stellte einen Fuß provozierend auf den Sesselrand. Blickte an Gerber vorbei. Alte Eichen trennten diesen Trakt von anderen Gebäuden der Klinik. Herbstbunte Blätter flatterten durch die Luft. Tauben hatten den Park schon lange erobert. Fett geworden durch fütternde Patienten, verdrängten sie alle anderen Vogelarten. Ich hatte mein Hemd doch zu früh angezogen. Es spannte, klebte am Sprühverband über Brandblasen.
Gerber blätterte wieder am Monitor. »Wir werden am Freitag weitersprechen«, schlug er vor. »Bis dahin sollten Sie ein paar Berichte nachreichen. Drei Monate stehen offen. Für den Verwaltungsrat«, fügte er hinzu. Warnende Drohungen waren nicht zu überhören. »Sie haben schon eine Abmahnung deswegen erhalten. Man könnte fragen, ob Sie Ihrem Vertrag nachkommen und eine fristlose Kündigung beschließen.«
Ich nickte. Schuldbewusst. »Fehlende Veränderungen«, erklärte ich. »Ich könnte ältere Berichte kopieren, es gäbe keinen Unterschied.«
»Von mir aus nehmen Sie alte Berichte.« Unüberhörbare Gleichgültigkeit. Für ihn war das Experiment längst abgeschlossen. »Jagen Sie einen Thesaurus darüber, damit sie anders klingen. Es gehört zu Ihrem Job.« Zauberte ein gönnerhaftes Lächeln auf sein Gesicht, als er mir zwei Rezeptkarten zuschob. »Eine Vorbedingung, damit Sie bezahlt werden. Damit ich weiterhin Rezepte für Sie ausstellen kann.«
 



 
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