ausgependelt

Hagen

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ausgependelt

Normalerweise stehen oder sitzen vier bis sechs Männer am ersten Freitag des Monats bei uns im Billardsalon um den Tisch, rauchen Zigarillos, essen Chips, nehmen hin und wieder mal einen Schluck Schwarzbier oder Whisky, machen markige Gesichter und Sprüche wie: ‘Manche Männer bemühen sich lebenslang, das Wesen einer Frau zu verstehen. Andere befassen sich mit weniger schwierigen Dingen zum Beispiel der Relativitätstheorie‘.
Die Wunderbare Ulrike sitzt zunächst mit den Mädels an der ScheinBAR sie verkosten den einen oder anderen Cocktail zum Beispiel den ‘Dream of Loie Fuller‘ oder ‘Fledermaus im Wachholderhain‘ und gehen dann zum Bridgespielen über.
Und genau wie im richtigen Leben immer alle Katastrophen auf einmal kommen, saßen die Wunderbare Ulrike und Gerda an der ScheinBAR, Bertram und ich eines Freitag alleine im Billardsalon, lauschten Dave Brubeck, öffneten schon mal die ersten Flaschen Schwarzbier und stellten fest, dass das von unserer Billardrunde mühsam hochgehaltene Männlichkeitsbild ein wenig im Begriff war zu bröckeln, denn einer besagter Runde hatte eine neue Freundin und sich deshalb entschuldigt.
War natürlich ein Streitfall, da Liebesangelegenheiten grundsätzlich Vorrang haben und dass einer wegen eines speziellen Ersatzteils für seinen Morris Minor, ein liebevoll gepflegter Oldtimer, nach Süddeutschland musste, sahen wir ein. Jedoch überhaupt nicht, dass einer mal wieder mit seiner Frau essen gehen wollte; - noch dazu vegetarisch, und dass noch einer seinen Pullover fertig stricken musste, weil er seiner Frau versprochen hatte, sie zum Strickclub zu begleiten und bis dahin seinen Pullover fertig haben wollte, fanden wir schlicht und einfach Scheiße.
Nicht weil er sich seinen Pullover selber strickte, denn wenn ein Mann meint, sich einen Pullover selber stricken zu müssen, damit am Schluss etwas Ordentliches dabei herauskommt, dann soll er das tun, aber er hat seine Planung so vorzunehmen, dass der monatliche Billardabend dabei einbezogen wird, überhaupt hatte der Typ beim letzten Mal alkoholfreies Bier mitgebracht, obwohl er nicht fahren musste; - es hätte nur noch gefehlt, dass er beabsichtigte, Freitags einen Kurs im Servietten falten zu belegen, oder bei den deutschen Stickmeisterschaften mitzusticken; - von Frauen vorgegebene Blümchenmuster und so.
Bertram begann sich eine Zigarette zu drehen, obwohl er eigentlich aufhören wollte zu rauchen, wegen Gerda, seiner Frau, die in der letzten Zeit mächtig auf dem Trennkosttrip und gegen das Rauchen war, weil es im Trend lag.
„Weißt du“, sagte er, „Gerda war letztens auf einem Wochenendseminar ‘Pendeln für Frauen‘. Seit dem pendelt sie alles aus. Sie hat ausgependelt, dass Rauchen, Alkohol und Fleisch nicht gut für mich sind.“
„Und wie stehst du dazu? Eigentlich solltest du am besten wissen, was für dich gut ist.“
„Sicher, bloß wenn ich mir ein Steak brate und dazu ein Bier trinke, muss ich mir stundenlange Diskussionen und Belehrungen anhören; - und das ist es mir auch nicht wert.“
„Weißt du was“, sagte ich und nickte mitfühlend, „ich hab eine voll ausgerüstete transportable Küche. Wie wär's, wenn wir die morgen ins Auto laden und irgendwo hinfahren, wo es schön ist? Nachmittags trinken wir dann Kaffee und abends braten wir uns Steaks, so richtig englisch, trinken ein paar ausgesuchte Biere dazu, hören schöne Musik dabei – Duke Ellington oder so – und nächtigen sodann unter Bäumen.“
„Wieso unter Bäumen?“ fragte Bertram, „ich hab' ein Zelt, ein Steilwandzelt für vier Personen.“
„Wie lange brauchst du um das aufzubauen?“
„Das weiß ich nicht. Ich hab's noch nie aufgebaut. Gerda hat's geschenkt gekriegt, von einer Freundin, die da irgendwie nicht mit klargekommen ist, weil sie als Erstes aus mir unverständlichen Gründen die Aufbauanleitung weggeworfen hat.“
„Das wäre mal eine interessante Aufgabe, aber mir wäre die Zeit zu schade, außerdem schlafe ich gern unter freiem Himmel. Mach so, wie du meinst, dass es gemacht werden muss. – Wir frühstücken dann richtig schön – Ham and Eggs oder so - und besichtigen anschließend ein Museum. Ich schlage das Hubschraubermuseum in Bückeburg vor. – Aber wir sollten nicht zu viel planen, denn nichts endet wie geplant.“
Bertram stimmte mir zu und wir gingen uns die Küche ansehen. Auch die fand er toll, beanstandete jedoch zunächst, dass sie keinen Topf beinhaltete.
„Wozu einen Topf? Willst du etwa ein Süppchen kochen? Womöglich eine Gemüsesuppe, die stundenlange Vorbereitung erfordert, wie Schnittlauch schnibbeln? Aus diesem Grund gibt es auch keine Suppenteller in der Küche.“
„Stimmt. Wir wollen ja Steaks zubereiten. – Äh, du hast vorhin was von Musik erzählt?“
„Jep. Dafür habe ich eine sogenannte High-Tech-Kiste mit Radiorecorder, Lautsprechern, einer Lampe sowie leistungsstarker Autobatterie. In einer weiteren Kiste hier befinden sich zwei weitere Laternen, Ständer für die Lautsprecherboxen sowie die Möglichkeit zwanzig Musik-CDs mitzuführen.“
„Klasse!“
Bertram zeigte unverhohlene Begeisterung, als er sich auch diese Kiste ansah, „dann besorg' ich morgen einen Kasten Bier!“
„Nicht übertreiben, wir wollen uns ja nicht betrinken, sondern niveauvoll einige Biere verkosten. Ich habe noch ein Köfferchen, welches zwei Gläser mit Griff an der Seite und Platz für acht Flaschen Bier einschließlich Kühlkörper beinhaltet. Ich denke, wir erwerben verschiedene gute Biere, die wir dann im Laufe des Abends bei einem guten, hochphilosophischem Gespräch und einer Partie Schach verkosten werden, denn den Billardtisch kann ich leider nicht mitnehmen.“
„Genauso machen wir das“, sagte Bertram und wir gingen ins Wohnzimmer, unsere Frauen von dem Vorhaben informieren.
Die Wunderbare Ulrike meinte nur, ich sollte vorher tanken, aber Gerda wollte alles ganz genau wissen, wo wir hin wollten, was wäre, wenn es regnen würde, ob wir sie nicht hätten eher fragen können, wenn wir unbedingt zelten wollten, könnten wir das ja auch hinten im Garten machen, und wir sollten man lieber in die Heide fahren und da wandern, das wäre doch viel schöner, und wir sollten ja den Müll ordentlich trennen und entsorgen, und so weiter.
Ich ging derweil wieder in den Billardsalon, baute die Kugeln auf und öffnete mir ein Bier. Als ich das Bier in ein Glas goss, kam Bertram wieder und wirkte etwas genervt.
„Geht klar“, murmelte er tonlos und griff sich auch ein Bier, „man, wir machen doch keine Expedition ins Amazonasgebiet! – Hier, das Amulett hat sie mir gegeben, es soll mich schützen und mir 'Happiness' bringen. Naja. – Holst du mich morgen um zehn ab?“
„Klar“, sagte ich und deutete auf den Billardtisch, „möchtest Du den Breake ausführen?“
Klar dass ich Bertram pünktlich abholte, nachdem ich die komplette Ausrüstung einschließlich gefülltem Wasserkanister und Köfferchen für das Bier eingeladen hatte.
Einige umweltfreundliche Jutesäcke hatte er noch mit und schmiss sie grimmigen Blickes nach hinten.
„Warme Pullover, ein Pyjama, entkoffeinierter Kaffee, gesunde Dinkelkekse … mein Gott, das macht mich krank, dieses Zeugsl“
Ich grinste und steuerte den nächsten Supermarkt an. Bertram war nicht mehr zu halten als wir ausstiegen und uns Einkaufswagen holten.
„Übernimmst Du das Bier, und ich die anderen Lebensmittel, ja? Wir treffen uns dann an der Kasse.“
Ich nickte, rollte das Getränkeregal an und traf dort die Auswahl, was das Bier betraf, so richtig niveauvoll vom Schwarzbier über dunkles bis hin zum Lager. Als ich mich an der Kasse anstellte, kam Bertram auch schon entlang und deutete etwas verschämt auf einen Karton Sahnetörtchen.
„Ich habe einen totalen Beat auf Sahnetörtchen, so richtig fies in Vollfettstufe und Schokolade drauf. Sag's bitte keinem weiter, weil richtige Männer essen keine Sahnetörtchen.“
„Ehrensache!“
Nach der Kasse luden wir ein und fuhren los.
„Hier“, sagte Bertram, kaum dass wir auf der Autobahn waren, „ich hab' drei Sorten Tabak besorgt: American Blend, halfzware Shag und einen schönen Schwarzen. Woraus soll ich dir eine drehen?“
„Halbschwarz bitte. Schwarzer ist für nach dem Essen und Blend so gegen Abend und am frühen Morgen. Aber entscheidend ist die jeweilige Gemütslage.“
„Yep! Genauso sehe ich das auch. – Magst du Eartha Kitt?“
„Klar. Hast du die mit? Dann rein damit!“
Bertram schob eine CD ein, lehnte sich zurück und begann Zigaretten zu drehen.
Die Musik passte zu unserer Stimmung; - ein wenig rau, ein wenig sentimental und ein wenig wie bei der Testamentseröffnung eines ziemlich unbekannten Verstorbenen.
Ungefähr eine CD-Länge und etliche Vegetarierwitze nach dem Motto: Wir sind im Grunde Vegetarier zweiter Ordnung. – Die Kühe fressen das Gras und wir essen anschließend die Kühe. Oder: Wie werden gepiercte Vegetarier beerdigt? – Gar nicht, die werden entweder verschrottet oder kompostiert!, später, die wir angesichts der Tatsache, dass Bertram Steaks gekauft hatte, rissen, verließen wir einvernehmlich und ohne Diskussionen die Autobahn, suchten noch schnell einen Fastfoodfreßplatz auf, um anständig zu frühstücken und fuhren sodann genau zwischen zwei Dörfern erst eine winzige Straße und sodann einen Waldweg entlang.
„Weißt du“, sagte Bertram, „eines Tages werde ich an eine Frittenbude gehen, mir Pommes, so richtig fett, und Currywurst einpacken lassen, eine Dose Cola dazu, und dann esse ich das alles während der Fahrt. Und dann“, Bertram zog die Unterlider in die Höhe, kniff den Mund zusammen und nickte ein paarmal, „knüll ich die Verpackungen zusammen und schmeiß' sie einfach aus dem Fenster!“
„Tja“, pflichtete ich ihm bei, „Wunschträume! – Aber sowas machen wir nicht, wir wollen’s ja nicht übertreiben! – Was hältst du von der Wiese dort, die, die sich idyllisch an den Waldrand schmiegt?“
„Sieht gut aus“, sagte Bertram, „schauen wir mal.“
Wir schauten.
Die Wiese war wirklich optimal, dicht am Waldrand – ohne ein Zäunchen – ein murmelndes Bächlein und weder von der Straße noch von einer menschlichen Behausung aus einzusehen.
„Hier stört uns niemand“, nickte Bertram, „packen wir aus.“
„Sag's nicht so laut“, grinste ich, „ein Erfahrungswert von mir ist: Wenn die Möglichkeit besteht, dass zwei Ereignisse eintreten können, stets das Schlimmere von beiden eintritt!“
„Ach, Du immer mit deinem Pessimismus! Alles nur eine Frage der Planung.“
„Wir wollten ja nichts planen, denn wenn man plant, muss das so getan werden, dass es der schlimmsten Form der Umstände widerstehen kann. – Aber wollen wir jetzt schon philosophieren oder die Ausrüstung auspacken?“
Bertram wollte jetzt auspacken und später philosophieren.
Wir nickten uns zu und zeigten uns die erhobenen Daumen.
Das war's. Kaffee kochen, inzwischen ausladen, bei der 'Musik für einen König' von Händel aufbauen, das Bierköfferchen in den kühlen Farn am Fuße einer Eiche legen und einige Sahnetörtchen zu uns nehmen, dazu richtigen, frischen Kaffee.
War schon schön, wenn auch etwas unmännlich, kaffeetrinkender und sahnetörtchenessender Weise unter einem Baum zu sitzen und an den Blättern vorbei in die Sonne zu blinzeln, dazu guten alten Rockabilly. Bertram hatte eine CD von Brian Setzer mitgebracht.
Wir spielten – als die Sahnetörtchen vertilgt waren – Schach bis sich die Sonne anschickte, den Horizont zu küssen, und da fiel uns auf, dass wir noch keinen Bierdurst entwickelt hatten, aber ein Köfferchen mit, welches dieses Nass in mannigfaltiger Auswahl beinhaltete.
„Und die Steaks sollten wir langsam mal zubereiten“, sagte Bertram.
„In der Tat“, antwortete ich, „aber vorher nehmen wir noch ein schönes Bier zu uns. Export? Pils? Lager? Schwarz? Stout? Porter? Bock?“
„Da geht mir ja richtig das Herz auf. Hast du auch ein Dunkles vorab?“
„Selbstverständlich – Aber ein Zigarettchen hätte gerne noch, gedreht aus schwarzem Tabak, dessen Rauch so richtig schön im Munde aufgeht. – Eigentlich müssten wir ja Pfeife rauchen, und englischen Tabak, aber leider haben wir sowas nicht mit.“
Bertram reichte mir den schwarzen Tabak, ich drehte und entzündete eine Zigarette, öffnete das Bierköfferchen, gab Bertram ein Glas und nahm mir auch eins. Bertram entzündete seine inzwischen gedrehte Zigarette und nahm genussvoll zurückgelehnt den ersten Zug.
„Dunkles meintest Du?“
„Genau“, sagte Bertram, „ist es denn auch gut temperiert?“
Die Flasche lag angenehm kühl in meiner Hand.
„Genau richtig.“
„Ausgezeichnet“, nickte Bertram, „haben wir denn auch Cool-Jazz mit?“
„Natürlich. Gerry Mulligan oder Miles Davis?“
„Gerry Mulligan! Und dann hätte ich gerne das dunkle, kühle Bier, und dann möchte ich gerne die Steaks zubereiten, so außen ein wenig knusperig und innen ein wenig blutig …“
Bertram bekam einen träumerischen Gesichtsausdruck, „weißt du, das kriege ich hin, wenn ich die Steaks in Butter schmore; - aber vorher muss etwas Olivenöl in die Pfanne, dann wird die Butter nicht schwarz.“
„Hört sich gut an. Ich bin gespannt!“
Ich legte die Gerry Mulligan-Kassette ein und den Öffner unter den Deckel der kühlen Bierflasche .
„Ein Zweiglein Thymian sollte noch dazu“, murmelte Bertram, „ich glaube, das Amulett bringt mir wirklich ‘Happiness‘ …“
„Sag‘ das nicht zu laut“, meinte ich, „eine meiner Lebenserfahrungen besagt, dass wenn alles zu gut geht, irgendeine Katastrophe eintreten wird …“
In diesem Moment kurvte ein Auto mit hochgetourtem Motor auf die Wiese und hielt neben uns.
„Verdammt“, keuchte Bertram, „das sind unsere Frauen! Wie haben die uns gefunden?“
Aus stiegen tatsächlich die Wunderbare Ulrike und Gerda sowie ihre Beagle-Dame 'Sally'.
„Wie“, fragte Bertram seine Frau während die Wunderbare Ulrike und ich uns erst mal in den Arm nahmen und das Begrüßungszeremoniell absolvierten, „habt ihr uns gefunden? Wir wussten doch selber nicht, dass wir an diesem Plätzchen hier kampieren würden.“
Gerda lächelte dünn und ließ ein Pendel von ihrem Zeigefinger pendeln.
„Ausgependelt“, sagte sie, „das Pendel hat mir den Weg zu euch gewiesen; - und du hast gelacht, als ich auf dem Seminar war! – Was ist das eigentlich für grauenhafte Musik? Wie könnt ihr sowas überhaupt ertragen? Glücklicherweise habe ich eine CD von Andrea Berg dabei, die lege ich euch gleich mal ein!“
„Lass bitte Gerry Mulligan“, sagte ich, „hören wir gerne. – Möchten die Damen ein Bier mittrinken?“
„Bier!“ sagte Gerda verächtlich und drehte solange wahllos an den Reglern des Recorders herum, bis die Musik verstummte, „und dann auch noch in Flaschen, von denen man nie weiß, ob die auch ordentlich sauber gemacht wurden! – Ich habe Wein mitgebracht, Biowein!“
Ihr Blick glitt auf den Sahnetörtchenkarton, „hab' ich's mir doch gedacht, dieses künstliche Zeugs verstopft bloß die Arterien! Habt Ihr die etwa gegessen?“
„Natürlich haben wir die gegessen“, sagte ich, „sogar mit Genuss und in Begleitung einer Kanne Kaffee. Wenn wir allerdings gewusst hätten, dass ihr uns besuchen kommt, hätten wir euch welche aufgehoben.“
„Nein danke! Du weißt genau, dass die ungesund sind! – Ulrike und ich waren vorhin auf dem Markt, wir kochen Euch jetzt eine gesunde Gemüsesuppe. Ihr könnt schon mal das Gemüse putzen.“
„Oh nein“, widersprach ich, „wir haben Steaks mit und waren gerade im Begriff, diese zuzubereiten.“
„Was? Rindfleisch? Ihr wollt wohl unbedingt BSE kriegen? Wo sind die?“
„In der Kühlbox“, sagte Bertram bevor ich es verhindern konnte und Gerda beeilte sich, die schönen Steaks an Sally zu verfüttern. Die freute sich natürlich und entfernte sich hoch erhobenen Hauptes und Schwanzes um diese in Ruhe achtungsvoll zu verzehren.
Ich hegte die Hoffnung, dass die 'Operation Gemüsesuppe' Mangels Topf fehlschlagen würde, aber leichtsinnigerweise hatte Bertram gestrigen Tages erwähnt, dass meine transportable Küche keinen Topf und keine Suppenteller beinhaltete. Gerda bezeichnete meine Küche, dieses Wunderwerk ästhetischer, logistischer und funktionaler Küchentechnologie, schlichtweg als 'unvollständig' und präsentierte einen üblen Aluminiumtopf sowie ausgesprochen widerliche Plastikteller, Gläser und Löffel.
„So, dann können wir also“, fuhr Gerda gnadenlos fort während sie Bertram einiges Grünzeugs auf den Schoß warf, und an mich gewandt: „Du kannst schon mal Kartoffeln schälen“
„Ich werde einen verdammten Scheißdreck tun“, sagte ich, „ich mag keine Kartoffeln und werde auch keine schälen!“
Bertram warf mir einen flehenden Blick zu, aber es war zu spät, Gerda lief zu ihrer Hochform auf, rügte zunächst erbarmungslos meine Umgangsformen sowie mein Vokabular und hielt dann gnadenlos und feinfühlig wie eine Planierraupe einen Vortrag über den Vitamingehalt, die positiven Schwingungen und die Lichtkräfte der Kartoffeln im allgemeinen und im Besonderen der von ihr ausgependelten und mitgebrachten biologisch-dynamischen Biokartoffeln.
Als Fehler erwies sich, dass ich die Frage aufwarf, wie Kartoffeln, die bekanntlich unterirdisch heranreifen, 'Lichtkräfte' zu entwickeln in der Lage sind.
Bertram ließ resigniert Kopf und Schultern sinken, beugte sich über das ihm zugeworfene Gemüse und begann lustlos zu schnibbeln. Wunderbare Ulrike raunte mir zu, dass sie das nicht hatte ahnen können, denn Gerda ging ab wie eine Rakete von Cape Kanaveral.
Während des folgenden erbarmungslos vorgetragen Vortrages über die Lichtkräfte der Kartoffel reifte in mir ein tiefes Verständnis für alle die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, irgendwann mal vor irgendetwas kapituliert hatten um den bereits angerichteten Schaden an Physis und Psyche nicht zu vergrößern.
„Weißt du“, sagte Bertram zu mir, als wir uns – nach der faden Suppe und dem sauren Biowein – zufällig an einem Baum trafen, „mit einer bestimmten Spezies Frauen – zu der leider auch Gerda gehört – kann man nur vernünftig reden, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.“
„Sind sie es, da Gerda ihren Willen gekriegt hat'?“ fragte ich.
„Noch lange nicht! Aber was das Schlimmste ist: Sie will das Zelt aufgebaut haben! Jetzt, wo es dunkel ist.“
„Dann bauen wir das eben auf, sozusagen teamworkmäßig, damit niemand niemandem einzelnen die Schuld geben kann, wenn es nicht klappt.“
Gerda wollte natürlich mithelfen, nachdem Bertram einen Haufen Stangen, Zeltbahnen, Verbindungsstücke, Häringe und vorerst undefinierbare Teile aus dem Wagen gezogen und auf dem Boden ausgebreitet hatte; - allerdings nur mit guten Ratschlägen nach dem Motto: „Ihr müsst euch nur vorstellen, eins zu werden mit dem Zelt, das ihr aufbauen wollt.“
„Du meinst also“, versuchte ich die Aussage etwas zu präzisieren, „wir sollen mit dem System Zelt zu einem komplexen System zusammenwachsen?“
„Genau“, sagte Gerda, „ihr müsst das philosophisch angehen.“
Na, gut, wir gingen den Zeltaufbau philosophisch an, bevor Gerda jedoch zu einem erneuten Vortrag ansetzen konnte, gelangten wir zu der Erkenntnis, dass ein erdachtes komplexes System nicht funktioniert und auch nicht nachträglich so zusammengebaut werden kann, dass es funktioniert. Wir versuchten es erneut, gingen jedoch gedanklich von einem funktionierendem einfachen System aus.
Gerda holte ihr Pendel und versuchte es auf ihre Weise.
Was herauskam, war die Erkenntnis, dass komplexe Systeme dazu neigen, ihre eigene Funktion zu behindern, und dass sich Menschen im System nicht so verhalten, wie es das System verlangt, dass sie sich verhalten sollen.
„Tja“, philosophierte ich, als wir eine Weile später vor den ausgebreiteten Rudimenten des Zeltes saßen und trotz Gerdas Gesundheitsratschläge eine aus schwarzem Tabak gedrehte Zigarette rauchten, „komplexe Systeme neigen dazu, ihre eigene Funktion zu behindern.“
Gerda verstand das nicht, teilte jedoch mit uns die Meinung, dass dieses Zelt beseelt sein müsse; - nicht aber die Ansicht, dass besagtes Zelt nichts anderes im Sinn hat, als den größtmöglichen Schaden an Physis und Psyche desjenigen anzurichten, der versucht, es derart in Betrieb zu nehmen, wie es das Zelt von sich behauptete, dass es von Menschen in Betrieb genommen werden kann; - und das Zelt ging davon aus, dass der Mensch das einzige Geschöpf ist, das in der Lage ist, sich zu irren.
Gerda konnte diese Behauptung im philosophischen Sinne nicht widerlegen, musste zu ihren Notfalltropfen greifen und Bertram erinnerte sie an ihre tägliche Yogaübung, was Gerda die Möglichkeit gab, sich von uns ab und unter einen Baum zu setzen.
Wir rauchten auf, stellten fest, dass Teile beim Probeaufbau nur zusammenpassen, um im praktischen Einsatz nicht mehr zusammenzupassen, und erzählten dem Zelt, dass es sich jetzt nur um einen Probeaufbau handeln würde.
„Jetzt gehen wir ingenieurmäßig vor“, sagte Bertram: „wenn etwas schwer geht, wende Gewalt an, wenn es kaputt geht, hätte es sowieso erneuert werden müssen!“
„Genau!“, nickte ich, mich meiner Zeit als Konstrukteur erinnernd, „mach's etwas größer und hau' solange drauf bis es passt!“
„Mit anderen Worten“, sagte Bertram, „wir bauen's einfach auf.“
Das taten wir auch, zehn Minuten später stand das Zelt und wir rauchten wieder eine Zigarette; - diesmal aus hellem Tabak.
„War eigentlich gar nicht so schlimm“, sagte Bertram, „schlimm war nur, dass Gerda uns heimgesucht hat. Damit ist der Abend leider hin. Wollen wir's am nächsten Wochenende nochmal versuchen, und uns besser verstecken?“
„Wir sollten es nicht als 'schlimm' betrachten, „antwortete ich, „denn wenn etwas wirklich schlimm gewesen ist, wird es nochmal passieren; - allerdings noch schlimmer!“
„Hm“, Bertram spielte nachdenklich mit seinem Amulett, „und das sollte mich schützen und mir 'Happiness' bringen …“
Gerda kam wieder bevor ich eine weitere philosophische Weisheit anbringen konnte und beanstandete eine Falte an einer Zeltwand.
„Weisheit“, sagte ich zur praktischen Philosophie zurückkehrend, „ist die Fähigkeit, im entscheidenden Moment auf Perfektion zu verzichten.“
Die Wunderbare Ulrike hatte derweil mit Sally einen ausgiebigen Abendspaziergang absolviert, zahlreiche Stöckchen geworfen, die Sally schwanzwedelnd wieder angebracht hatte, unser Nachtlager ein Stück vom Zelt weg unter einer Birke gerichtet und uns in perfektem Timing einen Cappuccino zubereitet.
Die Nacht war mondlichtdurchflutet, die Wunderbare Ulrike, Sally und ich verbrachten sie unter dem Sternenzelt. Den Beiden im Leinwandzelt entging die Sternschnuppe, die gegen Mitternacht durchs Firmament glitt; - nur den Augenblick lang, den wir benötigten, einen Wunsch zu formulieren um dann in der Atmosphäre zu verglühen, die jegliche Kreatur auf der Erde zum Leben benötigt.

Da Gerda am Vorabend nahezu den gesamten Inhalt der Gaskartusche des Kochers für ihre schlecht schmeckende Suppe verbraucht hatte, reichte es gerade noch für die Zubereitung von Ham and Eggs. An Kaffee war nicht zu denken, was von Gerda begrüßt wurde.
Glücklicherweise erinnerte sich die Wunderbare Ulrike eines Bauernhofes in der Nähe und Gerda machte sich auf, frische Milch zu besorgen. Wir konnten also in Ruhe frühstücken und erwähnten, dass wir diese Aktion, wie geplant am nächsten Wochenende zu wiederholen beabsichtigten. Die Wunderbare Ulrike fand das in Ordnung, „macht ihr man euren Männerabend. Wir werden Euch nicht wieder … äh … heimsuchen.“
Als Gerda wieder zu uns stieß, drängte sie uns Unmengen Milch auf, die wir auch zu uns nahmen, bevor sie wieder einen ihrer nicht zu stoppenden Vorträge abließ.
Obwohl alle mithalfen, benötigten wir übermäßig viel Zeit zur Reinigung des Topfes und dem Abbau des Zeltes, obwohl es sich immer bestätigt hat, dass das, was aus zwei oder mehr Teilen zusammengebaut worden ist, früher oder später von selbst auseinander fällt.
Als wir dann recht heiteren Gemüts aufbrechen wollten, nachdem die Ausrüstung wieder verstaut war und Gerda den Müll eingesammelt und getrennt hatte, um das Hubschraubermuseum zu besichtigen, fiel ihr plötzlich ein, dass in der Nähe ein Jagdschloss lag, was sie schon immer mal besichtigen wollte, und da sollten wunderschöne Gemälde sein, und das wollten wir lieber anschauen, als die ollen Hubschrauber, von wegen Kunst und Kultur und so.
Um nervtötende Diskussionen zu vermeiden und angesichts der Tatsache, dass wir das Hubschraubermuseum am nächsten Wochenende ungestört besichtigen können würden, nickte ich Bertram zuliebe mit dem Kopf.
Es wurde eine elende Fahrerei bis wir das Jagdschloss endlich gefunden hatten. Gerda gelang es irgendjemanden zu bequatschen, dass wir uns einer Besichtigungsgruppe anschließen durften und erwartete Begeisterung über die Bilder.
Diese stellten Jagdszenen dar, in denen hochherrschaftliche Jäger fröhlich über tote und verreckende Rehe galoppierten, sowie Schlachtszenen in denen hochdekorierte Feldherren stoischen Blickes beobachteten, wie sich Menschen auf ihren Befehl hin gegenseitig umbrachten.
Der Wunderbaren Ulrike und mir wurde leicht übel ob dieser Fülle an Kulturgut und wir setzten unter den missbilligenden Blicken des Führers und Gerdas demonstrativ ab um im Park ein wenig mit Sally lustzuwandeln.
Als Gerda uns bei ihrer Rückkehr maßregeln wollte, von wegen Kulturbanausen, verabschiedeten wir uns, ich erinnerte Bertram nochmal an unser Vorhaben am nächsten Wochenende, und die Wunderbare Ulrike und ich fuhren erst irgendwo Eis essen und dann nach Hause. Ich brachte die Küche und High-Tech-Kiste wieder in den Keller und stellte das Bier in den Kühlschrank. Anschließen setzte ich mich mit der Wunderbaren Ulrike an die ScheinBAR und wir nahmen genussvoll einen ‚‘Life‘ Railway to Heaven‘ zu uns.

Am nächsten Sonnabend brachte ich die Ausrüstung wieder ins Auto und war gerade dabei, das gut gekühlte Bier in den Koffer zu legen, als Bertram anrief.
„Ich wollte nur nochmal ganz sicher gehen, dass du mich nicht vergessen hast“, sagte er, „sonst alles klar?“
„Natürlich, ich pack' gerade das Bier ein. In zehn Minuten bin ich bei dir.“
„Klasse! Dann also bis gleich.“
„Bis gleich. - Äh, Bertram? Mir ist noch was eingefallen. Hast Du das Amulett noch?“
„Klar, da achtet Gerda schon drauf.“
„Lass es bitte unauffällig zuhause.“
„Wenn du meinst. – Also bis gleich.“
Ich gab der Wunderbaren Ulrike noch einen Kuss und beeilte mich zu Bertram zu kommen. Der stand schon in den Startlöchern und wir sausten los zum Supermarkt. Bertram besorgte Steaks und Sahnetörtchen, ich eine neue Gaskartusche für den Kocher.
Das war's.
Frühstücken und wieder auf den Platz von letzter Woche; - niemand würde uns dort vermuten. Kaffee ansetzen, aufbauen, Kaffee und Sahnetörtchen.
Schön war's.
„Warum“, fragte Bertram nachdem die Sahnetörtchen vertilgt und die Schachfiguren aufgebaut waren, „sollte ich das Amulett zuhause lassen?“
„Nun“, griff ich philosophisches Gedankengut wieder auf, „du weißt doch, dass jede einigermaßen fortschrittliche Technik an Magie grenzt. Pendeln – Gerda fand uns letzte Woche mit ihrem Pendel – beinhaltet eine gewisse magische Komponente. Dieses lässt den Umkehrschluss zu, dass jede Magie an einigermaßen fortschrittliche Technik grenzt.“
Bertram sah mich fragend an.
„Aus technischer Sicht gesehen“, fuhr ich fort, „ist Metall leichter zu orten als eine organische Substanz! Du, da liegt die Vermutung nahe, dass Gerdas Pendel nicht auf Dich sondern auf das Amulett reagiert hat.
„Na“, sagte Bertram zweifelnd, „da möchte ich aber einen drauf trinken. Vorige Woche waren wir beim Dunklen Bier stehen geblieben.“
„Oh Scheiße!“
„Was ist?“ fragte Bertram, „da ist doch was dran, an der Sache mit der Magie. Jedenfalls kann niemand das Gegenteil beweisen.“
„Das meine ich nicht. - Mir fällt nur eben mit erschreckender Deutlichkeit ein, dass ich das Bier vergessen habe.“
„Was sagtest du letzte Woche? Wenn etwas schlimm gewesen ist, wird es nochmal passieren! – Dass du das Bier vergessen hast, ist schlimmer.“
„Stimmt“, nickte ich zerknirscht.
Bevor ich mich jedoch in Sack und Asche kleiden konnte, kurvte wieder ein Auto auf die Wiese. Aus stieg diesmal nur die Wunderbare Ulrike, sie hatte das Bierköfferchen mit.
„Hier“, sagte sie nach der Begrüßung, „haste vergessen! Ich kann euch Männer doch nicht ohne Bier campen lassen! – Das geht ja überhaupt nicht.“
„Wie hast du uns gefunden?“ fragte ich in doppeltem Sinne erstaunt.
„Ich bin meiner Intuition gefolgt“, sagte die Wunderbare Ulrike, „übrigens: Gerda hat mich vorhin ganz verzweifelt angerufen, ihr Pendel behauptet nämlich, ihr wärt gar nicht losgefahren …“



Für den geneigten Leser, den die Cocktails interessieren, die in dieser wahren Geschichte vorkommen:

Dream of Loie Fuller
1 Tropfen Granatapfelsirup
2 cl Wermut
4 cl Eierlikör
Auffüllen mit Zitronenlimonade
Eis
Deco Cocktailkirsche

Fledermaus im Wacholderhain
1 Tropfen Granatapfelsirup
6 cl Dry Gin
8 Tropfen Angostura
Eis
Auffüllen mit Sekt
Deco Cocktailkirsche

Life’s Railway to Heaven
4 cl Ramazzotti
4 cl Wermut
2 cl Gin
8 cl Granatapfelsaft
Eis
Deco Cocktailkirsche
 
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