Ausschnitt aus einer etwas längeren Erzählung

Tim Weber

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In der Traumphase des Schlafes, kurz vor dem Erwachen, bewegen sich die Augen. Es heißt, sie wandern dem Traum nach, bewegen sich innerhalb der geträumten Bilder, deren Eindringlichsten unter ihnen kurz nach dem Erwachen manchmal noch gegenwärtig sind, so als wären es keine Traumbilder. Bilder, welche sowohl von der Konzeption des Auges als auch von der Physiognomie des ruhenden Körpers unabhängig scheinen. Die Frage, die ich mir hierzu immer gestellt habe: Wo ist es?

Wo wandern die Augen hin? Zumal sich die Bilder im Traum so plastisch offenbaren, ganz real erscheinen, im Gegensatz zu den Gedanken. Wo also ist dieser Ort? Wo ist der Ort der Traumbilder, und wo der Ort der Gedanken? Wo befindet es sich? Und handelt es sich überhaupt um Bilder? Was ist ein Gedankenbild im Wachzustand? Was eine bildhafte Visualisierung in meinem Kopf? Was glaube ich zu sehen, wenn ich mir beispielsweise einen Person vorstelle? Was versteht man darunter, wenn jemand sagt: „Ich stelle mir etwas vor?“ Und warum empfindet niemand Skrupel angesichts der Behauptung, dass sich der Gedanke im Kopf befindet?

Es gibt schließlich drei Arten des Sehens. Mit offenen Augen, mit geschlossenen, und die wohl am wenigsten zugängliche, sich am wenigsten für den Betrachter als Wahrnehmung zeigen wollende, so dass von der Manifestierung eines Gesehenen es sich gar nicht mehr angemessen sprechen lässt, der Versuch des Ansehens der eigenen Gedanken. Was gibt es dort? In dieser mehr als nur unzulänglich einsehbaren Welt? Was zeichnet sich dort ab? Sind es abstrakte Verschlüsselungen, oder tatsächlich bildhafte Fragmente? Ist es hervorholbar? Lässt es sich hinüberziehen? In das real Sinnliche?

Manchmal, wenn ich mich konzentriere - aber vielleicht bildete ich mir das nur ein -, glaube ich bei geschlossenen Augen zu erkennen, wie sich meine Gedanken ins Zugängliche des Sehfeldes meiner Augen hinüberleiten lassen. Also an Plastizität annehmen, wie sich der reine Gedanke sonst doch niemals zu offenbaren gibt. Ich sehe dann Schatten. Und auch Punkte und Linien und Lichter sehe ich. Es formt sich etwas aus ihnen, verteilt sich, verschwimmt dann wieder, und sticht unerwartet aus dem Nichts deutlich wieder hervor. Aber sind das die Gedanken? Sind das schon Bilder? Und wenn mir danach ist, ich mich diesen Betrachtungen besonders zugänglich fühle, schließe ich manchmal die Augen, bedecke sie mit einer meiner Handflächen und versuche mir zu vergegenwärtigen, was ich vor mir habe, was nun sehe, vielleicht auch nur glaube zu sehen, vielleicht aber auch nur denke, da ich es dem Grunde nach gar nicht sehen kann. Es erregt mich dann sehr. Irritiert mich sogar, da es sich verhält wie mit einer Überlagerung. Denn ich spüre nun Beides. Glaube Beides vor mir zu haben. Wo immer dieses „haben“, dieses „vor mir haben“ auch sein mag. Ja ich bilde mir dann ein, den schattierten Umrisse meiner Hand simultan beim Vollzug meiner Gedanken zuzusehen. Aber vielleicht ist es ja keine Einbildung. Vielleicht verhält es sich genau so. Und je länger ich mich darauf einlasse, will es mir vorkommen, als sei dieses Phänomen, dieses Phänomen der Betrachtung der Hand vor den geschlossenen Augen, vielleicht eines der Letzten welches sich sperrt, sich entziehen will dem Wissenshort der reine Begrifflichkeiten, der bloßen Körperbetrachtungen, dem aufgeklärten Verstand und seiner kategorisierenden Modulfunktionen.

Ich bin nicht verrückt. Nein, das bin ich nicht. Ich bin nur eine Frau in den Fünfzigern, deren Lebensumstände sie hierher verschlagen haben. Daher kann ich auch sagen, dass es so ist. Und zwar von allen Umständen frei. Das Verlangen danach spüre ich ganz deutlich. Es handelt sich um mehr als nur ein verschrobenes Bild, bzw. toxischer Gedanke in einem fehlerhaft arbeitenden Hirn. Manchmal denke ich, es ist das einzig Vernünftige sich zu fragen, wo der Ort der Gedanken ist. Denn was ließe sich aus der bloßen Messung von Hirnströmen schon schließen, oder aber aus der Visualisierung des Blutflusses im Kernspintomographen, wenn man sich nicht einmal sicher ist, ob es sich bei den Gedanken um Bilder handelt, und falls ja, wo sie sich befinden? Und selbst wenn ich von dem Bildhaften mal ganz ablasse, mich nur auf reine Begrifflichkeiten konzentriere, so ist es doch nicht von der Hand zu weisen, dass es keinerlei Mehrgewinn bietet, beispielshalber die Triebkraft des Verlangens durch Verortung gesteigerter Aktivitäten in Arealen und Subarealen des Hirnes erklären zu wollen. Zumindest solange nicht, wie es bei einer bloßen Verortung bleibt. Ja, Zuordnung von Handlungsschemata zu neuronalen Aktivitäten. Manche tun gerade so, als hätte man damit etwas verstanden. Als sei man mit der Messung von Strömen auch nur ein Deut weiter. Dennoch brüsten sich alle mit diesem Wissen.

Aber genug nun davon. Ich denke, ich sollte doch noch einmal aufstehen, meine philosophische Abendstunde noch einmal verlassen. Seltsam ist es allerdings, wie ich in meinem Zustand überhaupt noch in der Lage war dort hinzukommen. Denn nachdem ich die Zimmertür von innen verriegelt hatte, legte ich mich zunächst auf mein Bett, schaltete dann den Fernseher an und ließ mich vom Lifestyle berieseln. Schaltete ihn nach einer Weile allerdings wieder aus und verfolgte stattdessen lieber, wie die Kanten und Ecken meiner Schlafzimmerwände mit der anbrechenden Dämmerung allmählich verschwanden. Ja, der abendliche Spaziergang hatte mir gut getan. Es war ein schönes Gefühl gewesen einfach nur dazuliegen, so entspannt und ausgepowert, und den Muskeln bei ihrer als angenehm empfundenen Regeneration achtsam beizuwohnen. Ich hatte nicht einmal darauf geachtet mich für die bevorstehende Nacht zu entkleiden. Lag immer noch in Jeans und Pullover. Gewiss, ich könnte nun so einschlafen. Oder mich noch einmal aufraffen. Zähneputzen, noch kurz zur Toilette und dann umziehen für die Nacht. Danach vielleicht noch eine Zigarette bei geöffnetem Fenster. Dabei allerdings Gefahr laufen wieder komplett wach zu werden und diesen himmlischen Zustand meines ermatteten Liegens wieder zu verlassen, der doch ohne Zweifel in einen erholsamen Schlaf übergehen müsste. Andererseits, falls ich in der Nacht aufwachen würde, und das würde ich, denn das ließ sich in Jeans und Pullunder liegend vorhersehen, würde der ungewohnte Zustand irgendwie zerfahren auf mich wirken und letztlich dazu führen, mich im Halbschlaf meiner Kleider zu entledigen.

Es war dann aber die Aussicht auf eine Zigarette, die mich veranlasste noch einmal aufzustehen. Ich schloss also die verriegelte Schlafzimmertür wieder auf, und ging durch den mittlerweile im Dunkeln gelegenen Korridor auf den rötlich schimmernden Schalter an seinem rechten Ende zu. Versuchte dabei meinen Körper im Zustand seiner schon angenommenen Müdigkeit möglichst zu belassen, hörte also nur apathisch dem schlürfenden Klappern meiner Badelatschen zu, welches ich aufgrund meines zum Widerhall neigenden Flures wie üblich schon nicht mehr als zu lokalisierendes Geräusch vernahm. Als ich dann den Waschraum betrat und das Licht anknipste, fiel mir trotz meiner Apathie im Fenster etwas auf, was sich im Zuge der Gewöhnung meiner Augen an das Licht, und das sich damit einstellende Bild meines gespiegelten Waschraums in der Fensterscheibe, jedoch recht zügig zum nächtlichen Trugbild klärte. Ich ging zum Waschbecken, drückte einen Streifen Zahnpasta auf die Bürste und stellte mich dann vor das Fenster.

In dieser Position stand ich abends schon oft und schaute mir beim Zähneputzen zu. Vor allem an den Wochenenden, wenn zur Verrichtung der abendlichen Toilette zwar genauso viel Zeit blieb wie unter der Woche, aber die Gedanken nicht mehr um den bevorstehenden Tag und seine anfallenden Probleme kreisten. Tagsüber hatte man von hier oben aus eine gute Aussicht, konnte den Blick schweifen lassen, von den weiter südlich gelegenen Einfamilienhäusern über die Holzgiebeldächer der zentraler gelegenen Höfe, bis hin zu den Nordmannstannen und ihrer angrenzenden Felder. Eigentlich ja eine schöne Wohngegend, dachte ich mir schon des Öfteren, wenn nicht im unmittelbaren Zentrum über Allem die unangefochtene Turmherrschaft jenes Ungetüms ragen würde. In einer der oberen Etagen einer seiner Trakte befand ich mich.

Vor gut einem Jahr war mein Nachbar verstorben, mit dem ich mich noch verständigen konnte, seither fühlte ich mich isoliert. Doch im Grunde genommen darf ich nicht klagen, hatte ich doch bis vor kurzem das Leben geführt, was ich mir immer erträumt hatte. Nach dem Studium hatte ich zunächst eine Stelle bei einer Consulting Firma angenommen. Nach ein paar Jahren wechselte ich dann zu einem Klienten, einem Dax Unternehmen, und hatte es dort bis zur Account Managerin geschafft. Ich liebte meine Unabhängigkeit, liebte das großstädtische Leben, glaubte mich im Beruf verwirklichen zu können, wie so viele junge Frauen meiner Generation. Ich stand also mit meinem Lebensentwurf im Zentrum des gesellschaftlichen Leitbildes. Aber ich war auch kinderlos geblieben, wie so viele meiner Generation. Und nun war ich hier, stand vor dem Badezimmerfenster in meiner Sozialwohnung und in mir verhärtete sich der Gedanke, dass meine Namenslinie mit mir wohl enden würde. Sie ging einfach zu Ende, auf natürliche Weise, ganz unprätentiös, weil man nun mal das Leben geführt hatte, was man geführt hatte. Ein Leben, das nach allen ideologischen und wirtschaftlichen Thesen meiner Zeit zufolge, doch zu einem besseren Dasein hätte führen müssen. Nicht nur für mich. Doch dass alles nun so schnell ging?

Ich ging zum Lichtschalter an der Tür und knipste ihn aus, stellte mich dann wieder vor das Fenster. Mein gespiegeltes Bad war mit mir nun verschwunden, stattdessen breitete sich mein Panoramaanblick vor mir aus. In der Abendstimmung stachen die Ausmaße im Kontrast zur Umgebung jetzt sehr schön und deutlich hervor. Gedanklich in eine verwandtschaftliche Nähe an jene mittelalterlichen Bilder gerückt, bei denen offen zutage tritt, dass der richtige Umgang mit der darstellenden Perspektive noch nicht beherrscht wurde, schien nur wenig Platz, beließ das Ungetüm im Zentrum, in dessen Trakt mit der Nummer 7 ich wohnte, den umstehenden Einfamilienhäuser nur noch den Sinn einer dekorativen Staffage. Phantasievoll ließe es sich sagen: Aus dem Fenster von hier oben glich mein abendliches Wandern durch die Siedlungen und Betonschluchten mit meinen Augen der Besichtigung einer archäologischen Ausgrabungsstädte. Einer Städte, deren Abtragung schon weit vorangeschritten war. Schicht für Schicht war man in einer Art zeitlichen Bereinigung durch das verdichtete Sedimentes nach unten gedrungen. In der Querschnittsansicht folgte einer Siedlungslandschaft schon nach wenigen Metern eine städtische Großkultur. Über Äonen komprimiert und zusammengepresst, durch Menschenhand wieder mühsam ans Tageslicht befördert, lösten handwerkliche Holzhütten mit Feuerstellen stabile Mauern und Paläste ab, ohne dass auch nur eine Fuge dazwischen passte. Nur, dass die Reihenfolge störte, hier in gewissem Sinne umgekehrt sein sollte. Der Palast, der Sozialbau, lag räumlich betrachtet zwar über der Siedlung, und war es auch zeitgeschichtlich gesehen. Aber von innen heraus, von der kulturlandschaftlichen Perspektive meines Fensters aus, war er die tiefere Schicht.
 



 
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