Außenseiter

Die Fledermaus
Copyright by Stefan Seifert

Tatjana blickte mit weit geöffneten Augen zum nächtlichen Himmel empor. Irgendwo dort oben lauerte ein großes schwarzes Loch und drohte alles zu verschlingen, den ganzen Kosmos, nach und nach. Irgendwann einmal würde es auch sie verschlingen, es war nur eine Frage der Zeit. Tatjana hatte diese Bedrohung schon lange gespürt, schon als Kind. Sie glaubte, daß alles, was existierte, in dieses Loch hineingesogen wurde. Daß auch sie selber einmal darin verschwinden würde. Aber außer ihr schien das niemanden zu beunruhigen.
Als Kind hatte sie in ihren häufigen Alpträumen im schlimmsten Augenblick, wenn der Schrecken seinen Höhepunkt erreichte, immer laut geschrien und sich kopfüber in einen Abgrund gestürzt, weil sie wußte, daß sie dann erwachte. Aber irgendwann gab es kein Erwachen mehr, dann stürzte man wirklich ins Bodenlose, ins Nichts, in das schwarze Loch. Mit einem Schrei, der immer mehr anschwoll, bis er das ganze Universum erfüllte.
Was mit ihr in dem Loch passieren würde, versuchte sie sich gar nicht erst vorzustellen.
Die Sterne verblaßten und der Himmel wurde fahl vom heraufdämmernden Morgen. Tatjana gähnte und beschloß, schlafen zu gehen.
Zum erstenmal erwachte sie gegen zwei Uhr. Wie immer war sie zunächst entschlossen, die Realität nicht zu akzeptieren. Sich nicht von den sogenannten Tatsachen manipulieren zu lassen. Sie schlief wieder ein, und als sie erneut die Augen aufschlug, war es vier Uhr nachmittags. Das war eigentlich immer noch kein vernünftiger Grund, um aufzustehen. Sie blieb liegen und döste ein wenig vor sich hin. Sie versuchte sich vorzustellen, was der Tag bringen würde, aber es stellten sich keine Bilder ein. Nur Nebelschwaden waberten vor ihrem inneren Auge. Sie beschloß, schnell in die Küche zu huschen, sich Tee zu brühen und mit dem Tee auf einem Tablett wieder ins Bett zu schlüpfen. Das schien ihr ein gelungener Tagesauftakt zu sein. Man zollte dem Leben seinen Tribut, aber man blieb innerhalb gewisser Grenzen, in seinem eigenen Reich.
Auf leisen Sohlen schlich sie in die Küche. Draußen schien keine Sonne, der Himmel war bewölkt. Gut so. Sie haßte Sonnenschein und schönes Wetter. Überhaupt wurde die Welt eigentlich erst mit Beginn der Dunkelheit erträglich. Sie setzte den Wasserkessel aufs Gas und schüttete Teeblätter in eine Kanne, bis sie etwa zur Hälfte gefüllt war. Dann wartete sie, bis das Wasser kochte und schüttete es auf den Tee. Sie gab sieben Stück Zucker hinzu, zögerte kurz, gab noch ein achtes Stück hinein und rührte das Gebräu um. Sie stellte die Kanne und eine Tasse auf ein Tablett und ging damit wieder zurück ins Bett. Sie wartete etwas, dann goß sie die dunkelbraune Flüssigkeit, die mehr wie Kaffee als wie Tee aussah, in die Tasse.
Der erste Schluck durchfuhr sie wie ein elektrischer Stromstoß. Mit dem zweiten und dritten Schluck begann sich ein wohliges Gefühl in ihr auszubreiten. Das Leben war nicht mehr ihr Feind. Nicht mehr ganz und gar. Nach dem vierten Schluck fühlte sie sich stark genug, die erste Zigarette anzuzünden.
Tatjana hieß eigentlich Kriemhild Beffchen. In der Schule hatte man ihr wegen ihres exzessiven Teegenusses den Spitznamen „Tatjana Samowar“ gegeben und seitdem wurde sie von jedermann nur Tatjana genannt. Ihr Name war eines jener Dinge, die sie ihrer Mutter ernstlich verübelte. Das Hauptübel war natürlich, daß sie sie überhaupt geboren hatte. Ihre Mutter war eine dicke, laute und einfältige Frau, die den überwiegenden Teil ihres Lebens vor dem Fernseher oder beim Putzen ihrer lächerlich spießigen Wohnung zubrachte und mit einem unscheinbaren, dünnen Mann verheiratet war, den sie „Mann“ nannte und im übrigen kaum zur Kenntnis nahm. Sie hatte auch einen Hund, den sie „Hund“ nannte und der nur dazu diente, daß sie ihren Mann mit ihm hinaus schicken konnte.
„Mann, der Hund muß raus“, war ein stereotyp wiederkehrender Satz, worauf sich der Hund erhob und zur Tür ging, wo er auf den Mann wartete. Sie hätte ebenso gut auch sagen können: „Hund, der Mann muß raus.“
Bevor Tatjana vor einigen Jahren von zuhause weggezogen war, hatte sie ständig darüber nachgegrübelt, warum Gott sie als Kind dieser Menschen in die Welt gesetzt hatte und ob sie nicht vielleicht in Wirklichkeit ein Findelkind sei oder in der Klinik vertauscht worden war. Der Gedanke, daß der Balg dieser Frau jetzt bei ihren wirklichen Eltern aufwuchs, bei sympathischen, kultivierten und intelligenten Menschen, während sie in diesem Loch bei diesen Halbimbezilen vegetierte, machte sie ganz krank. Seit sie alleine wohnte, hatte sie dieses Problem beiseite geschoben als eines der Rätsel, die sie wohl nie lösen würde und über die nachzudenken nicht lohnte.
Es klingelte kurz zweimal hintereinander. Das war Julius. Sie ging zur Tür und öffnete ihm. Julius war Tatjanas Freund. Er war groß und massig, mit einer dicken Brille. Er war älter als Tatjana und Rentner, wegen seines Asthmas. Er stellte eine Tasche mit Einkäufen auf den Küchentisch und begann auszupacken: Brot, Milch, Tee, Margarine, Kerzen, Wurst. Tatjana ging in den Vorraum, wo eine Suppenterrine auf einem Buffet stand. Die Suppenterrine stammte von ihrer Mutter. Sie nahm sie und trug sie in die Küche, wo sie den Deckel abnahm und die Terrine auf den Tisch ausleerte. Es fielen mehrere Geldscheine und Münzen heraus. Sie gab Julius einen Schein, den er nahm, nachdem er sich etwas geziert hatte. Dann steckte sie das übrige Geld in eine Geldbörse und stellte die Suppenterrine wieder auf ihren Platz im Vorraum.
Tatjana verlangte kein Geld für ihre Sitzungen, doch stand es jedem Besucher frei, einen der Bedeutung seines Anliegens angemessenen Betrag in die Suppenterrine zu stecken, um die astralen Mächte günstig zu stimmen. Die Suppenterrine war legendär, man sagte, darin würde die Suppe des Schicksals gebraut.
Tatjana hatte nie annonciert oder offizielle Sprechstunden eingeführt. Einer sagte es dem anderen. Zuerst waren Nachbarn gekommen, Freunde und Bekannte. Es sprach sich schnell herum, daß sie über besondere Fähigkeiten verfügte. Wenn man sie direkt fragte, ob sie das zweite Gesicht hätte oder die Gabe des Hellsehens, lachte sie in sich hinein und schüttelte den Kopf. Sie hatte eine besondere Empfänglichkeit für die Ausstrahlung von Menschen und Gegenständen. Und wenn sie die Augen schloß, sah sie Bilder. Manchmal standen sie in einem direkten Zusammenhang mit einer bestimmten Person oder einem Gegenstand und manchmal nicht. Oft war es schwierig, ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Manche Menschen oder Dinge sagten ihr gar nichts, dann erzählte sie den Leuten irgendetwas, was ihr gerade einfiel.
Die Mehrzahl ihrer Besucher kannte Tatjana persönlich und sie kamen regelmäßig zu ihr, so, wie man zu einem Therapeuten geht oder zu einer guten Freundin. Sie wollten einfach mit jemandem über ihre Sorgen und Probleme reden. Meist legte Tatjana ihnen die Karten oder blickte in eine Kristallkugel. Die Kristallkugel hatte sie in einer Esoterikhandlung gekauft und sie hatte noch nie etwas in ihr gesehen, aber sie half ihr, sich zu entspannen und sich innerlich zu öffnen. Sie sah dann wirklich irgendwelche Dinge, aber dazu mußte sie die Augen schließen.
Das wirksamste Mittel aber war die Suppenterrine. Tatjana verwendete sie nur in besonderen Fällen. Es mußte sich um eine geeignete Person handeln, es funktionierte nicht bei jedem Menschen. Sie selbst mußte in der richtigen Stimmung und es mußte die richtige Zeit sein. Wenn alles stimmte, holte sie die Suppenterrine aus dem Vorraum und stellte sie auf den Tisch. Links und rechts waren zwei Kerzen angezündet, sonst war der Raum dunkel. Sie setzte sich vor die Suppenterrine und legte ihre Hände darauf, die andere Person saß ihr gegenüber und legte ebenfalls die Hände auf die Suppenterrine, so, daß sich ihre Finger berührten. Dann wurde die Schicksalssuppe gekocht. Tatjana nahm Strömungen auf und sah Bilder. Wenn alles vorbei war, war sie erschöpft und mußte sich erholen. Sie fühlte sich oft kaum in der Lage, das, was sie gesehen hatte, zu interpretieren. Sie wußte nur, daß es nicht irgendwelche Phantasien oder Tagträumereien waren. Es waren Bilder und Botschaften aus einem zwar realen, aber nicht für jeden wahrnehmbaren Bereich des Seins, und ob man nun für sie eine Erklärung hatte oder nicht, sie waren einfach da.
Einmal kam eine Frau zu ihr, deren Mann gestorben war. Abends schien er noch gesund und munter gewesen zu sein, am nächsten Morgen war er tot. Er hatte ein eigenes Sparbuch gehabt und die Frau vermutete, daß er im Laufe der Jahre eine beträchtliche Summe zusammengebracht hatte, denn er war äußerst geizig gewesen. Jetzt war er tot und sie wußte nicht, wo er das Sparbuch versteckt hatte. Da Tatjana spürte, daß die Frau eine starke Ausstrahlung hatte und der Fall schwierig war, entschloß sie sich, die Suppenterrine zu holen. Die Frau konzentrierte sich auf den verstorbenen Mann und auf das Sparbuch. Sie flehte um eine Botschaft aus dem Jenseits. Tatjana empfing deutliche Signale. Sie sah mehrmals einen Vogel, der Körner pickte und umherhüpfte. Dann war es vorbei und Tatjana war, wie immer, erschöpft. Die Frau war ratlos. Sie besaß zwar einen zahmen Zeisig, den ihr Mann sehr gerne gehabt und den er gefüttert und versorgt hatte, aber warum sollte er ihr jetzt diese Botschaft schicken? Wollte er ihr damit zu verstehen geben, daß er nur den Vogel geliebt hatte und ihr seine Ersparnisse nicht gönnte?
Eine Woche später kam sie freudig erregt zu Tatjana und erzählte, daß sie das Sparbuch gefunden hatte. Als sie dem Vogel frischen Sand in den Käfig geben wollte, hatte sie einen Einsatz am Boden herausgezogen. Darunter befand sich das Sparbuch. Als die Frau ging, gab sie ehrerbietig einen größeren Schein in die Suppenterrine.
Julius räumte die Einkäufe ein. Tatjana meditierte inzwischen vor einem hölzernen Kruzifix. Sie war nicht eigentlich gläubig, aber sie fühlte sich sehr zur christlichen Symbolik hingezogen. Sie betrachtete die Nägel, die in die Hände und Füße des Gekreuzigten geschlagen waren und hätte weinen mögen vor Schmerz und Mitleid. Sie sah auf ihre eigenen Hände und stellte sich vor, wie es wäre, wenn die großen Zimmermannsnägel in sie hineingetrieben würden.
Julius hatte inzwischen den Tisch mit Brötchen, Marmelade, Wurst und Käse gedeckt, hatte eine Kerze angezündet und leise Musik eingeschaltet. Er war der idealer Partner für Tatjana. Er bewunderte sie und war ihr bereitwilliger Assistent und Helfer. Er hatte für alles, was sie tat und sagte, Verständnis. Er selber sagte wenig, aber Tatjana spürte, daß sie harmonierten. Er war der einzige, mit dem sie frei über alles sprechen konnte, ohne daß sie befürchten mußte, mißverstanden zu werden. Ihm brauchte sie nicht zu erklären, warum sie den Tag mied und nur nachts ausging. Ihm brauchte sie auch das mit den Fledermäusen nicht zu erklären.
Fledermäuse waren ihre Lieblingswesen. Sie waren wie sie Geschöpfe der Nacht. Sie nahmen Schwingungen auf, die die Menschen nicht wahrnehmen konnten. Sie durchquerten den freien Äther und waren doch keine Vögel. Sie waren anders als alle anderen Wesen. Man bedenke, sie hingen zum Schlafen mit dem Kopf nach unten an der Decke und hüllten sich in den weiten Umhang ihrer Flügel. Tatjana hätte viel dafür gegeben, wenn sie das auch gekonnt hätte, es erschien ihr als die ideale Haltung schlechthin.
Sie hatte sich eine kleine silberne Pfeife besorgt, die für Menschen nicht hörbar war, wohl aber für Fledermäuse. Wenn sie nachts im Park spazieren ging, blies sie in die Pfeife und wurde bald von Fledermäusen umflattert. Sie war ihre Herrin und Gefährtin. Um selber einer Fledermaus zu ähneln, trug sie einen weiten schwarzen Umhang und einen schwarzen topfförmigen Hut mit einer schmalen Krempe. Im Dunkel des nächtlichen Parks tanzte sie gerne träumerisch mit ausgebreiteten Armen und wehendem Umhang inmitten der um sie herumfliegenden Tiere.
Eines abends saß sie am offenen Fenster ihrer Wohnung und blies gedankenverloren in die lautlose Pfeife. Plötzlich spürte sie das vertraute Flattern und ein ganzer Schwarm Fledermäuse kam in ihre Wohnung geflogen. Gelegentlich streifte sie ein Flügel wie eine Liebkosung. Erst am Morgen verließen die Fledermäuse Tatjana wieder. Es war, als hätten sie einer lieben Freundin einen Besuch abgestattet.
An ihrer Wohnungstür hatte Tatjana wie ein Erkennungszeichen ein Bild mit der Silhouette einer Fledermaus angebracht. Es erfüllte sie mit einem warmen Glücksgefühl, von den Fledermäusen als eine der ihren akzeptiert zu werden. Und sie glaubte, daß es in irgendeiner Weise auch für die Fledermäuse von Bedeutung war, über sie eine Verbindung zu den Menschen hergestellt zu haben. Zwei Spezies waren sich in einem höheren Sinn, als spirituelle Wesen näher gekommen.
Es klingelte einmal kurz.
„Das ist Dr. Petersen,“ sagte Tatjana und blickte Julius vielsagend an. Es gehörte zu Tatjanas besonderen Fähigkeiten, zu spüren, wer vor ihrer Tür stand. Es gab Menschen, von denen eine solche Bedrohung ausging, daß Tatjana nicht öffnete. Doch das waren Ausnahmen. Oft spürte Tatjana, daß da ein Mensch kam, der in Not war. Waren es Menschen, die sie kannte, konnte sie sie gewöhnlich mit dem Klingelzeichen identifizieren.
Dr. Petersen war ein Psychologe, der manchmal für die Polizei arbeitete. Tatjana hatte ihm schon mehrfach helfen können, wenn es um den Aufenthaltsort von vermißten Personen ging oder um Gegenstände, die in einem Zusammenhang mit Verbrechen standen. Er spendete immer großzügig in die Suppenterrine und Tatjana fragte sich, ob er das Geld wohl von der Steuer absetzte. Zwischen ihnen hatte sich, nach anfänglicher skeptischer Rivalität, ein kollegiales und sachliches Verhältnis entwickelt. Dr. Petersen war ein schon älterer Herr mit weißer Mähne und Seidenschal, ein Kunstfreund und sehr belesen, was er sich gerne anmerken ließ. Er sah an einem Kriminalfall weniger die juristische Seite, als vielmehr eine verhängnisvolle Konstellation des Schicksals, in der sich die Menschen verfangen hatten wie Insekten in einem Spinnennetz. So war es auch diesmal.
Die Polizei arbeitete auf Hochtouren auf der Jagd nach einem Serienmörder, dem sogenannten Phantom. Das Phantom schlug immer nachts zu. Seine Opfer waren stets Frauen, die allein auf dem Weg nach Hause waren und dabei Parks oder andere menschenleere Plätze passieren mußten. Ihnen wurden sämtlich die Kehlen durchgeschnitten, ihre Augen waren in starrem Entsetzen weit aufgerissen.
„Der Täter ist ganz offensichtlich ein Soziopath,“ erklärte Dr. Petersen. „Weder mißbraucht er seine Opfer sexuell, noch beraubt er sie. Worauf er es abgesehen hat, ist der Schrecken und das äußerste Entsetzen der Opfer unmittelbar vor ihrem gewaltsamen Tod. Er ist einmal gesehen worden, als er von einem Tatort flüchtete. Er soll ein schwarzes Kostüm und eine Art Teufelsmaske getragen haben. Zeugen berichten von einem gellenden Schrei, den die Opfer ausstießen. Dieser Schrei ist wahrscheinlich eine äußerste Stimulanz für den Täter und er ruft ihn durch seine Erscheinung und sein plötzliches Herausspringen aus einem Versteck bewußt hervor.
Mit größter Wahrscheinlichkeit ist das Phantom im bürgerlichen Leben ein Biedermann, geschäftlich erfolgreich, vielleicht mit einer Familie, wohltätig, singt im Kirchenchor, ist politisch bei den richtigen Parteien engagiert. Doch hat sein Selbst in seiner Kindheitsentwicklung Schaden genommen, tiefe Verletzungen und Einbußen, die möglicherweise außer ihm selbst niemand wahrgenommen hat. Er lebte fortan unter dem Zwang, sich beweisen und Erfolg haben zu müssen. Er erklomm die soziale Leiter zu beträchtlicher Höhe, doch konnte ihn das von seinem enormen Minderwertigkeitsgefühl nicht befreien. Besonders quält ihn der Gedanke, von Frauen als Mann nicht ernst genommen zu werden. Von diesem für ihn qualvollen Empfinden kann er sich nur dadurch befreien, daß er Frauen in unsagbaren Schrecken versetzt und tötet. Das verschafft ihm vorübergehend Erleichterung, doch bald nimmt der Leidensdruck wieder zu und er muß erneut töten. Sadistisch töten. Es ist wie eine Droge. Wenn er einmal damit begonnen hat, kann er nicht mehr aufhören.“
An dieser Stelle seiner Darlegungen griff Dr. Petersen in die Tasche seines Jacketts und holte eine durchsichtige Plastiktüte hervor, in der sich ein schwarzer Knopf befand, an dem noch einige Zwirnsfäden hingen. Er öffnete die Tüte und legte den Knopf auf den Tisch.
„Diesen Knopf fand man in der verkrampften Hand des letzten Opfers,“ sagte er. „Die Frau muß ihn ihrem Mörder im Todeskampf abgerissen haben.“
Tatjana nahm den Knopf und umfaßte ihn mit ihrer Hand. Dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und wartete. Eine ganze Zeitlang sah sie nichts deutliches, nur flüchtige Wahrnehmungen, Erinnerungsfetzen. Dann hatte sie eine Empfindung, als würde sie fliegen. Allmählich, wie selbstverständlich, erschienen erste Bilder. Es war Nacht, aber sehr hell, es mußte Vollmond sein. Sie sah unter sich Büsche und Bäume vorübergleiten und die Schatten von Wolken, die über ihr hinzogen. Sie erkannte einen Weg und ein eigenartiges rundes Gebäude. Dann sah sie eine dunkle Gestalt auf dem Weg. Sie flog auf diese Gestalt zu. Dann war da plötzlich eine zweite, größere Gestalt. Jetzt raste sie auf diese zu, stürzte in sie hinein. Dann war alles vorbei. Sie öffnete die Augen.
Sie war in Schweiß gebadet. Ihre rechte Hand hielt den Knopf umklammert. Sie fühlte sich kraftlos und erschöpft. Dr. Petersen stand neben ihr und hielt ein Glas Wasser in der Hand.
„Geht es Ihnen gut?“ fragte er. Tatjana richtete sich auf. Zögernd öffnete sie ihre Hand und legte den Knopf auf den Tisch.
„Ich weiß nicht,“ antwortete sie.
Julius brachte Tee und allmählich fand Tatjana in die Realität zurück.
„Können Sie jetzt darüber sprechen?“ fragte Dr. Petersen.
Tatjana nickte.
„Es war sehr merkwürdig,“ sagte sie. „Als ob ich nicht ich selbst war.“
„Was haben Sie gesehen?“
„Ich habe zwei Gestalten gesehen. Eine davon hielt möglicherweise ein Messer. Es war in einem Park und es war Vollmond, aber bewölkt. Und ein seltsames rundes Gebäude war in der Nähe...“
„Der alte Wasserturm!“
„Das ist möglich. Ich sah ihn nur von oben.“
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll,“ sagte Dr. Petersen. „Das letzte Verbrechen ereignete sich in einer stockdunklen Nacht bei einer Fabrik. Sie müssen etwas anderes gesehen haben. Können Sie die Personen, die sie gesehen haben, beschreiben?“
Tatjana versuchte es, aber Dr. Petersen schüttelte nur mit dem Kopf. Er war sehr nachdenklich, als er ging, vergaß aber nicht, einen Schein in die Suppenterrine zu legen.

An einem der folgenden Abende kam er wieder.
„Ich habe lange nachgedacht,“ sagte er, „und bin zu einer Schlußfolgerung gekommen. Es klingt etwas seltsam, aber vielleicht haben Sie nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft gesehen. Möglicherweise sahen Sie den Mörder am Ort seines nächsten Verbrechens.“
Er blickte auf die Uhr.
„Ich habe eine Bitte an Sie, Tatjana. Heute ist eine Vollmondnacht, wie in Ihrer Vision. Hätten Sie Lust, einen Spaziergang mit mir zu machen?“
Tatjana zog ihren Umhang über und setze ihren Hut auf. Sie spürte, daß sie mit dem Doktor mitgehen mußte, es war ihre Bestimmung. Zugleich fühlte sie auch eine Bedrohung, die ganz allmählich zunahm. Das schwarze Loch kam näher, um sie zu verschlingen. Sie gingen auf der nahezu menschenleere Straße in Richtung des Parks. Dr. Petersen sprach leise auf sie ein.
„Sie gehen zum alten Wasserturm. Dort sind einige Beamte verteilt. Ich gebe Ihnen eine Trillerpfeife. Wenn Sie irgendetwas Verdächtiges bemerken, pfeifen Sie. Die Polizisten und ich werden dann sofort bei Ihnen sein.“
Dr. Petersen blieb an einer Wegbiegung zurück und verbarg sich im Schatten eines Busches. Tatjana ging alleine weiter. Sie sah vor sich den Weg, rechts war der Turm. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond. Tatjana versuchte, sich an das Bild mit den zwei Gestalten zu erinnern. Und plötzlich wurde ihr klar, daß die andere Gestalt, die sie zuerst gesehen hatte, sie selber war. Sie hatte möglicherweise ihre eigene Ermordung gesehen. Aber warum von oben? War ihre Seele schon aus ihrem Körper entwichen?
Der Mond kam wieder hervor und beleuchtete den Parkweg. Tatjana sah eine Gestalt, die sich hinter einem Baum verbarg. Sie ergriff die Pfeife und blies hinein. Doch es war kein Ton zu hören.
Die Gestalt sprang hinter dem Baum hervor. Sie war schwarz gekleidet, trug eine schwarze Gesichtsmaske und schwang ein Messer in der rechten Hand. Sie versperrte ihr den Weg und breitete die Arme aus. Tatjana blies mit aller Kraft in die Pfeife, obwohl sie sich der Sinnlosigkeit ihres Tuns bewußt war. Die Pfeife blieb stumm. Die Fledermauspfeife.
Das Phantom führte eine Art Tanz vor ihr auf. Es sprang von einer Seite auf die andere und begann Tatjana zu umkreisen. Tatjana sagte kein Wort. Statt dessen breitete sie ebenfalls die Arme aus und begann zu tanzen. Es war ihr Fledermaustanz. Das Phantom erstarrte. Für einen Augenblick schien es Tatjana, als wolle es zurückweichen. Sie wedelte mit den Armen und umkreiste es ihrerseits.
Doch dann schien sich das Phantom zu fassen. Es ergriff Tatjana mit einer Hand und schleuderte sie zu Boden. Dann erhob es die andere Hand mit dem Messer. In dieser Pose erstarrte es einen Moment und blickte blickte auf Tatjana herab. Es suchte den Ausdruck von Schrecken in ihrem Gesicht. Tatjana blickte stumm zurück. Sie verzog keine Miene. Das war also ihr Schicksal. Doch wer stand auf vertrauterem Fuß mit dem Schicksal als sie? Bei dem Gedanken mußte sie lächeln.
Das Phantom holte weiter mit dem Messer aus, um zuzustoßen. Da klatschte etwas Schwarzes in sein Gesicht und verfing sich dort. Die Gestalt schrie erschrocken auf. Dann trafen sie weitere schwarze Klumpen wie Wurfgeschosse. Plötzlich war das Phantom eingehüllt in eine schwarze, flatternde Wolke. Man hörte es schreien, aber man sah es nicht. Hunderte von Fledermäusen bildeten ein wütendes Knäuel.
Jetzt ertönten Pfiffe. Vom alten Wasserturm her kamen Polizisten gelaufen. Ein Hund bellte. Den Parkweg herauf kam mit wehendem Mantel Dr. Petersen geeilt, so schnell er es mit seinen Jahren vermochte. Es dauerte einige Zeit, bis die Beamten die Fledermäuse vertreiben konnten. Der Mann, den die Presse das Phantom nannte, hatte erhebliche Verletzungen erlitten und mußte in ein Krankenhaus gebracht werden. Auch mehrere Polizeibeamte wurden wegen Fledermausbissen ambulant behandelt. Tatjana hatte sich beim Sturz einen Ellenbogen etwas aufgeschürft. Ansonsten war sie unverletzt.

Am nächsten Tag drückte ein Polizeibeamter auf den Klingelknopf neben dem Aufkleber mit der Fledermaus an Tatjanas Tür. Er war gekommen, um ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen. Niemand rührte sich. Es war auch kein Klingelgeräusch zu hören. Offenbar war die Klingel abgestellt. Der Beamte klingelte bei einer Nachbarin. Eine Frau mittleren Alters in einer Kittelschürze öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt breit.
„Da werden Sie kein Glück haben,“ sagte sie auf die Frage des Beamten hin. „Die pennt den ganzen Tag. Erst Abends wird sie munter. Aber dann geht’s manchmal zu wie im Taubenschlag. Die soll ja so ne Art Wahrsagerin sein. Wenn Sie mich fragen, die ist bloß zu faul zum Arbeiten.“
 

Morgana

Mitglied
Super...

ich hab die Geschichte verschlungen. Sehr spannend aufgebaut. Die Details über Tatjana kommen mit der Zeit heraus und es entsteht ein sehr rundes Bild.
Mein Kompliment zu dieser Geschichte.

Bright Blessings

Morgana
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. deine geschichte hat mir sehr gut gefallen, sie wird nahezu von zeile zu zeile besser. kommt in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 



 
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