Auto-Psychografie

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Tula

Mitglied
Auto-Psychografie

Der Dichter ist ein Illusionist.
Er gaukelt derart raffiniert;
sogar der Schmerz, der ihn zerfrisst,
wird mit Vollendung suggeriert.

Und jener, der sein Schreiben liest,
empfindet ebenfalls nur Pein,
den Schmerz, der lesend in ihm fließt,
und nicht des Dichters Weh und Schein.

Auf diesen Schienen fährt ein Zug
in Kreisen, dem Verstand als Scherz,
dem dieses Spiel wohl nie genug
und nichtig wird. Man nennt ihn: Herz.


Dieses Gedicht ist eine freie (dem Original so nah wie mögliche) Übertragung eines der berühmtesten Gedichte von Fernando Pessoa (1888 – 1935):


Autopsicografia

O poeta é um fingidor
Finge tão completamente
Que chega a fingir que é dor
A dor que deveras sente.

E os que lêem o que escreve,
Na dor lida sentem bem,
Não as duas que ele teve,
Mas só a que eles não têm.

E assim nas calhas de roda
Gira, a entreter a razão,
Esse comboio de corda
Que se chama coração.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Tula,

Pessoa war ein portugiesischer Dichter und solche Gedichte können wohl auch nur dem portugiesischen und spanischen Sprachraum entspringen.
Dir ist hier eine äußert würdige Übertragung ins Deutsche gelungen.

Liebe Grüße
Manfred
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich kann nicht einschätzen, inwiefern die Übersetzung gelungen ist, aber so wie es da steht, ist es ein tolles Gedicht. :)

L.G
Patrick
 

Tula

Mitglied
Hallo in die Runde

Vielen Dank für die sternenreiche Zustimmung zu diesem Gedicht.
Patrick: Strophe 1 und 2 sind so nahe am Original wie es mir überhaupt möglich schien. In S3 musste ich einen kleinen Kompromiss eingehen. "comboio de corda" verstehe ich als das Kinderspielzeug, hier den Zug (comboio), den das Kind an einer Schnur (corda) zieht, auch auf Schienen (calhas de roda). In gewisser Hinsicht als Vorreiter der elektrischen Modelleisenbahn. Damit unterhält sich das Kind in uns (der Verstand, Geist im weiteren Sinne), spielend, ohne dass darin unbedingt ein tieferer Sinn liegt. Der Vergleich von Zug (Spielzeug) und Herz ist dann wieder direkt und originalgetreu.
Das Gedicht hat eigentlich einen schlichten Grundgedanken, oder mehrere, wie man will.

Was den Bezug Dichter-Leser angeht (siehe hier S2), gibt es noch ein jüngeres, sehr beeindruckendes Gedicht, dass ich leider nicht übersetzen darf. Aber wer mal reinschauen will:

Daniel Faria Gedicht

Das Werk hat mehrere Teile, der erste endet mit 'pegasse na tua mão' und ist schlicht fabelhaft.

LG
Tula
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Beim Lesen der letzten Strophe, lieber Tula,

las ich:

Auf diesen Schienen fährt ein Zug
in Kreisen, dem Verstand als Scherz,
dem (Verstand, dem) dieses Spiel wohl nie genug
und nichtig wird. Man nennt ihn (den Verstand?): Herz.

Mit "Zug" bekommt es einen schlüssigeren Sinn. Oder wolltest Du es doppeldeutig halten?

Das ist ein Supergedicht, ich bin ganz hin und weg.

grusz, hansz
 

Tula

Mitglied
Hallo Hansz

Genau genommen meint die Stelle den Zug, wie auch im Original. Ich überlegte beim Schreiben durchaus, ob das 'dem' nicht auf Verstand oder gar den Scherz gemünzt werden könnte. Es war in dieser Hinsicht ein Kompromiss, weil im Original diese Doppeldeutigkeit nicht vorhanden ist.
Du hast aber recht, bei diesem Spiel vergnügen sich stets beide, Verstand und Herz (als Gefühl), eine untrennbare Zwei-Einigkeit, nicht nur in der Poesie.

Dankend lieben Gruß

Tula
 



 
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