Ich halte den Text bei all diesen Achter- und Neuner-Wertungen für stark überschätzt (wieder mal meine Theorie, dass niemand so unablässig sehr gute Wertungen einfährt wie Foren-Redakteure?). Schlecht ist er nicht. Aber damit hat sich's dann auch. Vorherrschender Eindruck: 1) Jemand macht in Sozialreportage. 2) "A bissel mehr" hätt's schon sein dürfen.
Val Sidals Einschätzung von der Kameraüberwachung als Protagonistin bzw. Erzählerin der Geschichte haut nicht hin. Die Kameraüberwachung sieht ihn nicht jeden Morgen um eine bestimmte Zeit aufstehen, weiß nicht, dass ihm der Nachbar die gelesene Zeitung überlässt, weiß nicht, dass er Frühstücksfernsehen für eine Verbesserung gegenüber dem Testbild vergangener Tage hält. (Innenperspektive des Helden!) Auch keiner der anderen Kneipengäste kann wissen, was er morgens daheim anstellt, er spricht ja nicht. Also hat die Geschichte einen auktorialen, allwissenden Erzähler. (Der uns verraten könnte, warum er nicht mehr kommt, ob und an was er gestorben ist.) Die Kamera kann nicht wissen, dass es ihm ums Gewinnen kleiner Beträge gar nicht geht, sondern nur darum, ab und an ein Gewinner zu sein. (Innensicht des Protagonisten.) Die Kamera kann nicht mit der Schulter zucken: "Ach ja, ein weiterer Alter, der weg ist, egal, das Leben geht weiter." (Innenperspektive und Wertung des Wirts.)
Mir sind vergleichbare Existenzen privat bekannt gewesen. Da hörte ich z.B. von einem, dass er jeden (!) Morgen seine Wohnung putzt. Aber natürlich gibt es dann entsprechend wenig zu tun - und immer putzen könne er doch auch nicht. Dann geht er bei gutem Wetter eine Weile durch die Stadt, die Leute anschauen, vielleicht trifft er Bekannte, er hat durchaus viele. Abends lief er täglich, ausnahmslos, er sagte, anders könnte er hinterher ja nicht einschlafen, in etwa drei oder vier Lokalen (wechselnd, teils auch zwei am selben Abend) ein. Jemand, der tagsüber zweimal ein und dieselbe Kneipe aufsucht, jeweils außerhalb der Essenszeit (er kocht also für sich selbst? Ein starker Alkoholiker isst ja nicht mehr viel, aber das scheint er nicht zu sein), ist mir nie bekannt gewesen, gibt es aber sicher auch.
... als ich deine Geschichte gelesen habe, ist mir das Wort „Mitgefühl“ eingefallen. Mitgefühl ist eine wertvolle Eigenschaft.
Ich gebe deinem Beitrag gerne meine Wertung.
Und dann auch die Feststellung, es handle sich um eine "gesellschaftskritische" Geschichte: Das ist doch lächerlich! Solche Menschen gibt es in jeder, wirklich jeder (noch im hintersten bayerischen Wald oder in dem hessischen Bergland) deutschen Stadt ab, sagen wir mal, 8.000 Einwohnern. Dann sollen die Leute, die da aus Mitleid weinen und wütend werden auf die lieblose Gesellschaft, einfach in die entsprechenden Kneipen, einmal in der Woche reicht ja voll, wenn das mehrere jetzt anfangen, und diesen Leuten dort das Händchen halten! (Bzw. einen Kurzen zahlen.)
Wie ich vor längerer Zeit schon in einem anderen LL-Kommentar nebenbei erzählte, ist bei uns in der Stadt nach dem Mörder eines alten, allein lebenden Mannes gesucht worden. Der war klein und unscheinbar von Statur, etwa 70 Jahre alt (etwas darunter wohl), besaß eine Wohnung in einer Betreutes-Wohnen-Anlage mitten in der Stadt (wo ja nicht viel "betreut" wird, es gibt halt Putzfrau, Hausmeister). Er ging offenbar abends
nicht in die Kneipe, lungerte aber praktisch jeden Abend, meist bis spät in die Nacht, halb drei Uhr oder so, in der Nähe des Ausgangs eines Nachtlokals mit Table-Dancerinnen, nackten Frauen, herum, das zu den ganz wenigen Punkten gehört, die bei uns um diese Zeit noch offen haben. Er wahrte immer einen Sicherheitsabstand zu der Kneipe und ihrem Türsteher, ging niemals wirklich rein, unterhielt sich auch nicht mit den Besuchern, oft irgendwie dubiosen Südländern, aber doch harmlos eigentlich. Er guckte einen extrem misstrauisch an, wenn man ihn passierte, so, als würde man ihn gleich nach seinen Papieren fragen. Dort reden sah ich ihn nur selten einmal - mit deutschen Männern, nicht ganz seines Alters, die mir eher zufällig vorbeigekommene Passanten zu sein schienen, vielleicht Kollegen von früher. Wenn so einer nun aber erschlagen in seiner Wohnung gefunden wird, erwartet man, dass der Täter entweder im "kriminellen Milieu" des halbseidenen Lokals (Drogenhändler? Mädchenhändler?) zu suchen sein muss, allenfalls ein Strichbubenmord könnte es noch sein (obwohl er kein bisschen schwul wirkte).
Der Täter wurde schließlich gefasst. Es war ein "mittelalterlicher" Mann aus einer Umlandgemeinde, offenbar ein daueralkoholisierter Typ, ebenfalls mit einer Wohnung ausgestattet, aber wohl eher so auf dem Weg zum Wohnsitzlosen, er schien manchmal in der Stadt unter offenem Himmel zu schlafen. Die beiden hatten sich seit Jahren gekannt. Der Alte hatte den Haltlosen bei sich übernachten lassen wollen, sie hatten anscheinend gestritten, der Typ hatte sich eine Raubbeute versprochen.
Was ich sagen will: Solche Lebensformen gibt es überall. Die sind so alltäglich. Dann sieht man sich einen Film im Kino an oder eine Diskussion im Fernsehen (oder liest ein wenig Kurzprosa in der LL, haha), da hört man, wieder und wieder: "Kein Mensch kann ohne Liebe leben!", "Niemand von uns ist eine Insel!", "Viele alte Menschen, die ihren Partner verloren haben, werden von der Gesellschaft aufs tote Gleis geschoben, werden einfach von allen vergessen, weil keiner sie mehr für irgendwas brauchen kann. Das dürfen wir nicht hinnehmen!" Aber wie gesagt: dann schreibt und lest doch nicht diese Texte und Internetforen, sondern geht heute Abend in die nächste Eckkneipe mit den einsamen Herren am Tresen und trinkt einen!
Der Text liest sich wie der Vorraum zu einer dieser Geschichten über Trinker und ihre Kommunikationsgepflogenheiten. Wie etwas Charles Bukowski, Eckhard Henscheid, Helmut Krausser. Das dann aber nie passiert. Als die Vorbereitung zur Geschichte komplett versammelt ist, bricht sie einfach ab, wird sie für "das war's dann auch schon" erklärt.
(Dann noch für die Dame, welche erklärte, der Text gefalle ihr nicht, weil er von innerer Unlogik sei. Nee, nee, ist er nicht, die Verhaltens- und Denkweisen, soweit sie da sind, sind gut getroffen. Schwach ist eher, dass man diese kühle Kameraperspektive, wie Val sie lobt, verlassen muss, damit der Leser diese Dinge wirklich verstehen kann.
Den Ablauf in der Figur denke ich mir so: 1. Rund um die Uhr ganz allein in derselben Wohnung kann man nicht sein. Man muss auch woanders sein. Wenn man niemand näher kennt, geht es in der Wirtschaft. (Er ist kaum der Typ für Sportverein oder VHS-Kursus.) 2. Bier, Schnäpschen, Spielautomaten sind angenehme Dinge, die ein wenig Vergnügen und Genuss ins Leben bringen. Es hat dies sein Suchtpotenzial, dann macht man es irgendwann nur noch dem Suchtzwang zuliebe, Freude ist keine mehr dabei. Aber der Text legt nahe zu glauben, dass es bei ihm nicht so ist. Er kann durchaus noch kontrollieren, für was er sein Geld auf den Kopf haut.
3. Objektiv zutreffend dürfte sein, dass das Leistung-Preis-Verhältnis fürs Essen am besten wäre, dann kommen die Getränke, sie sind vergleichsweise teurer, ein Glas kostet, sagen wir mal, acht Mal so viel wie daheim, das Essen nur drei Mal so viel. Das Automatenspiel ist praktisch Zuschussgeschäft. Auf lange Sicht, das weiß er längst selbst, denn er weiß etwa, wie viel jeden Monat von seinem Konto geht und auch in etwa, wo es hingeht, verliert er immer wesentlich mehr, als er rausholt. Zigaretten sind etwas, das für Nichtraucher reine Geldvernichtung bedeutet, für einen jahrelangen Raucher einen unverzichtbaren Teil seiner Existenz. (Für den man exorbitant viel Geld opfert. Da muss man sich die rauchenden Hartz-IV-Empfänger betrachten.)
Was unlogisch klingt für Außenstehende, Zigaretten und Spielautomaten kann er sich jeden Tag leisten, aber nicht das Tagesessen in der Kneipe, denn er ist sparsam, entspricht der inneren Logik solcher Menschen: Eigentlich ist das tägliche Ritual (Rituale sind doch wichtig, um immer weitermachen zu können!) dieses Lokalbesuchs das Glück seines Lebens, so, wie es heute ist. Merkt man ihm nicht an, denn er redet ja z.B. nie mit jemandem, guckt den Automaten an. Aber er sitzt ja nicht am Waldsee auf der Bank, er spielt nicht Golf, liest nicht Zeitung im Stehen bei Tchibo, warum? Weil er diese Dauer und diese immer gleichen Menschen möchte, die in dieser Dauern ständig um ihn rum sind. Wie eine Familie, die einem aber nicht reinreden kann - wie sonstige Familien das zu tun belieben. Der Wirt! Jemand, der einen gut kennt, jemand den man selber gut kennt. Und doch muss man gar nicht sprechen mit ihm. Die Dauer in der Wirtschaft, die er jeden Tag haben will, braucht ihren Vorwand: Warum man dort ist. Weil man Bier trinkt. (Weil man Mann ist.) Der Biergenuss hat sich irgendwann im Leben unauflöslich verbunden mit der brennenden Zigarette und dem Schnäpschen. Wie das bei sehr vielen Männern in Deutschland ist. (Vielleicht nicht bei denen, die jeden Abend im Garten arbeiten. Aber sein Leben hat zum Garten nicht gewiesen.)
Was noch fehlt, ist der Aspekt Überraschung, Spannung, Leistung, Sport, Selbstwertgefühl. Das besorgt im sein Spiel. Er gewinnt zwar letztlich nicht wirklich. Aber er gewinnt viel öfter als jeder andere im Lokal. Ist doch auch toll, wenn es mal auf einen Schlag richtig viel Geld gibt, das man verfeiern darf!
Demgegenüber Essen! Essen ist für ihn eher unwichtig. Jeden Tag dasselbe, man muss es machen, weil man sonst hungrig ist. Da wir eine Kamera sind, wissen wir nicht wirklich, was und wie er isst: Vielleicht hat er eine Schwester, wo er jeden Tag um halb eins mitessen kann. Vielleicht gehört das zu seiner Hausarbeit, dass er sich das zu Hause alles picobello - und erst noch billiger als in der Wirtschaft - selber macht. (Hinterher geht der Tag weiter.) Vielleicht isst er fast nur Dosenspaghetti, Wurst und Brot usw. Vielleicht fährt er ins Einkaufszentrum, wo man (im Sitzen) das Schnitzel mit Kartoffelsalat für 3,30 € kriegt. Vielleicht geht er beim Pizzadienst vorbei, isst jeden Tag eine andere, auch mal Nudeln. Egal. Er kriegt es geregelt. Und zwar billiger als in der Kneipe. (Tagesessen heute: Bratwurst, Püree, Kraut, 5,70 €.) Er hat also extra was gespart. Also darf er sich auch mal was leisten. Seinen Luxus: Er raucht Filterzigaretten, geht in die Kneipe, spielt ein wenig für Geld.)