Automatenauge

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Rikyu

Mitglied
Ich kann mit dieser Geschichte nichts anfangen.

Realitätsnah ist sie schon deshalb nicht, weil jemand, der Tag für Tag an Automaten spielen kann, so viel Geld haben muss, dass er sich auch - zumindest hin und wieder - ein Essen vom Wirt leisten kann.

Wenn jemand das nicht will, ist es seine Sache. Die Begründung muss dann aber eine andere sein als die im Text.

Eine Handlung, die diesen Namen verdient, kann ich nicht erkennen; ein automatischer Trott vom Fernseher zur Kneipe und zurück ist nichts, was einen interessiert oder gar vom Hocker reißt.

Dass dieses Dahinvegetieren eines Tages zu Ende ist, war unausweichlich. Aber so sang- und klanglos gegangen zu werden, ist für mich würdelos, fast schon geschmacklos. Und das gilt auch, wenn es 'nur' in einem Text stattfindet.

Just my fifty Cent.
 
D

Dominik Klama

Gast
Ich halte den Text bei all diesen Achter- und Neuner-Wertungen für stark überschätzt (wieder mal meine Theorie, dass niemand so unablässig sehr gute Wertungen einfährt wie Foren-Redakteure?). Schlecht ist er nicht. Aber damit hat sich's dann auch. Vorherrschender Eindruck: 1) Jemand macht in Sozialreportage. 2) "A bissel mehr" hätt's schon sein dürfen.

Val Sidals Einschätzung von der Kameraüberwachung als Protagonistin bzw. Erzählerin der Geschichte haut nicht hin. Die Kameraüberwachung sieht ihn nicht jeden Morgen um eine bestimmte Zeit aufstehen, weiß nicht, dass ihm der Nachbar die gelesene Zeitung überlässt, weiß nicht, dass er Frühstücksfernsehen für eine Verbesserung gegenüber dem Testbild vergangener Tage hält. (Innenperspektive des Helden!) Auch keiner der anderen Kneipengäste kann wissen, was er morgens daheim anstellt, er spricht ja nicht. Also hat die Geschichte einen auktorialen, allwissenden Erzähler. (Der uns verraten könnte, warum er nicht mehr kommt, ob und an was er gestorben ist.) Die Kamera kann nicht wissen, dass es ihm ums Gewinnen kleiner Beträge gar nicht geht, sondern nur darum, ab und an ein Gewinner zu sein. (Innensicht des Protagonisten.) Die Kamera kann nicht mit der Schulter zucken: "Ach ja, ein weiterer Alter, der weg ist, egal, das Leben geht weiter." (Innenperspektive und Wertung des Wirts.)

Mir sind vergleichbare Existenzen privat bekannt gewesen. Da hörte ich z.B. von einem, dass er jeden (!) Morgen seine Wohnung putzt. Aber natürlich gibt es dann entsprechend wenig zu tun - und immer putzen könne er doch auch nicht. Dann geht er bei gutem Wetter eine Weile durch die Stadt, die Leute anschauen, vielleicht trifft er Bekannte, er hat durchaus viele. Abends lief er täglich, ausnahmslos, er sagte, anders könnte er hinterher ja nicht einschlafen, in etwa drei oder vier Lokalen (wechselnd, teils auch zwei am selben Abend) ein. Jemand, der tagsüber zweimal ein und dieselbe Kneipe aufsucht, jeweils außerhalb der Essenszeit (er kocht also für sich selbst? Ein starker Alkoholiker isst ja nicht mehr viel, aber das scheint er nicht zu sein), ist mir nie bekannt gewesen, gibt es aber sicher auch.

... als ich deine Geschichte gelesen habe, ist mir das Wort „Mitgefühl“ eingefallen. Mitgefühl ist eine wertvolle Eigenschaft.
Ich gebe deinem Beitrag gerne meine Wertung.
Und dann auch die Feststellung, es handle sich um eine "gesellschaftskritische" Geschichte: Das ist doch lächerlich! Solche Menschen gibt es in jeder, wirklich jeder (noch im hintersten bayerischen Wald oder in dem hessischen Bergland) deutschen Stadt ab, sagen wir mal, 8.000 Einwohnern. Dann sollen die Leute, die da aus Mitleid weinen und wütend werden auf die lieblose Gesellschaft, einfach in die entsprechenden Kneipen, einmal in der Woche reicht ja voll, wenn das mehrere jetzt anfangen, und diesen Leuten dort das Händchen halten! (Bzw. einen Kurzen zahlen.)

Wie ich vor längerer Zeit schon in einem anderen LL-Kommentar nebenbei erzählte, ist bei uns in der Stadt nach dem Mörder eines alten, allein lebenden Mannes gesucht worden. Der war klein und unscheinbar von Statur, etwa 70 Jahre alt (etwas darunter wohl), besaß eine Wohnung in einer Betreutes-Wohnen-Anlage mitten in der Stadt (wo ja nicht viel "betreut" wird, es gibt halt Putzfrau, Hausmeister). Er ging offenbar abends nicht in die Kneipe, lungerte aber praktisch jeden Abend, meist bis spät in die Nacht, halb drei Uhr oder so, in der Nähe des Ausgangs eines Nachtlokals mit Table-Dancerinnen, nackten Frauen, herum, das zu den ganz wenigen Punkten gehört, die bei uns um diese Zeit noch offen haben. Er wahrte immer einen Sicherheitsabstand zu der Kneipe und ihrem Türsteher, ging niemals wirklich rein, unterhielt sich auch nicht mit den Besuchern, oft irgendwie dubiosen Südländern, aber doch harmlos eigentlich. Er guckte einen extrem misstrauisch an, wenn man ihn passierte, so, als würde man ihn gleich nach seinen Papieren fragen. Dort reden sah ich ihn nur selten einmal - mit deutschen Männern, nicht ganz seines Alters, die mir eher zufällig vorbeigekommene Passanten zu sein schienen, vielleicht Kollegen von früher. Wenn so einer nun aber erschlagen in seiner Wohnung gefunden wird, erwartet man, dass der Täter entweder im "kriminellen Milieu" des halbseidenen Lokals (Drogenhändler? Mädchenhändler?) zu suchen sein muss, allenfalls ein Strichbubenmord könnte es noch sein (obwohl er kein bisschen schwul wirkte).

Der Täter wurde schließlich gefasst. Es war ein "mittelalterlicher" Mann aus einer Umlandgemeinde, offenbar ein daueralkoholisierter Typ, ebenfalls mit einer Wohnung ausgestattet, aber wohl eher so auf dem Weg zum Wohnsitzlosen, er schien manchmal in der Stadt unter offenem Himmel zu schlafen. Die beiden hatten sich seit Jahren gekannt. Der Alte hatte den Haltlosen bei sich übernachten lassen wollen, sie hatten anscheinend gestritten, der Typ hatte sich eine Raubbeute versprochen.

Was ich sagen will: Solche Lebensformen gibt es überall. Die sind so alltäglich. Dann sieht man sich einen Film im Kino an oder eine Diskussion im Fernsehen (oder liest ein wenig Kurzprosa in der LL, haha), da hört man, wieder und wieder: "Kein Mensch kann ohne Liebe leben!", "Niemand von uns ist eine Insel!", "Viele alte Menschen, die ihren Partner verloren haben, werden von der Gesellschaft aufs tote Gleis geschoben, werden einfach von allen vergessen, weil keiner sie mehr für irgendwas brauchen kann. Das dürfen wir nicht hinnehmen!" Aber wie gesagt: dann schreibt und lest doch nicht diese Texte und Internetforen, sondern geht heute Abend in die nächste Eckkneipe mit den einsamen Herren am Tresen und trinkt einen!

Der Text liest sich wie der Vorraum zu einer dieser Geschichten über Trinker und ihre Kommunikationsgepflogenheiten. Wie etwas Charles Bukowski, Eckhard Henscheid, Helmut Krausser. Das dann aber nie passiert. Als die Vorbereitung zur Geschichte komplett versammelt ist, bricht sie einfach ab, wird sie für "das war's dann auch schon" erklärt.


(Dann noch für die Dame, welche erklärte, der Text gefalle ihr nicht, weil er von innerer Unlogik sei. Nee, nee, ist er nicht, die Verhaltens- und Denkweisen, soweit sie da sind, sind gut getroffen. Schwach ist eher, dass man diese kühle Kameraperspektive, wie Val sie lobt, verlassen muss, damit der Leser diese Dinge wirklich verstehen kann.

Den Ablauf in der Figur denke ich mir so: 1. Rund um die Uhr ganz allein in derselben Wohnung kann man nicht sein. Man muss auch woanders sein. Wenn man niemand näher kennt, geht es in der Wirtschaft. (Er ist kaum der Typ für Sportverein oder VHS-Kursus.) 2. Bier, Schnäpschen, Spielautomaten sind angenehme Dinge, die ein wenig Vergnügen und Genuss ins Leben bringen. Es hat dies sein Suchtpotenzial, dann macht man es irgendwann nur noch dem Suchtzwang zuliebe, Freude ist keine mehr dabei. Aber der Text legt nahe zu glauben, dass es bei ihm nicht so ist. Er kann durchaus noch kontrollieren, für was er sein Geld auf den Kopf haut.
3. Objektiv zutreffend dürfte sein, dass das Leistung-Preis-Verhältnis fürs Essen am besten wäre, dann kommen die Getränke, sie sind vergleichsweise teurer, ein Glas kostet, sagen wir mal, acht Mal so viel wie daheim, das Essen nur drei Mal so viel. Das Automatenspiel ist praktisch Zuschussgeschäft. Auf lange Sicht, das weiß er längst selbst, denn er weiß etwa, wie viel jeden Monat von seinem Konto geht und auch in etwa, wo es hingeht, verliert er immer wesentlich mehr, als er rausholt. Zigaretten sind etwas, das für Nichtraucher reine Geldvernichtung bedeutet, für einen jahrelangen Raucher einen unverzichtbaren Teil seiner Existenz. (Für den man exorbitant viel Geld opfert. Da muss man sich die rauchenden Hartz-IV-Empfänger betrachten.)

Was unlogisch klingt für Außenstehende, Zigaretten und Spielautomaten kann er sich jeden Tag leisten, aber nicht das Tagesessen in der Kneipe, denn er ist sparsam, entspricht der inneren Logik solcher Menschen: Eigentlich ist das tägliche Ritual (Rituale sind doch wichtig, um immer weitermachen zu können!) dieses Lokalbesuchs das Glück seines Lebens, so, wie es heute ist. Merkt man ihm nicht an, denn er redet ja z.B. nie mit jemandem, guckt den Automaten an. Aber er sitzt ja nicht am Waldsee auf der Bank, er spielt nicht Golf, liest nicht Zeitung im Stehen bei Tchibo, warum? Weil er diese Dauer und diese immer gleichen Menschen möchte, die in dieser Dauern ständig um ihn rum sind. Wie eine Familie, die einem aber nicht reinreden kann - wie sonstige Familien das zu tun belieben. Der Wirt! Jemand, der einen gut kennt, jemand den man selber gut kennt. Und doch muss man gar nicht sprechen mit ihm. Die Dauer in der Wirtschaft, die er jeden Tag haben will, braucht ihren Vorwand: Warum man dort ist. Weil man Bier trinkt. (Weil man Mann ist.) Der Biergenuss hat sich irgendwann im Leben unauflöslich verbunden mit der brennenden Zigarette und dem Schnäpschen. Wie das bei sehr vielen Männern in Deutschland ist. (Vielleicht nicht bei denen, die jeden Abend im Garten arbeiten. Aber sein Leben hat zum Garten nicht gewiesen.)

Was noch fehlt, ist der Aspekt Überraschung, Spannung, Leistung, Sport, Selbstwertgefühl. Das besorgt im sein Spiel. Er gewinnt zwar letztlich nicht wirklich. Aber er gewinnt viel öfter als jeder andere im Lokal. Ist doch auch toll, wenn es mal auf einen Schlag richtig viel Geld gibt, das man verfeiern darf!

Demgegenüber Essen! Essen ist für ihn eher unwichtig. Jeden Tag dasselbe, man muss es machen, weil man sonst hungrig ist. Da wir eine Kamera sind, wissen wir nicht wirklich, was und wie er isst: Vielleicht hat er eine Schwester, wo er jeden Tag um halb eins mitessen kann. Vielleicht gehört das zu seiner Hausarbeit, dass er sich das zu Hause alles picobello - und erst noch billiger als in der Wirtschaft - selber macht. (Hinterher geht der Tag weiter.) Vielleicht isst er fast nur Dosenspaghetti, Wurst und Brot usw. Vielleicht fährt er ins Einkaufszentrum, wo man (im Sitzen) das Schnitzel mit Kartoffelsalat für 3,30 € kriegt. Vielleicht geht er beim Pizzadienst vorbei, isst jeden Tag eine andere, auch mal Nudeln. Egal. Er kriegt es geregelt. Und zwar billiger als in der Kneipe. (Tagesessen heute: Bratwurst, Püree, Kraut, 5,70 €.) Er hat also extra was gespart. Also darf er sich auch mal was leisten. Seinen Luxus: Er raucht Filterzigaretten, geht in die Kneipe, spielt ein wenig für Geld.)
 
U

USch

Gast
Hallo Dominik,
Ich halte den Text bei all diesen Achter- und Neuner-Wertungen für stark überschätzt (wieder mal meine Theorie, dass niemand so unablässig sehr gute Wertungen einfährt wie Foren-Redakteure?). Schlecht ist er nicht. Aber damit hat sich's dann auch. Vorherrschender Eindruck: 1) Jemand macht in Sozialreportage. 2) "A bissel mehr" hätt's schon sein dürfen.
Das sehe ich genauso. Der Text wird immer öfter mal wieder hochgeliftet. Allerdings ist Doc erst seit ein paar Tagen Forenredakteurin. Insofern ist dein Verdacht in diesem Fall noch nicht validierbar. Aber es wird vermutlich nicht lange dauern bis der Status steigt, denn welcher Schreiber wird einen Redakteur schwach bewerten, wenn er weiß, dass dieser auch anonyme Wertungen einsehen kann.
So ist die LL-Welt, ob´s uns passt oder nicht.
LG und nicht verzagen
USch
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Dass der Text 14 Monate nach seiner Einstellung eine solche Auferstehung erfährt, freut mich sehr. Natürlich kann er nicht jedem gefallen.
Mir gefällt aber Dominik Klamas Kommentar sehr. Du kommst der Sache und dem Automatenauge und dem ganzen gesellschaftlichen Konsens sehr nahe.

LG Doc
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Grundsätzlich wäre mir dieser Text egal gewesen. Aber bei einem „Werk des Monats“ lese ich dann mal genauer. Ein Text, der so hoch bewertet wird, müsste für mich wenigstens stilistisch herausragend sein – das ist er aber nicht. Einige Beispiele:
Es wimmelt von Hilfsverben:
Er hatte seinen festen Rhythmus
da war er nie da
Aber das war nicht wichtig. Wichtig war
das war seine bevorzugte Leidenschaft.
Und Wortwiederholungen
Wortlos stellte der Wirt ihm wieder ein Herrengedeck hin
verließ er die Kneipe wieder
Der Wirt wandte sich wieder seinem Zapfhahn zu
Das war ihm zu teuer
Das war seine bevorzugte Leidenschaft
Alles in allem sieht das für mich nach einem schnell geschriebenen Text aus, an dem nicht lange gefeilt wurde.
Eine Kurzgeschichte ohne nennenswerte Handlung, ohne Spannungsbogen und in mancherlei Hinsicht auch ohne Logik. Aber das haben andere Kommentatoren ja schon ausführlich beschrieben.

Gruß Ciconia
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Liebe Ciconia, Deine Kritik kommt sehr spät daher - immerhin steht der Text bereits seit 18 Tagen auf der Startseite - und auch wenn sie begründet erscheint, so kann ich sie deshalb nicht ganz ernst nehmen und vermute, dahinter steckt etwas ganz anderes.

Aber das werde und will ich nicht ergründen.

Frohes Weiterschreiben allen,

Doc
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Doc,

was sollen solche merkwürdigen Andeutungen?
dahinter steckt etwas ganz anderes
Damit kann man Kritiker nicht mundtot machen. Ich bin gestern wieder auf diesen Text aufmerksam geworden, weil zwei neue Kommentare dazu auftauchten. Und da ich gestern selbst die Zeit für einen ausführlicheren Kommentar hatte, habe ich sie genutzt. Ich kann nicht sehen, weshalb man Texte nicht auch nach längerer Zeit noch kommentieren kann. Du hast doch auch schon Geschichten hervorgezogen, die zehn Jahre alt waren.

Gruß Ciconia
 
D

Dominik Klama

Gast
In "Die Kunst des Romans" schreibt Milan Kundera, Vladimir Nabokov habe einmal bemerkt, dass an einer bestimmten Stelle von Tolstois "Anna Karenina" innerhalb von sechs Sätzen das Wort "Haus" acht Mal auftaucht. Dass aber in der französischen Übersetzung das Wort "Haus" nur ein einziges Mal erscheine (in jener Passage). Übersetzer seien von der Krankheit besessen, die Werke selbst größter Schriftsteller noch besser machen zu wollen. Während große Autoren zum Beispiel den Wert einer Salve von Wiederholungen einzuschätzen wüssten. Kundera kommt dann auf Hemingway zu sprechen, dessen berühmtes "er sagte... er sagte ... sagte er ... er sagte ... sagte er ... sagte er ... er sagte ..." Und an dieser Stelle kann man auch auf die "Hilfsverben" zu sprechen kommen, die es bei Hemingway ja auch oft gibt.

Ausdrücklich möchte ich festhalten, dass meine Kritik sich mit der von Ciconia nicht deckt. Auch darf ein Werk tatsächlich "schnell hingeschleudert" sein. Wenn es seinen eigenen Charme hat, wenn es in sich halbwegs stimmt.

Diese Art der Textkritik, wie man sie hier von Ciconia sieht, ist eine in Amateurschriftstellerforen überall anzutreffende Kritik nach schülerhaft und vollständig angelernten Kochrezeptkriterien. Man darf mit solchem Rüstzeug einen Kafka, Balzac oder Frisch überhaupt nicht lesen. Es ist alles viel zu schlampig gemacht. (Bloß müssen Autoren dieses Kalibers eben nicht mehr so einen Laien-Qualitätscheck durchlaufen.) "Das hast du dasselbe farblose Adjektiv in vier Zeilen drei Mal! Da stimmt die Zeitenfolge zwischen vorausgehendem Nebensatz und Hauptsatz nicht! Hier ist der Konjunktiv II falsch verwendet! Dort ist der Satz viel zu lang und schwerfällig, man hätte besser drei daraus gemacht! Hier wird alles nur behauptet, das Behauptete nicht im Erzählten veranschaulicht! Hier wechselst du die Erzählperspektive in ein und demselben Satz!"

Immer mit der absurden innerlichen Vorstellung, wenn man bloß alle derartigen Kriterien abhaken täte, wäre der künstlerische Wert des Textes am Schluss unumstößlich ein für alle Male "amtlich" festgestellt. Wenn man danach alle diese Fehler korrigieren würde, hätte man doch noch einen gelungenen Text vor sich...

Nichts könnte falscher sein - dennoch läuft es in den Foren jeden Tag aufs Neue so ab.

Ich kritisiere auch die mindestens drei verschiedenen Perspektiven (ein bisschen viel ist es ja für so einen kurzen Text), aber eigentlich kritisiere ich es nicht mal, Großschriftsteller wie John Irving machen das andauernd, allerdings so, dass niemand drüber nachdenkt, nein, eigentlich zweifle ich an dem Punkt einfach die Textbeschreibung von Val Sidal an. Mehr kaum.

Die Leute in solchen Kneipen sitzen jeden Tag auf demselben Hocker, trinken dieselbe Anzahl Gläser von derselben Marke, verspielen dasselbe Geld, bekommen zum Abschied die gleichen netten Wünsche für den Resttag nachgerufen usw. Warum also nicht beim Schreiben eine arme, sich wiederholende Sprache benützen?

Was ich kritisiere, ist, dass es seine Pluspunkte (völlig vorhersehbar) auf einem diffusen Feld der Lesersympathie abgrast. Beschreib du mal die Zahnschmerzen von einem Auschwitz-Aufseher und kaum einer wird deinen Text mögen! Aber gib Mitteilung, dass unter uns arme, einsame, kranke, bedauernswerte Menschlein hausen, die keiner genügend achtet, sofort regnet es die guten Noten!

Dabei, das meinte ich durchaus genau so, wie ich es schrieb: In diesem Fall haben wir ein Problemfeld, das jeder Einzelne von uns vor der eigenen Haustüre hat und wo jeder an jedem Tag eingreifen kann. Um es leicht zu verschieben: Jeder findet das schlimm, dass alte Leute, deren Altersgenossen und Lebenspartner fast alle schon verstorben sind, mehr oder wenige ohne jede Ansprache leben müssen, Tag für Tag. Aber jeder sitzt irgendwann an der Bushaltestelle oder im Wartezimmer beim Arzt, auf dem Amt, beim Reisen in der Bahn, irgendwann mal im Gasthaus in der Nähe von so jemand und dann könnte er ein nettes Gespräch anfangen, damit die armen Menschen wieder merken, dass jemand sie respektiert! Allerdings, da sind wir alle ja nicht ganz ohne Erfahrung, könnte schon auch sein, dass wir nun ein Ohr abgekaut bekommen, mit einer Woge von Trivialitäten überschüttet werden, die uns zwar nichts angehen, die wir nicht richtig zuordnen können, die dafür aber mehrfach wiederholt werden, dass uns selbst überhaupt keine Sekunde zugehört wird, dass wir am Ende aber mehr oder weniger festgehalten, gar nicht mehr los gelassen werden...

Da ist es doch praktisch, eine Träne zu zerdrücken, wenn man so einen Text liest, ihm eine neun zu geben und zu finden, "die Gesellschaft" sollte da was tun.

Außerdem kritisiere ich, dass der Text die Grundlage, Ausgangssituation für einen komplizierteren Text ist, der dann eigentlich folgen müsste, aber eben nicht mehr kommt. Das kann man schon mal machen. Eine Geschichte ankündigen und sie nie erzählen, sie den Leser sich erzählen lassen. Aber dafür ist es wieder viel zu viel. So einen Text müsste man dann strenger von außen und kälter erzählen. Eher, wie Val Sidal es andeutet: Was die Überwachungskamera sah - und diese denkt nicht nach über das sonstige Leben des Mannes, sie zeigt bloß, was hier und jetzt äußerlich zu sehen ist. (Was es bedeutet, kann der Autor dem Leser nicht sagen, muss er sich selber sagen.)

Die Kritik, man habe sich aber wieder reichlich Zeit gelassen, etwas doch nicht so gut zu finden, sticht nicht.

Ich bin zum Beispiel ein Mitglied geworden, das kann drei Monate nicht mehr in die LL reinschauen, dann eine Woche lang täglich. Wenn ich nach längerer Zeit wieder hier bin, würde ich am liebsten auf die Schnelle sehen: "Was ist hier in der Zwischenzeit Großes passiert? Hat jemand den absoluten Knaller geworfen?" Das lässt sich so schnell aber nicht merken, meist. Also macht man das eine Mal diese, das andere Mal jene Stichprobe, zum Beispiel: A) Was ist gerade bestbewertetes Werk? B) Was hat den dicksten Balken auf der ersten Seite von dem Forum, zu dem man sich gehörig fühlt? D) Was ist von sechzig Leuten kommentiert worden? (Bestimmt auf siebenundsechzig heimlichen Seiten, die sich erst ausfalten, wenn man auf "Alle Beiträge anzeigen" klickt.) Und Ähnliches. Hier war's wieder die Probe: "Was finden sie so gut, dass es Werk des Monats werden darf?"

Das WdM steht von Monatsanfang an (diese 18 Tage!) auf der Startseite, wenn ich mir die aber 18 Tage nie angesehen habe, weiß ich nicht, was dort steht. Dafür kriegt man eine Benachrichtigungsmail (wenn man das so angekreuzt hat, ich habe). Diese aber kommt nach wie vor erst kurz nach Monatsmitte. Bei mir an dem Tag, als ich das erstgelesen und -kommentiert habe. (Von den WdM war ich in Serie schon so enttäuscht gewesen, dass ich mehrere dieser Benachrichtigungsmails sofort gelöscht habe, ohne überhaupt zu gucken, um was für eine Art von Text es sich handelt. Dieses Mal war ich wieder etwas gnädiger und bin dem Link tatsächlich nachgegangen. DocSchneider, den Namen kannte ich irgendwie als Prosaautor, den sie allgemein wohl für recht gut halten, da wollt ich doch mal wieder schauen. "Was macht "der" denn so?" - Jetzt, hinterher: Okay, kann man machen, man kann das so gut finden, dass man ihm diese WdM-Empfehlung mitgibt. Ich allerdings würde mir was anderes suchen, was ich so herausstelle. Die Ansichten gehen eben auseinander.)

Dass man oft den Lawineneffekt hat: Ein Werk wird gleich vom Ersten auf 9 gesetzt, der Zweite macht es genauso, der Dritte bringt eine 8 ... Und jetzt setzt ein Strom ein: lauter 9 und 8, zwischendurch auch mal 10, dafür jetzt aber auch mal eine 4 dazwischen, eine 3 gar, sonst aber immer weiter 9, 9, 9, ... Doch eines Tages rastet einer nicht nur seine 5 ein (die womöglich sogar gestrichen wird), sondern begründet das auch noch mit Worten, kurz drauf ein anderer, der nur 6 meint. Da setzt jetzt der andere Strom ein: 5, 6, 5, 5, 7, ...

Das hat man andauernd. Müssten wir alle inzwischen kennen. Mehrheiten legen eben keine Textqualitäten fest, das muss der User solcher Foren irgendwann mal begreifen.
 
U

USch

Gast
Hallo Dominik,
........
Immer mit der absurden innerlichen Vorstellung, wenn man bloß alle derartigen Kriterien abhaken täte, wäre der künstlerische Wert des Textes am Schluss unumstößlich ein für alle Male "amtlich" festgestellt. Wenn man danach alle diese Fehler korrigieren würde, hätte man doch noch einen gelungenen Text vor sich...
Nichts könnte falscher sein - dennoch läuft es in den Foren jeden Tag aufs Neue so ab.
Bis hierher bravo Dominik. Genau so ist es und das ist manchmal zum Verzweifeln. Diese Kleinkariertheit im Abhaken vermeintlicher Kriterien. Schriftsteller entwickeln irgendwann einmal ihren eigenen Stil. Hemingway und Irving sind gute Beispiele, aber die durften bzw. dürfen das ja.
Leider habe ich mich bisher auf diese Kritteleien zu sehr eingelassen und stelle das jetzt ab, und schon hagelt es Kritik und schlechte Noten und Verschiebungen in die Textklinik, z.B. weil´s angeblich keine KuGeSchi ist oder Wortwiederholungen zu viel sind, Oder zu viele Sätze, die mit Er anfangen.. usw. Mir ist das zu laienhaft geworden.
Zu dieser schwachsinnigen Bewerterei sag ich nichts mehr, außer: die gehört abgeschafft!
LG USch
 

Wipfel

Mitglied
Kritikbewertung

Dominik - ungeschminkter Respekt. Warum kann man hier eigentlich keine Kritik bewerten, die so oft (dieser Text ist nicht gemeint) besser sind? Ich will den Text hier nicht mit deiner Kritik vergleichen, aber ausdrücklich dein Engagement hervorheben.

Das ist mein konstruktiver Vorschlag: Ermöglicht neben der Textbewertung die Bewertung der Kritik (1 - 5 Sterne zum Beispiel).

Und Usch - ganz ehrlich: ich finde deinen letzten Beitrag peinlich. Sagte ich schon, deine literarische Selbstwahrnehmung scheint lädiert zu sein.

Und jetzt endlich zum Text: Eigentlich alles gesagt. Ob literarische Klasse dahinter steckt, würde man schnell beim Weiterlesen bemerken. So wie ich ihn las, hab ich nix zu meckern. Aber auch kein Text, der an mir rüttelt. Irgendwie der Blick auf etwas, was ich nicht ändern kann, vielleicht deshalb eher Gleichgültigkeit bestätigt. Wenn das die Absicht ist – dann ist er gelungen.

Grüße von wipfel
 

Val Sidal

Mitglied
Kritik der Kritik der Kritik ...

Die Freiheit, die Dominik Klama sich ausnimmt, wenn er meine Textbesprechung angreift:
eigentlich zweifle ich an dem Punkt einfach die Textbeschreibung von Val Sidal an. Mehr kaum.

oder

Was ich kritisiere, ist, dass es seine Pluspunkte (völlig vorhersehbar) auf einem diffusen Feld der Lesersympathie abgrast.
ist völlig in Ordnung — sie ist die unantastbare Freiheit des Lesers, aus einem Text (auch aus einem Kommentar!) lesend das zu machen, was er will.

Allerdings hatte ich meinen Kommentar völlig anders angesetzt, eben jene Freiheit des Lesers für mich in Anspruch nehmend.

Weil mich beim Betrachten des Textes der Autor nicht interessiert, und ich gelegentlich sein oft leicht erkennbares Absichtsangebot (nach dem Motto, „hier, ein kleiner, unterhaltsamer Text — viel Spass beim Lesen!“) gelegentlich nicht annehme, sondern stattdessen meine eigene Lesart anlege (… ne, lieber Autor, ich lese deinen Text mit der Haltung, einen kunstvollen, literarischen Text vor mir zu haben — lass uns sehen, was dabei rauskommt!) begebe ich mich auf eine Texterkundungsreise.

Im Fall von Automatenauge hatte ich mir gesagt: Was wäre, wenn das Werk ein experimenteller Text wäre? Was wäre, wenn der Autor sich vorgestellt hätte (nicht „hatte“, denn mich interessiert nicht, was er mit dem Text im Sinn hatte — ich habe ja sein Werk, und nicht ihn vor mir…) dass eine Maschine der Erzähler sei?

Mit meiner Einleitung habe ich die gewählte Perspektive ausdrücklich gesetzt:

Der eigentliche Protagonist der Geschichte ist der Erzähler: eine Videoüberwachung mit drei Kameras, mit festen Verankerungen und ohne Zoom: Automatenaugen. Wenn wir die Aufnahme abspulen, sehen wir schwarz/weiß, was dort jeder sehen kann …

Welche Möglichkeiten, wie viel Intelligenz die Programmierung des Systems offenbart, wird nicht angenommen oder vorausgesetzt, sondern aus dem, was davon in den Text gelangt und beobachtet werden kann, hergeleitet und besprochen.

Meine Aussagen auf Aspekte wie Konflikt, Sozialkritik usw., gelesen als Begutachtung eines von einer Maschine erstellten Textes, können schwerlich als „Lob“ für irgendwas angesehen werden. Und wenn, dann als Lob der Leistung einer Maschine — einen menschlichen Erzähler, wie Dominik reflexartig unterstellt, gibt es in meiner Lesart der Geschichte nicht:
Eine erstaunliche Geschichte – mit Automatenaugen beobachtet und von der Festplatte eines automatischen Videoüberwachungssystems abgeschrieben.
Die Kritik, die Dominik Klama kritisiert, habe ich nicht und werde ich auch nicht schreiben. Ich respektiere aber seine Entscheidung, die Absicht meines Beitrags nicht anzunehmen, und ihn zu kritisieren, wie er es getan hat.

Im Übrigen: Ich habe den Text nicht mit Noten bewertet, weil ich mir nicht anmaße, zu experimentellen Texten (wie ich nunmal den Text lesen wollte) Bewertungen abgeben zu können.
Und: Ich werte nie anonym!
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Nach Durchsicht aller neuen Kommentare:

Der Text reifte über 30 Jahre, schlummerte im Inneren, abgelegt, nie geschrieben.
Dann doch, um- und neugeschrieben. Die beschriebene Gleichgültigkeit ist es, die "betroffen" machen soll - auch wenn ich das Wort betroffen gar nicht mag - das trifft es hier aber.
Ja, jeder guckt da gerne schnell weg, wenn er die immergleichen Typen an der Theke sitzen sieht. Die kennt auch jeder. Aber wohlmöglich mit denen reden?! Nee, dafür ist die "Gesellschaft" da.
Ist sie nicht, es gibt nur Einen, der sich mal die Mühe macht, sich dazuzusetzen und einfach nach dem Karnevalsmotto "Drink doch eene mit" - das Lied hat eine ganz besondere Bedeutung ! - demjenigen ein Bier hinzustellen.

(Subjektive) Bewertungen, hoch oder niedrig, Kommentare und Auslegungen und Animositäten hin oder her, ich freue mich über die späte Aufmerksamkeit für das Automatenauge und seine Schwestern und Brüder.

Und wer weiß, wie wir enden.

Danke an alle, besondersn an Dominik Klama, für die Meinungen.

LG Doc
 
S

steky

Gast
Nun bin ich auch über diesen Text "gestolpert", und ich muss sagen: Ich bin begeistert. Ich sehe übrigens den entscheiden Satz, also den "Konflikt", wenn man so will, hier:
"Automatenauge hatte sowieso kein Problem mit diesen Kernessenszeiten, da war er nie da, denn er aß grundsätzlich nichts in der Kneipe. Das war ihm zu teuer, das konnte er sich einfach nicht leisten, nicht mit seiner schmalen Rente."
Sozialkritisch finde ich den Text eigentlich nicht, denn Automatenauge ist süchtig, und nur er selbst kann sich aus seiner Lage befreien, für die die Gesellschaft nichts kann. Für mich zeigt der Text eher, dass alles irgendwann ein Ende hat, dass jeder von uns irgendwann einmal gehen muss, "dass das Leben weitergeht". Man könnte die gleiche Szene mit einem Büroangestellten durchlaufen lassen, es wurde das gleiche Gefühl erzeugen. Das ist die Vergänglichkeit. Ich bin begeistert.
LG Steky
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Steky, vielen Dank für Deine positive Meinung, das "begeistert" und die guten Wertung(en).

Interessant, dass Du den zitierten Satz für den wichtigsten hältst. Für mich war es immer

Sie kannten noch nicht einmal seinen Namen.
Das mit der Vergänglichkeit hast Du sehr gut erfasst.

Guten Übergang ins neue Jahr - und wer weiß, wie viele Automatenaugen heute alleine feiern (müssen)...

LG DS
 
S

steky

Gast
Bitte gerne. Was den zitierten Satz betrifft, so war es zumindest die Stelle, bei dem bei mir die "Alarmglocken" läuteten. Das Gefühl am Ende kommt echt gut rüber. Du nimmst eine Person, beschreibst ihr Dasein, und reißt sie dann aus der Welt, die wie ein gewaltiger Strom gleichmütig weiter fließt - so ensteht ein Bild der Vergänglichkeit ... Das ist zumindest meine Auffassung.
Alles Gute.
Steky
 



 
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