Autorenlesung

Wladimir

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JI ist in der Stadt und liest heute Abend. Das letzte Mal habe ich die Meldung zwei Wochen zu spät gelesen - dann, dass die Lesung toll war. Diesmal buch' ich mir ein Ticket online. Jetzt. Ob ich es noch zum Friseur schaffe? Ich whatsappe Maria. Sie hat nichts mehr frei, nun hab' ich einen Termin bei ihr nächsten Donnerstag, den kann ich ja dann absagen, falls ich nicht will/kann. Also dann halt schnell zu DM, Haartönung kaufen. Am nächsten Morgen sitze ich mit Blob auf dem Kopf beim Frühstück. Meine Lesebrille hat schwarze Bügel, farbresistent, so ist das kein Problem. Ich habe mir alle seine Bücher aus dem Regal geholt und hier vor mich hingelegt, neben den Marmeladentoast, bin aber vorsichtig, Marmelade geht nicht, Kaffeeflecken schon, die sind irgendwie intellektueller. Welches ist mein Lieblingsbuch? Wohl eins seiner früheren, auf keinen Fall sein letztes, obwohl ich das nehmen sollte, oder? Wer signiert schon gerne ein Buch, das er vor 20/30 Jahren geschrieben hat? Oder noch länger her?
Ich nehme ein altes und das neue! Vielleicht sollte ich das neue aber nochmal kaufen, direkt am Büchertisch? Um zu zeigen, dass ich investitionsbereit bin. Ich behalte dann das alte, mit meinen Kaffeeflecken und verschenke das neue mit der Signatur, das ist doch ein gutes Geschenk, auch wenn es vielleicht kein gutes Buch mehr ist. Die Unterschrift bringt mir eh nichts. Wenn er natürlich was dazu schreiben würde. Was sehr, sehr Persönliches?
Meine Haare sind etwas sehr dunkel geworden. Blöd. Das sieht so frisch gefärbt aus. Peinlich. Doch ein grauer Ansatz geht gar nicht. Hat je ein Autor einen Protagonisten mit grauem Haaransatz geschrieben? Nicht JI. Das wüsste ich. Kenne all seine Sachen wirklich gut. Vielleicht sollte ich das vorschlagen. 'Haben Sie schon mal überlegt über eine Frau mit grauem Haaransatz zu schreiben? Was passiert in der Zeit, wo sie ungeschützt zur Drogerie läuft und dann passieren Dinge während sie keine Farbe auf den Ansätzen hat, in der Zeit dazwischen, zwischen den Tönungen. ZEIT DER WAHRHEIT, könnten Sie das nennen, oder besser ZEIT DER GRAUHEIT, oder GRAUZEIT oder DIE UNGESCHÜTZTE FRAU.' Wenn er da Interesse zeigt, kann ich ihm meine Emailadresse geben. Ich kann sie doch auf diese Indexkarten schreiben, die aus dem gebrochen-weißen Karton. Ich steck' zur Sicherheit zwei in das Buch, das alte, nicht das neue, das alte ist einfach besser.
Ich zieh die schwarze Jeans an und ein enges schwarzes Top, aber nicht das tief ausgeschnittene, das mit dem U-Boot-Ausschnitt, man sieht die Falten im Dekolleté nicht, nur die Fältchen am Hals, schließlich will ich ja so alt aussehen, wie ich bin, nur gut. Oder ich nehme den dicken dunkelblauen Schal dazu. Genau. Das sieht artsy aus. Die Schuhe sind ein Problem. Komplexes Problem. Er ist klein. Wie selbstbewusst ist er? Mag er große Frauen? Hasst er große Frauen? Ich könnte noch mal googlen, am Nachmittag, beim Kaffeetrinken. Meine weißen Sneaker sind bequem und machen mich auch einen Zentimeter größer. Die schwarzen Stilettos sind schon sehr elegant - und ich müsste ein Taxi nehmen. Aber naja, wie oft werde ich ihn wohl noch sehen? Ich nehme die Stilettos.

Meine Füße spüren den Druck, ich auch. Ich habe es so getimet, dass ich noch ein Glas Wein trinken kann, vorher, im Café unten. Ich stehe halb an der Bar, es ist voll, ich nehme ein Glas Savignon Blanc, ja, gerne 0,2 Liter. Dann nehme ich den Lift nach oben zum Lesungssaal. Das Mädchen, das die Tickets kontrolliert, braucht zu lange. Sie starrt irgendwie auf meins. Dann sagt sie, dass mein Ticket nur eine Vorreservierung wäre, ohne Sitzplatznummer?! Und der Saal wäre ja jetzt schon voll, 10 Minuten vor Beginn!
Ich starre sie sprachlos an, meine Stilettos zittern. Mit einer Handbewegung weist sie auf etwas hinter mir. Gerne, und selbstverständlich, könnte ich hier im Vorsaal Platz nehmen. Es würden ja auch gerade noch mehr Stühle gebracht. Naja, die Lesung wäre halt schon sehr ausgebucht, er würde ja jetzt schon über 70 sein und man wüsste nie...
Ich höre ihn sprechen. Sehen tu ich ihn nicht, natürlich. Es ist wie Lesen mit Stimme, wie ein Hörbuch, vom Autor selbst eingelesen. Nichts lenkt von den Worten ab. Nichts. Seine Stimme ist höher als ich sie mir dachte. Er macht so kleine manierierte Pausen. Er liest aus dem neuen Buch, seinem jüngsten. Ich habe zu viel Zeit beim Zuhören. Zuviel ABER entwickelt sich in meinem Kopf. In der Pause dränge ich mich durch zu so einer Behelfsbar in der Vorhalle, eigentlich ist das ein Klapptisch mit Plastikbechern drauf und einer Spielzeugkasse. Ich bezahle für einen Becher Chardonnay. Süßlich, warm. Das kann man nicht genießen. Ich stürze es runter. Die zweite Hälfte der Lesung ist kürzer. Gottseidank. Dann die Frage- und Antwortsache. Anscheinend sitzen da nur ältere Damen, die Fragen stellen. Diese Fragen sind gar keine! Sie sind Kniefälle sprachlicher Art. Ich finde das so peinlich, dass ich aufstehe und Richtung Büchertisch gehe. Unauffällig. Ich stolpere ein wenig, aber da ist zum Glück eine Säule zum Festhalten. Ich deponiere meine Bücher vor mir auf dem Tisch. Nein, kaufen werde ich das neue nicht. Ich lege sein zweites, rausgekommen vor 30+ Jahren oben auf, es hat Eselsohren, die mein Fantum bezeugen und meine Emailadressenkärtchen schauen raus. Ich werde ihn nicht zu böse anschauen. Wer mal so schreiben konnte, für den sollte noch Hoffnung sein. Wir können uns ja austauschen! Ich gebe ihm ein paar Tipps, was ich denke, worüber man jetzt so schreiben könnte/ sollte.

Er kommt aus dem Saal und ist ganz in Schwarz gekleidet, wie ich. Vor ihm eine junge Frau, die er offensichtlich kennt und die ihn leitet. Zum Tisch. Er setzt sich direkt vor mich hin. Ich versuche meine Hände, auf die ich mich gestützt habe, wegzuziehen, um etwas Distanz zu schaffen, dabei stoße ich gegen meine mitgebrachten Bücher, die Kärtchen schieben sich hinein, man kann sie nicht mehr sehen. Ich bekomme Panik. Er, kleiner als ich dachte, besonders im Sitzen, fragt mit offenem Füller, ob er etwas für mich signieren solle, greift nach dem zuunterst liegendem Neuen, spreizt die Seite auf, ich fasse danach, ziehe dran, er hält automatisch fest, es ist eine sekundenanhaltende intensive Aktion, von uns beiden. Dann stöhne ich auf, lasse los, falle rückwärts, von hoch oben - die Stilettos! - ins Bodenlose. Er schaut mir kurz erstaunt hinterher. Dann wendet er sich an die nachdrängende Dame, die ihren Zeigefinger gekonnt
aus seinem gebundenen neuesten Roman zieht, wie ich von unten sehe.
 
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