Aylene

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Stalker

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Muchnara 2
Aylene

Als die Kälte des Reifs ihre Haut berührte, zuckte sie zusammen.
Plonk!
Ein stummes Stöhnen kroch ihrem Mund.
Plonk!
Sie schien sich mit ihrer letzten Kraft entgegenstemmen zu wollen, doch grobe Hände hielten sie unbarmherzig fest.
Plonk!
Mit geübten Hammerschlägen trieb der Schmied den Nietkopf.
Ob er ahnte, was sie fühlte? Welche Gnade sie erflehte?
Zu erschöpft war ihre Seele, um es herausschreien zu können:
Wäre der Amboss nur ein Block, der Hammer nur eine Axt.

*​

Vier Monate nach dem Überfall auf den Bauernhof

Bumm!
Bumm!
Dumpf tönte das fordernde Klopfen durch das Haus.
Bumm!

Ragar blickte von seinem Mittagsmahl auf und sah, wie Keron seine neben ihm sitzende Tochter schützend an sich zog. Unwillkürlich musste er sich an jene Ereignisse erinnern, die ihr Leben einst so schmerzvoll verändert hatten.
,Willst du nicht nachsehen?", schnitt Hildes Stimme in seine Gedanken.
Er sah seine Frau an, sie zeigte keine Anzeichen von Furcht. Stumm nickte er, stand auf und ging aus der Küche zur Haustür.
,Moment! Ich komme schon!", rief er auf dem Gang.

Als Ragar die Tür öffnete, erkannte er auf Anhieb einen Offizier. Der Mann mittleren Alters war groß gewachsen, doch von unauffälliger Statur.
,Seid Ihr Ragar Baragnar, der Bauer, dessen Hof überfallen wurde?"
,Ja ... ja, das bin ich", antwortete Ragar misstrauisch.
,Mein Name ist Jazor. Ich komme im Namen unseres Fürsten Caron, um Euch die Täterin zu überlassen."
,Wie bitte?", fragte Ragar verständnislos.
Jazor machte einen Schritt zur Seite und drehte sich um. Mit der rechten Hand deutete er auf eine in winigen Schritten Entfernung auf dem Boden sitzende Gestalt. Sie hatte ihre Knie mit beiden Armen an den Leib gepresst und ihr Gesicht darauf abgesenkt. ,Diese Frau dort ist die Täterin." Er machte eine auffordernde Geste. ,Kommt und überzeugt Euch selbst."

Ragar blieb zunächst stehen, seine Augen sprangen einige Male verunsichert zwischen dem zusammengekauerten Körper und einem daneben stehenden, etwas gleichgültig wirkenden, Soldaten hin und her.
,Seht sie nur an", meinte der Offizier und wiederholte seine Armbewegung.
Zögernd ging der Bauer auf die Beiden zu. Auf ein kleines Zeichen Jazors hin griff der Soldat der Gestalt grob in den Nacken und riss sie gewaltsam hoch.
,Aber das ist doch eine Frau!", rief Ragar überrascht aus und sah zu Jazor.
,Die Verbrecherin, die Eure Familie töten wollte", erwiderte der Offizier gelassen.

Erstaunt sah Ragar die Gefangene an. Sie war groß und schlank, hatte kurz geschorene Haare und trug ein knielanges formlos wirkendes Gewand aus grobem Leinen, dessen Farbe ursprünglich braunweiß gewesen sein mag. Ihr ausgemergeltes Gesicht mit den müden schwarzen Augen war von einer dichten Schicht Straßenstaubs bedeckt. Überhaupt schien alles an ihr mit diesem hellgrauen Staub überzogen zu sein: Kleidung, Füße, Scheinbeine und die bloßen Arme. Umso deutlicher sprang ihm das Rot ihrer aufgeschlagenen Knie und der wund gescheuerten Handgelenke in sein Auge.

,Wir mussten sie den halben Weg weit hinter meinem Pferd herziehen", erklärte Jazor, der Ragars Blick verfolgte. ,Diese Verbrecher können so lange gut laufen, wie wir hinter ihnen her sind. Sonst sind sie faul und träge." Er spuckte neben ihre Füße.
,Diese Frau soll uns überfallen haben?", fragte Ragar ungläubig und sah zu Jazor.
,Ja, das ist absolut sicher. Sie wurde damals aus Eurer Scheune geholt."
Ragar nickte nachdenklich. ,Ich habe damals nur mitbekommen, wie Soldaten jemanden abführten. Meine Scheune brannte und meine Enkeltochter war schwer verletzt."
,Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen. Die Verbrecherin hat ohnehin alles gestanden", erwiderte der Offizier und zuckte mit den Schultern. ,Wenn Ihr wollt, könnt Ihr sie selbst fragen."

Ragar wollte der Fremden in das Gesicht sehen, doch sie hatte ihr Haupt gesenkt.
,Stimmt das? Habt Ihr uns überfallen?"
,Es stimmt, ich wollte alle töten", antwortete sie mit tonloser Stimme.
,Warum?" Er spürte, wie Wut kalt in ihm hochstieg. ,Warum nur? Sie ist doch noch ein Kind!"

Der Offizier packte die schweigend zu Boden blickende Gefangene am Kinn und riss ihren Kopf hoch.
,Antworte gefälligst!", befahl er barsch.
Ihre Augen huschten über Ragars Gesicht, wichen seinem Blick aber aus.
,Um Euch auszurauben", stammelte sie schließlich.

Ragar ballte die Fäuste es schien einen Moment lang, er wolle sich auf die Gefangene stürzen, doch dann wandte er sich abrupt ab. ,Nehmt Sie fort! Werft Sie in den Kerker oder hängt Sie auf, das ist mir gleich." Dann ging er zornigen Schrittes zurück zum Hauseingang, von wo aus Hilde und Keron ebenso gebannt wie erschrocken alles beobachtet hatten.

Jazor eilte hinter ihm her.
,Bauer Baragnar, so geht das nicht", rief er mit etwas Schärfe in der Stimme.
Ragar drehte sich auf der Schwelle um.
,Was geht nicht?", fragte er mit erregter Stimme.
,Wir haben die Gefangene zu euch gebracht, damit sie hier bleibt."
,Wie bitte?", fragte Ragar erstaunt. ,Was wollt Ihr?"
,Könnten wir das im Haus unter vier Augen besprechen?"
,Unter vier Augen? ... Gut, wir gehen am besten in die Stube."

Die Stube war ein großer, doch schlicht eingerichteter Raum mit zwei Fenstern nach Süden. Wände, Decke und Möbel waren aus hellbraunem Holz, die Fußbodendielen waren fast schwarz. Es gab keine Teppiche, sodass lediglich eine blau-rot karierte Tischdecke und hellgelbe Fenstervorhänge etwas Farbe in den Raum brachten. Dank des reichlich einfallenden Sonnenlichts wirkte sie dennoch hell und behaglich.

Ragar bot deinem Gast einen der mit Schnitzwerk verzierten Stühle an. ,Bitte setzt Euch, Jazor. Bitte verzeiht, wenn ich eben unhöflich war und vergaß, mit einem Offizier zu reden. Doch..."
Jazor machte eine beschwichtigende Handbewegung. ,Schon gut. Es ist eine ungewöhnliche Angelegenheit", sagte er mit einem leichten Lächeln. Er nahm den angebotenen Stuhl an und wartete, bis Ragar sich ihm am Tisch gegenüber ebenfalls gesetzt hatte. Dann wurde sein Gesicht ernst.
,Ich habe die Gefangene auf Wunsch von Fürst Caron zu Euch gebracht. Sie soll hier bei Euch bleiben und arbeiten", sagte er mit verbindlicher klingender Stimme.
,Ich soll eine Verbrecherin aufnehmen?"
,Nun, ,aufnehmen' ist vielleicht nicht das passende Wort. Habt Ihr den Reif um ihren Hals bemerkt?"
,Ja, was soll damit sein?"
,Er ist das Zeichen der Unterwerfung unter die Muchnara."
,Muchnara?", fragte Ragar erstaunt.
,Sagt euch das Nichts?"
,Doch... Davon habe ich einmal gehört, es ist das alte Gesetz der Stämme. Aber gilt es noch in unserer Zeit?"
,Es ist lange nicht mehr angewendet worden. Auch während und nach dem letzten Krieg mit den Neotikern haben wir und unser Feind darauf verzichtet, die Gefangenen zu versklaven. Die Fürsten wollten damals einen dauerhaften Frieden und ließen alle frei. Doch in diesem Fall bestand Caron auf die Muchnara. Er ist sehr verärgert über diese Banden, die sich dreist als ,Freiheitskämpfer' ausgeben. Diese mordenden Wegelagerer werden immer mehr zu einem politischen Problem. Caron entschied sich daher, hart durchzugreifen und unterwarf die Gefangene der Muchnara. Somit gehört ihr Leib dem Fürsten. Sie hat alle ihre Rechte verwirkt, unwiderruflich und für immer. Selbst ihr Name wurde getilgt."
,Was habe ich damit zu tun?"
,Caron will, dass sie Euch dient." Jazor sah Ragars skeptischen Blick und machte eine einladende Armbewegung. ,Seht es als Entschädigung für Eure erlittenen Schäden an."

Ragar lehnte sich nachdenklich zurück.
,Das ist großzügig von unserem Fürsten", meinte er vorsichtig. Er zögerte, weiterzusprechen.
,Seid offen, wir sind hier unter vier Augen", ermunterte ihn der Offizier.
,Es wäre mir lieber, Ihr nehmt sie wieder mit. Bitte versteht, sie hat meine Enkeltochter verletzt. Wie sollen wir ruhig schlafen können, wenn sie auch nur in der Nahe ist? Besser, ihr schlagt ihr einfach den Kopf ab."
Jazor machte ein bedauerndes Gesicht.
,Es ist der Wunsch des Fürsten. Ihn abzulehnen wäre eine Beleidigung."
,Könnte ich sie ... verkaufen?"
,Nein", Jazor schüttelte den Kopf, ,das geht nicht. Aylene, so wird sie genannt, ist des Fürsten Eigentum. Das dient auch zu Eurem Schutz, denn so kann sie nicht fliehen oder befreit werden und anschließend behaupten, freigelassen worden zu sein. Der Reif um ihren Hals trägt Carons Siegel, das niemand brechen darf. Ihre Angehörigen sind uns bekannt und haften für sie. So will es das alte Gesetz, und Fürst Ezlom, in dessen Land sie wohnen, hat das noch einmal bestätigt."
,Vorhin sagtet Ihr, sie würde mir überlassen, jetzt ist sie Carons Eigentum?
,Ja, das stimmt. Ihr dürft sie zwar nicht weitergeben, doch alles, was sie macht, dürft Ihr behalten." Er grinste. ,Auch ihre Kinder."

Es dauerte etwas, bis Ragar die Bedeutung der letzten Worte begriff.
,Das würde ich nie tun", erwiderte er empört.
Jazor lachte kurz auf. ,Tatsächlich? Das wäre aber Verschwendung." Als er den aufkeimenden Zorn in Ragars Gesicht sah, winkte er beschwichtigend ab. ,Das ist natürlich Eure Angelegenheit."
,Was passiert, wenn sie stirbt?", fragte Ragar, immer noch etwas aufgebracht.
,Nichts. Ihr müsst lediglich den unbeschädigten Reif als Beweis ihres Todes zurückgeben." Er strich sich nachdenklich über das Kinn. ,Das mag für einen Zivilisten schwierig sein, doch ich und meine Männer sollen ohnehin in der in der Nähe bleiben."

Jazor wartete auf eine Reaktion des Bauern, doch als Ragar nachdenklich schwieg, schlug er schließlich mit der Hand leicht auf den Tisch. ,So! Ich muss jetzt zu meinen Leuten zurück. Wie gesagt, wir sind immer in der Nähe und passen auf. Ihr könnt mich jederzeit bei meinen Männern auf dem großen westlichen Hügel finden."

*​

Hilde öffnete langsam die Tür zur Stube einen Spalt weit und sah hinein. Ragar saß immer noch auf seinem Stuhl. Sein Kopf lag schwer auf beiden Armen, dessen Ellbogen sich auf dem Tisch abstützten. Sichtlich in Gedanken versunken nahm er nicht wahr, wie sein Frau leise eintrat, und erst als sie sich ihm gegenüber setzte, wandte er sein Gesicht vom Fenster ab. Hilde wartete ab, bis der Blick ihres Mannes sie wahrnahm.
,Ich habe die Fremde in der kleinen Scheune untergebracht", sagte sie.
Ragar nickte langsam. ,Ja", meinte er, seine Stimme klang immer noch entfernt, ,Dort ist sie gut untergebracht."
Hilde beugte sich vor und legte dabei ihre Arme auf den Tisch. ,Was sollen wir jetzt machen?"
Ragar hob den Kopf an: ,Wenn ich das nur wüsste!" Er machte eine Geste der Ratlosigkeit. ,Am liebsten würde ich sie zurückgeben."
,Das geht aber nicht", meinte seine Frau nüchtern. ,Du hast mir erzählt, was der Offizier von dir verlangte. Sie solle für uns arbeiten um ihre Schuld zu begleichen."
,Ich weiß!", erwiderte er etwas gereizt und richtete sich in seinem Stuhl auf. ,Wir können nicht gegen den Wunsch unseres Fürsten handeln. Doch was sollen wir mit einer Sklavin anfangen?"
,Nun, sie hat unsere Scheune abgebrannt, das könnte sie wieder gut machen."
,Ach, die Scheune! Natürlich kann sie uns bei der Arbeit helfen, doch das meinte ich nicht. Wir sollen sie versklaven, das meinte ich. Könntest du dir vorstellen, einen Menschen mit einer Peitsche anzutreiben, schlimmer als ein Pferd?"
Hilde fuhr zurück. ,Natürlich nicht!"
Ragar nickte. ,Ich hoffte, dass du das sagen würdest." Ein Lächeln huschte über seine Gesichtszüge. ,Nein, ich wusste es." Dann wurden sie wieder ernst. ,Sie hat uns überfallen und dabei Farah verletzt, das sollten wir nicht vergessen, doch ... es wäre Rache an einer Wehrlosen."
Seine Frau nickte. ,Ich will keine Rache."
,Sie soll nur ihren Schaden wiedergutmachen", bekräftigte Ragar.

*​

Am Abend brache Hilde etwas Essen in die Scheune. Sie fand Aylene in der von ihr zugewiesenen Ecke auf einem notdürftigen Lager aus Stroh und einer alten Wolldecke. Sie schien zu schlafen, doch als Hilde sich näherte, schlug sie die Augen auf.
,Ich habe gesehen, dass du humpelst. Was ist mit deinen Füßen?"
,Verzeiht mir, Herrin, ich habe sie mir auf dem Weg zu Euch wund gelaufen", antwortete sie mit ihrer tonlosen Stimme.

Hilde streckte auffordernd ihre Hand aus, und Aylene hob ihr rechtes Bein von der Decke an. Hilde packe es an der Ferse und zog es weiter hoch, um den Fuß besser untersuchen zu können.
,Du bist es nicht gewohnt, barfuß auf unseren Wegen zu laufen. Die scharfkantigen Steine haben die Haut aufgeritzt. Es sind einige kleine Schnitte, die bei ausreichender Pflege von selbst abheilen werden." Hilde ließ den Fuß los und hob den Korb, den sie in der Hand hielt, hoch. ,Hier sind einige Essensreste." Sie stellte ihn auf dem Boden ab. Ohne eine Antwort abzuwarten wandte sie sich ab und ging aus der Scheune.

Aylene sah in den Korb. Er enthielt eine Schale voll gekochter Kartoffelschalen und zwei dicke Scheiben angeschimmeltes Brot. Hastig stopfte sie zunächst die Kartoffelreste in ihren Mund und schlang sie fast ohne zu kauen hinunter. Ihr Magen drohte einen Moment lang zu rebellieren, zu lange hatte er nicht so viel bewältigen müssen. Sie kämpfte gegen den Brechreiz an, hustete einmal, dann konnte sie weiter essen. Das Brot war steinhart, sie zerbrach es in Stücke, die sie in einem Steinkrug einweichte. Sie nahm die ersten Brocken heraus und schluckte sie herunter. Es hatte trotz des Alters einen kräftigen Geschmack und war bekömmlich. Ihr Hunger war immer noch groß, doch sie zügelte sich, um jeden Bissen zu genießen. Zum Abschluss trank sie den Krug leer, wischte das verbliebene Brot mit den Fingern heraus, leckte sie ab und ließ sich erschöpft auf die Decke zurücksinken.

*​
 

angela

Mitglied
ich finde auch den zweiten teil spannend, genau mein ding
schade, dass dich nicht auf so eine grundidee gekommen bin
und lass die blos nicht so einfach sterben, das mag ich nicht
 



 
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