GeorgZauchenbach
Mitglied
Nachdem der Mensch vom Angesicht der Erde verschwunden war, eroberte die Natur den Planeten zurück. Nach tausend Jahren, wie in einem Akt der Güte und der Vergebung, ließ Mutter Natur eine Spezies in ihrer Mitte entstehen, die mit den frühen Menschen in ihrer Beschaffenheit fast identisch ist.
Bis auf eines: ihre winzige Größe – sie entspricht die einer Hand der alten Menschen.
Kapitel eins - der Habicht
Die Sippe schläft, nur Azzuro nicht. Er schleicht sich hinaus, durch die Nachtschatten. Klettert hinauf in die Krone, hoch zum Himmel, wo tausend Sterne funkeln. Da sitzt er, atmet Stille. Unter ihm ein Meer aus Bäumen, soweit das Auge reicht. In der Ferne schimmert der neue Tag. Warmer Dunst steigt aus den Bäumen, der gewaltige Sandoro-Wald erwacht aus seinem Schlummer.
Da reißt den Jungen etwas aus dem sanften Sein - ein Vogel stürzt sich auf ihn herab. Azzuro lässt sich fallen, in die grüne Tiefe, schwingt er sich davon. Hinter ihm das Kreischen der Bestie, Blätter zerfetzt von scharfen Klauen, der gierige Schnabel schnappt nach dem kleinen Wicht. Mit letzter Kraft hechtet Azzuro durch einen Spalt, in Sicherheit. Im Schutz einer Dornenhecke kauert er. Draußen tobt der Vogel, ein Habicht, hackt auf das Dickicht ein, das seine Beute verbirgt. Zerrt an den Ranken, reißt ein Stück heraus. Durch das Loch stiert das rote Auge des Vogels hinab. Ich krieg dich, Menschenjunge.
Mit zitternder Hand holt Azzuro die Schleuder aus dem Leinenbeutel. Da findet er auch einen Stein. Einen einzigen. Ein Schluss, eine Chance. Azzuro spannt die Schleuder, wie gebannt auf das rote Auge fokussiert. Hält die Luft an. Lässt los, fällt nieder auf die Knie. Ein durchdringender Schrei, er hält sich die Ohren zu.
Azzuro wird aus seinem Versteck gezerrt. Ringsum sind Männer postiert im Geäst, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, Speeren und Äxten. Kenoah, Anführer der Waldläufer, schäumt vor Wut. Der Junge folgt ihm hinunter in den Garten. Am Eingang zum Bau des Ältesten wartet Azzuro's Mutter, Deva. »Azzuro! Geht es dir gut? Ist dir auch nichts passiert?«
»Er ist wohlauf. Wie immer.« Kenoah reißt den Jungen von seiner Mutter weg. »Ein ausgewachsener Habicht, Deva. Kannst du dir das vorstellen? Das Biest hätte uns alle töten können. Dein Sohn ist eine Gefahr für den Stamm. Ich sage es wieder und wieder, aber auf mich hört ja keiner.«
Deva schluckt. Sie umarmt Azzuro, ehe der mit dem Waldläufer im Bau von Hakeem verschwindet.
Der alte Mann sitzt auf einer geflochtenen Matte, in spärlichem Licht. Durch die Wurzeln dämmert der Morgen. Kenoah wirft den Jungen auf den Boden vor Hakeem hin. Der Alte nimmt einen Schluck aus einem Becher. »Tee?«
Kenoah schnaubt nur. »Der Bengel hat keinen Respekt vor der Stammesordnung. Der Tag wird kommen, da wird er uns alle ins Verderben stürzen!«
»Beruhige dich, Kenoah.«
»Pure Dummheit. Ignoranz. Verdammt, bin ich der einzige, der das sieht?«
Der Blick des Ältesten lastet auf Azzuro, während Kenoah's Zorn frei aus ihm heraus schießt wie eine heiße Fontäne - »Wenn ich und die Männer das Vieh nicht verjagt hätten, der Habicht wäre bis zum Garten vorgedrungen, er hätte den Sangah im Schlaf überrascht. «
»Zum Glück warst du zur Stelle, Kenoah. Ich danke dir. Im Namen des ganzen Stammes«, sagt der Älteste, und besänftigt den Wütenden ein bisschen.
Hakeem fordert den Jungen auf, sich zu erklären. Es tut ihm Leid, sagt Azzuro, und er meint es so. Der Schrecken sitzt ihm noch immer im Nacken, immerhin hat ihn fast ein Vogel erwischt. Der Junge senkt den Blick. Er versteht, dass er eine Dummheit begangen hat. Kenoah glaubt ihm kein Wort, doch Azzuro ist aufrichtig. Und eines kann er nicht für sich behalten: »Ich habe den Habicht vertrieben«, sagt der Junge, »ich habe ihm einen Stein ins Auge geschossen.«
Das versetzt Kenoah in wilde Raserei, für ihn gibt es kein Halten mehr. Seine Pranken fassen nach Azzuro. Das ist einer der seltenen Momente, in der Hakeem seine Stimme erhebt, um den erzürnten Waldläufer zur Räson zu rufen - »Nimm Platz, Kenoah.«
»Siehst du nicht, wie er uns verhöhnt? Das muss Konsequenzen haben. Eine Lektion, die er sich merkt.«
»Das sehe ich genauso, Kenoah.«
»Diesmal kommst du nicht so davon – mit ein bisschen Unkraut-Zupfen im Garten.«
»Was also schlägst du vor?«, fragt der Älteste. Und Kenoah zählt auf, was er sich so an Strafen für Azzuro ausgedacht hat. Man solle den Jungen am Waldboden aussetzen, in der Nacht. »Es soll der Allgemeinheit dienen«, sagt Hakeem.
»Wir schicken ihn Steine sammeln runter.«
»Nicht auf den Waldboden, Kenoah. Eine Arbeit auf den Tandore soll es sein. Sinnvoll, und nichts Lebensgefährliches.«
(Kenoah überlegt hin und her. Azzuro's Glück ist, dass der Stammesälteste bei solchen Dingen das letzte Wort hat.)
Schließlich kommt man zu einer Übereinkunft.
Kenoah und Azzuro marschieren zu einem Feld, am äußeren Rand des Gartens. Es ist von Unkraut, mit stacheligen Ranken überwuchert. In der Mitte ragt etwas auf; ein Wurzelstock. Den soll Azzuro ausgraben, das ist seine Aufgabe. Kenoah drückt ihm Werkzeug zum Hacken und zum Graben in die Hand. Wie lange seine Strafe dauert, fragt der Junge. »Bis du den Stumpf aus dem Boden gehauen hast. So lange wird gearbeitet«, sagt Kenoah und verschwindet.
Azzuro sucht sich erstmal ein schattiges Plätzchen. Die ganze Aufregung hat ihn müde gemacht. Ich krieg dich, Menschenjunge – kommt es ihm zu Gemüte. Was war das für eine Stimme, die er da gehört hat? Die des Habichts? Nein, das kann nicht sein. Einbildung, Fantasie?
Azzuro streckt sich, schläft ein. Und er träumt. Eine furchterregende Fratze, in der Mitte das rote Auge. Hast mir ein Auge genommen. Dafür wirst du bezahlen, Menschenjunge, elender. Den Kopf reiße ich dir ab! – Azzuro schreckt auf, hört Kenoah's Gebrüll. Der will den Jungen packen, Azzuro entwischt. Kauert im Dickicht, Kenoah schreit: »Hab ich es gewusst. Wie ich dir den Rücken zukehre, legst du dich auf die faule Haut. Aber es gibt keine Ausflüchte. Wenn ich von der Patrouille zurück bin, dann will ich was sehen. Sonst schicke ich dich ins Nest hinauf zum Ausmisten.«
Das Nest - dabei handelt es sich um ein altes, leeres Vogelnest, oben in der Krone. Es soll abgetragen werden, und dazu muss erst die bestialisch stinkende Schlacke aus Vogeldreck und fauligen Eiern aus dem Nest geschaufelt werden.
Als Kenoah's Fluchen verstummt ist, kommt Azzuro aus seinem Versteck. Seine Wut auf den Waldläufer ist übergroß, er kann an nichts anderes denken als seinen Hass auf Kenoah. Malt sich aus, wie ihn ein wütender Eicheljäger holt.
Azzuro graut vor der Vorstellung, im Vogelnest bis zu den Knien in klebrigem Mist zu stehen. Ein Blick auf den Wurzelstumpf kann nicht schaden. Nur wie soll er barfuß durch das Unkraut mit den Dornen kommen, ohne sich die Füße zu zerstechen? Azzuro hat einen Einfall: er wickelt sich Rinde und ledrige Blätter um die Füße, so kann er unbeschadet über das Feld gehen. Bei den dicken Wurzeln fängt er an zu hacken. Eine Gluthitze ist da auf dem Feld, der Schweiß brennt in seinen Augen. Der Boden ist hart und der Stein an dem Werkzeug so abgenützt, dass er zu Bruch geht. Azzuro versucht es mit der Schaufel, aber mehr als ein bisschen Staub lässt sich nicht abkratzen. Rasend vor Zorn schmeißt Azzuro das Werkzeug weit von sich und stampft davon.
Da ist eine Hängebrücke - Azzuro geht hin und setzt sich drauf, schaut in die Tiefe. Weit unter ihm, zwischen den Blättern hindurch, sieht er den Waldboden! Glaubt er zumindest. Da unten auf der Erde, im Sandoro-Wald, da wird er einmal sein, das weiß Azzuro ganz bestimmt. Herrlich, frei! Schlimmer als auf den Tandore kann es dort nicht sein. Auf der anderen Seite der Brücke sieht Azzuro einen Strauch mit roten Tupfern. Beeren. Der Junge isst sich satt, dann klettert er in die Baumkrone. Wie soll er auch arbeiten, ohne vernünftiges Werkzeug?, denkt er sich. Das glühende Feld verschwindet hinter Blattwerk.
Da taucht Hakeem auf. Durch das Geäst blickt er Azzuro an. »Ich habe eine Stärkung gebraucht«, sagt der Junge.
»Dein Werkzeug ist hin.«
»Kenoah hat mir absichtlich dieses uralte Zeug gegeben.«
»Und was jetzt? Was weiter?«
»Er will mich ins Nest zum Ausmisten schicken. Darauf hat er es angelegt, das war von Anfang an sein Plan.«
Hakeem zeigt auf Azzuro's Füße – »Rinde zum Schutz vor den Stacheln. Sehr schlau, Azzuro. Die meisten wären schon daran gescheitert. Einfallsreich. Gut so!«
»Und jetzt? Soll ich mit den Händen graben?«
»Du brauchst neues Werkzeug.«
Azzuro schüttelt den Kopf – »Auch damit geht es nicht. Der Boden ist zu hart.«
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Ich sage Kenoah, dass du dich für das Nest entschieden hast.«
»Wenn Kenoah zurück kommt, bin ich längst weg«, sagt Azzuro. »Auf dem Waldboden.«
»Du bist ein geschickter Bursche, Azzuro. Und sicher kräftig genug, um den Stamm runter zu klettern. Du kannst es schaffen.«
»Bestimmt!«
»Aber was wird aus deiner Mutter. Willst du sie allein lassen?«
Azzuro seufzt. »Selbst mit dem besten Werkzeug. Keiner schafft das. Und Kenoah weiß das.«
»Kenoah ist nicht dein Problem. Glaubst du, es wäre einfacher ohne Kenoah?«
Der Junge nickt.
»Du selbst stehst dir im Weg, Azzuro. Zorn, Wut – Hass.«
Azzuro versteht nicht. Wenn Kenoah von einem Eicheljäger zerrissen würde, dann hätte er eine Sorge weniger.
»Wenn dir unten auf dem Waldboden die Speerspitze bricht, und du brauchst ja eine Waffe, um dich zu verteidigen«, sagt der alte Mann, »was tust du?«
»Einen Stein suchen, und den zurecht klopfen, und schleifen.«
»Genau. Du schreitest zur Tat. Denn Ärger und Zorn sind eine schlechte Verteidigung vor einem hungrigen Nager oder einer Schlange.«
»Aber woher kriege ich einen Stein, auf den Tandore?«
»Nicht weit von hier ist eine Hütte. Da machen die Baumarbeiter ihre Werkzeuge. Die sollen mir den schärfsten Stein geben, den sie haben.«
Während Hakeem weg ist, macht sich Azzuro daran, aus großen Blättern und Ästen ein Sonnensegel zu bauen, gegen die Hitze.
Hakeem bringt eine neue Hacke mit fein geschliffener Schneide.
Die Arbeit ist trotz allem mühsam und beschwerlich. Azzuro ächzt und schwitzt. Hakeem von der seltsamen Stimme zu erzählen, ist ihm entfallen. Seine Mutter Deva bringt Wasser und Essen. »Gut machst du das, Azzuro! Bald werden wir das Feld bepflanzen. Hier und da ein paar Schattenspender, und weg mit dem Unkraut, frische Erde...«
»Wenn du meinst.«
»Du hast schon viel geschafft.«
»Die kleine Mulde? Die ganze Schinderei, und für was..?«
»Freu dich darüber. Hier werden Früchte und Kräuter wachsen, damit wir was zu essen haben.«
Deva streicht Azzuro über den Rücken – »Ich bin froh, dass du noch da bist.«
»Wäre es so schlimm, ein Leben im Wald? Wir könnten gemeinsam gehen.«
»Ach, Azzuro. Das Leben da unten ist rau und voller Entbehrungen, und Gefahren. Auf den Tandore ist es sicher, und wir haben alles, was wir brauchen, im Überfluss. Am Waldboden gibt es Tiere, die noch viel größer und schrecklicher als der Habicht sind. Hattest du denn keine Angst da oben?«
Azzuro erzählt seiner Mutter von der Stimme. »Jetzt ist er auf einem Auge blind. Ich glaube, er will mich holen, sich rächen.«
»Auf den Tandore kann dir nichts passieren.«
Durch einen Spalt im Blätterdach sieht Azzuro einen Schatten vorüber huschen. »Hast du das gesehen? Was war das?«
»Mach dir keine Sorgen, Azzuro. Die Späher sind wachsam.«
Da krampft sich Azzuro's Magen zusammen, und seine Knie werden weich. »Azzuro! Du bist ja ganz blass. Trink etwas. Setz dich in den Schatten.«
Der Junge schaut zum Himmel – »Er wird kommen. Ich weiß es!« Er springt auf.
»Azzuro!«
»Ich muss zu Hakeem.«
Vor dem Bau des Ältesten trifft Azzuro auf Kenoah. »Was tust du hier? Warum bist du nicht auf dem Feld? He, bleib stehen!«
Azzuro spricht zu Hakeem, die Worte überschlagen sich – »Der Habicht. Er kommt, zur Dämmerung!«
Kenoah kommt dazu – »Das geschieht also, wenn ich nicht da bin. Der Junge rennt in der Gegend herum, drückt sich bei der erstbesten Gelegenheit vor seiner Strafe!«
»Azzuro. Hol erstmal Luft«, sagt Hakeem. »Komm zur Ruhe.«
»Der Habicht. Er will mich holen, weil ich ihm ein Auge zerschossen habe.«
Kenoah: »Was spinnst du dir da zusammen?«
»Er hat es mir gesagt, im Traum.«
Der Waldläufer lacht schallend. Hakeem schickt ihn hinaus. Er blickt Azzuro in die Augen. Mit Interesse, aber nicht unbedingt mit Verständnis.
»Zur Dämmerung will er den Garten angreifen.«
Hakeem: »Durch all das Geäst, durch die Blätter und Büsche, vorbei an den Spähern?«
»Das Feld ist nicht gut geschützt. An manchen Stellen kann man den Himmel sehen.«
Der alte Mann atmet tief ein und aus. Deva kommt in den Bau.
»Azzuro. Ein Glück, da bist du.«
Der Junge windet sich aus Deva's Armen. Und er sagt: »Ich gehe zurück auf das Feld. Wenn er mich sieht, wird er nicht aufzuhalten sein. Die Späher sollen ihn kommen lassen. Bis runter in den Garten. Ich verstecke mich im Dornengestrüpp. Wenn der Habicht dann unten am Boden ist, kommen die Späher und die Waldläufer und greifen ihn an. Mit Seilen und Netzen und allem, was wir haben. Und sie jagen ihn davon. Das wird er nicht vergessen.«
Deva streckt die Hand nach Azzuro aus. Schweigen.
Hakeem mustert den Jungen. Nimmt einen Schluck Tee. Er ruft Kenoah, erklärt ihm die Einzelheiten.
»Du glaubst das allen Ernstes?«, sagt der Waldläufer zu Hakeem. »Dass ein Vogel von dieser Größe in den Garten vordringt – weil der Junge das geträumt hat?«
»Postiert euch mit Harz, und mit Reizpulver. Und spannt Seile. Ruf deine Truppe zusammen.«
»Der Junge hat zu viel Fantasie, das ist alles.«
»Wenn eine Gefahr für den Stamm besteht, dann nehme ich das ernst. Kenoah. Du bist der stärkste Krieger auf den Tandore. Wir brauchen dich unbedingt für diese Aktion«, sagt der Älteste. Kenoah mag ein Hitzkopf sein, grob und ungehobelt, vielleicht auch ein Unsympath, aber er ist ein erfahrener Kämpfer, ein Mann der Tat, durchschlagskräftig, hervorragend im Umgang mit allen möglichen Waffen. Und er versteht es, Leute zu führen, zu mobilisieren. Seine tiefe Stimme wird gehört, und die Männer gehorchen seinem Befehl. »Du bist unentbehrlich«, spricht Hakeem weiter, »es wäre verantwortungslos, wenn du nicht dabei bist, Kenoah.«
Der Waldläufer nickt. Er ruft seine Männer.
Hakeem wirft Azzuro einen Blick zu. »Er wird kommen. Ich weiß es.«
»Geht es dir auch gut?«, fragt Deva. »Du warst lange in der Sonne.«
Der Junge spannt die Brust und streckt den Rücken durch wie ein Mann, der mit absoluter Überzeugung weiß, was er zu tun hat.
Die Abendsonne wirft lange Schatten über das Feld. Ruhig steht Azzuro da, den Blick auf das Blätterdach gerichtet. Verborgen sind die Späher postiert und Waldläufer mit Pfeilen und Speeren, Netzen und Schleudern. Kenoah hält sich im Dickicht bereit. Die Dämmerung setzt ein. Azzuro hört den Waldläufer raunen: »Bist du zufrieden? Dass alle dein albernes Spielchen mitmachen?«
Azzuro kümmert sich nicht darum.
»Das ist mir zu dumm hier«, sagt Kenoah, und er steht auf, will den Waldläufern das Zeichen zum Abzug geben. Da, plötzlich: ein Schatten - Wo bist du, Menschenjunge?, hört Azzuro das Krächzen. Der Junge rennt los, schwingt sich in die Baumkrone hinauf, klettert bis zum Himmel. Da bist du! – mit dem furchterregenden Kreischen zuckt ein kalter Schauer durch seine Glieder, und Azzuro springt. Stürzt hinab, Blätter und Zweige bremsen seinen Fall nur ein bisschen. Der Habicht ist dicht an ihm dran. Getrieben von unbändiger Wut und Rachgier prescht der Vogel in die Tiefe. Azzuro kriegt einen Ast zu fassen, doch der bricht, und der Junge schlägt auf dem harten Feld auf. Benommen liegt er da, der Habicht reißt den Schnabel auf, spannt die Klauen.
Da springt Kenoah heraus, nimmt Azzuro und bringt ihn unter die Dornenranken in Sicherheit. Das Signalhorn schallt über die Tandore, und die Männer gehen auf den Vogel los. Von allen Seiten fliegen Pfeile, Speere und Steine, und sie schütten Harz auf den Vogel. Mit vereinten Kräften schlagen die Khalill den Habicht in die Flucht. Mit zerzausten und verklebten Federn flattert der einäugige Vogel davon.
Am nächsten Tag ist Azzuro schon früh auf dem Feld. Seine Mutter Deva und auch ein paar Waldläufer und Späher helfen ihm bei der Arbeit.
Bis auf eines: ihre winzige Größe – sie entspricht die einer Hand der alten Menschen.
Kapitel eins - der Habicht
Die Sippe schläft, nur Azzuro nicht. Er schleicht sich hinaus, durch die Nachtschatten. Klettert hinauf in die Krone, hoch zum Himmel, wo tausend Sterne funkeln. Da sitzt er, atmet Stille. Unter ihm ein Meer aus Bäumen, soweit das Auge reicht. In der Ferne schimmert der neue Tag. Warmer Dunst steigt aus den Bäumen, der gewaltige Sandoro-Wald erwacht aus seinem Schlummer.
Da reißt den Jungen etwas aus dem sanften Sein - ein Vogel stürzt sich auf ihn herab. Azzuro lässt sich fallen, in die grüne Tiefe, schwingt er sich davon. Hinter ihm das Kreischen der Bestie, Blätter zerfetzt von scharfen Klauen, der gierige Schnabel schnappt nach dem kleinen Wicht. Mit letzter Kraft hechtet Azzuro durch einen Spalt, in Sicherheit. Im Schutz einer Dornenhecke kauert er. Draußen tobt der Vogel, ein Habicht, hackt auf das Dickicht ein, das seine Beute verbirgt. Zerrt an den Ranken, reißt ein Stück heraus. Durch das Loch stiert das rote Auge des Vogels hinab. Ich krieg dich, Menschenjunge.
Mit zitternder Hand holt Azzuro die Schleuder aus dem Leinenbeutel. Da findet er auch einen Stein. Einen einzigen. Ein Schluss, eine Chance. Azzuro spannt die Schleuder, wie gebannt auf das rote Auge fokussiert. Hält die Luft an. Lässt los, fällt nieder auf die Knie. Ein durchdringender Schrei, er hält sich die Ohren zu.
Azzuro wird aus seinem Versteck gezerrt. Ringsum sind Männer postiert im Geäst, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, Speeren und Äxten. Kenoah, Anführer der Waldläufer, schäumt vor Wut. Der Junge folgt ihm hinunter in den Garten. Am Eingang zum Bau des Ältesten wartet Azzuro's Mutter, Deva. »Azzuro! Geht es dir gut? Ist dir auch nichts passiert?«
»Er ist wohlauf. Wie immer.« Kenoah reißt den Jungen von seiner Mutter weg. »Ein ausgewachsener Habicht, Deva. Kannst du dir das vorstellen? Das Biest hätte uns alle töten können. Dein Sohn ist eine Gefahr für den Stamm. Ich sage es wieder und wieder, aber auf mich hört ja keiner.«
Deva schluckt. Sie umarmt Azzuro, ehe der mit dem Waldläufer im Bau von Hakeem verschwindet.
Der alte Mann sitzt auf einer geflochtenen Matte, in spärlichem Licht. Durch die Wurzeln dämmert der Morgen. Kenoah wirft den Jungen auf den Boden vor Hakeem hin. Der Alte nimmt einen Schluck aus einem Becher. »Tee?«
Kenoah schnaubt nur. »Der Bengel hat keinen Respekt vor der Stammesordnung. Der Tag wird kommen, da wird er uns alle ins Verderben stürzen!«
»Beruhige dich, Kenoah.«
»Pure Dummheit. Ignoranz. Verdammt, bin ich der einzige, der das sieht?«
Der Blick des Ältesten lastet auf Azzuro, während Kenoah's Zorn frei aus ihm heraus schießt wie eine heiße Fontäne - »Wenn ich und die Männer das Vieh nicht verjagt hätten, der Habicht wäre bis zum Garten vorgedrungen, er hätte den Sangah im Schlaf überrascht. «
»Zum Glück warst du zur Stelle, Kenoah. Ich danke dir. Im Namen des ganzen Stammes«, sagt der Älteste, und besänftigt den Wütenden ein bisschen.
Hakeem fordert den Jungen auf, sich zu erklären. Es tut ihm Leid, sagt Azzuro, und er meint es so. Der Schrecken sitzt ihm noch immer im Nacken, immerhin hat ihn fast ein Vogel erwischt. Der Junge senkt den Blick. Er versteht, dass er eine Dummheit begangen hat. Kenoah glaubt ihm kein Wort, doch Azzuro ist aufrichtig. Und eines kann er nicht für sich behalten: »Ich habe den Habicht vertrieben«, sagt der Junge, »ich habe ihm einen Stein ins Auge geschossen.«
Das versetzt Kenoah in wilde Raserei, für ihn gibt es kein Halten mehr. Seine Pranken fassen nach Azzuro. Das ist einer der seltenen Momente, in der Hakeem seine Stimme erhebt, um den erzürnten Waldläufer zur Räson zu rufen - »Nimm Platz, Kenoah.«
»Siehst du nicht, wie er uns verhöhnt? Das muss Konsequenzen haben. Eine Lektion, die er sich merkt.«
»Das sehe ich genauso, Kenoah.«
»Diesmal kommst du nicht so davon – mit ein bisschen Unkraut-Zupfen im Garten.«
»Was also schlägst du vor?«, fragt der Älteste. Und Kenoah zählt auf, was er sich so an Strafen für Azzuro ausgedacht hat. Man solle den Jungen am Waldboden aussetzen, in der Nacht. »Es soll der Allgemeinheit dienen«, sagt Hakeem.
»Wir schicken ihn Steine sammeln runter.«
»Nicht auf den Waldboden, Kenoah. Eine Arbeit auf den Tandore soll es sein. Sinnvoll, und nichts Lebensgefährliches.«
(Kenoah überlegt hin und her. Azzuro's Glück ist, dass der Stammesälteste bei solchen Dingen das letzte Wort hat.)
Schließlich kommt man zu einer Übereinkunft.
Kenoah und Azzuro marschieren zu einem Feld, am äußeren Rand des Gartens. Es ist von Unkraut, mit stacheligen Ranken überwuchert. In der Mitte ragt etwas auf; ein Wurzelstock. Den soll Azzuro ausgraben, das ist seine Aufgabe. Kenoah drückt ihm Werkzeug zum Hacken und zum Graben in die Hand. Wie lange seine Strafe dauert, fragt der Junge. »Bis du den Stumpf aus dem Boden gehauen hast. So lange wird gearbeitet«, sagt Kenoah und verschwindet.
Azzuro sucht sich erstmal ein schattiges Plätzchen. Die ganze Aufregung hat ihn müde gemacht. Ich krieg dich, Menschenjunge – kommt es ihm zu Gemüte. Was war das für eine Stimme, die er da gehört hat? Die des Habichts? Nein, das kann nicht sein. Einbildung, Fantasie?
Azzuro streckt sich, schläft ein. Und er träumt. Eine furchterregende Fratze, in der Mitte das rote Auge. Hast mir ein Auge genommen. Dafür wirst du bezahlen, Menschenjunge, elender. Den Kopf reiße ich dir ab! – Azzuro schreckt auf, hört Kenoah's Gebrüll. Der will den Jungen packen, Azzuro entwischt. Kauert im Dickicht, Kenoah schreit: »Hab ich es gewusst. Wie ich dir den Rücken zukehre, legst du dich auf die faule Haut. Aber es gibt keine Ausflüchte. Wenn ich von der Patrouille zurück bin, dann will ich was sehen. Sonst schicke ich dich ins Nest hinauf zum Ausmisten.«
Das Nest - dabei handelt es sich um ein altes, leeres Vogelnest, oben in der Krone. Es soll abgetragen werden, und dazu muss erst die bestialisch stinkende Schlacke aus Vogeldreck und fauligen Eiern aus dem Nest geschaufelt werden.
Als Kenoah's Fluchen verstummt ist, kommt Azzuro aus seinem Versteck. Seine Wut auf den Waldläufer ist übergroß, er kann an nichts anderes denken als seinen Hass auf Kenoah. Malt sich aus, wie ihn ein wütender Eicheljäger holt.
Azzuro graut vor der Vorstellung, im Vogelnest bis zu den Knien in klebrigem Mist zu stehen. Ein Blick auf den Wurzelstumpf kann nicht schaden. Nur wie soll er barfuß durch das Unkraut mit den Dornen kommen, ohne sich die Füße zu zerstechen? Azzuro hat einen Einfall: er wickelt sich Rinde und ledrige Blätter um die Füße, so kann er unbeschadet über das Feld gehen. Bei den dicken Wurzeln fängt er an zu hacken. Eine Gluthitze ist da auf dem Feld, der Schweiß brennt in seinen Augen. Der Boden ist hart und der Stein an dem Werkzeug so abgenützt, dass er zu Bruch geht. Azzuro versucht es mit der Schaufel, aber mehr als ein bisschen Staub lässt sich nicht abkratzen. Rasend vor Zorn schmeißt Azzuro das Werkzeug weit von sich und stampft davon.
Da ist eine Hängebrücke - Azzuro geht hin und setzt sich drauf, schaut in die Tiefe. Weit unter ihm, zwischen den Blättern hindurch, sieht er den Waldboden! Glaubt er zumindest. Da unten auf der Erde, im Sandoro-Wald, da wird er einmal sein, das weiß Azzuro ganz bestimmt. Herrlich, frei! Schlimmer als auf den Tandore kann es dort nicht sein. Auf der anderen Seite der Brücke sieht Azzuro einen Strauch mit roten Tupfern. Beeren. Der Junge isst sich satt, dann klettert er in die Baumkrone. Wie soll er auch arbeiten, ohne vernünftiges Werkzeug?, denkt er sich. Das glühende Feld verschwindet hinter Blattwerk.
Da taucht Hakeem auf. Durch das Geäst blickt er Azzuro an. »Ich habe eine Stärkung gebraucht«, sagt der Junge.
»Dein Werkzeug ist hin.«
»Kenoah hat mir absichtlich dieses uralte Zeug gegeben.«
»Und was jetzt? Was weiter?«
»Er will mich ins Nest zum Ausmisten schicken. Darauf hat er es angelegt, das war von Anfang an sein Plan.«
Hakeem zeigt auf Azzuro's Füße – »Rinde zum Schutz vor den Stacheln. Sehr schlau, Azzuro. Die meisten wären schon daran gescheitert. Einfallsreich. Gut so!«
»Und jetzt? Soll ich mit den Händen graben?«
»Du brauchst neues Werkzeug.«
Azzuro schüttelt den Kopf – »Auch damit geht es nicht. Der Boden ist zu hart.«
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Ich sage Kenoah, dass du dich für das Nest entschieden hast.«
»Wenn Kenoah zurück kommt, bin ich längst weg«, sagt Azzuro. »Auf dem Waldboden.«
»Du bist ein geschickter Bursche, Azzuro. Und sicher kräftig genug, um den Stamm runter zu klettern. Du kannst es schaffen.«
»Bestimmt!«
»Aber was wird aus deiner Mutter. Willst du sie allein lassen?«
Azzuro seufzt. »Selbst mit dem besten Werkzeug. Keiner schafft das. Und Kenoah weiß das.«
»Kenoah ist nicht dein Problem. Glaubst du, es wäre einfacher ohne Kenoah?«
Der Junge nickt.
»Du selbst stehst dir im Weg, Azzuro. Zorn, Wut – Hass.«
Azzuro versteht nicht. Wenn Kenoah von einem Eicheljäger zerrissen würde, dann hätte er eine Sorge weniger.
»Wenn dir unten auf dem Waldboden die Speerspitze bricht, und du brauchst ja eine Waffe, um dich zu verteidigen«, sagt der alte Mann, »was tust du?«
»Einen Stein suchen, und den zurecht klopfen, und schleifen.«
»Genau. Du schreitest zur Tat. Denn Ärger und Zorn sind eine schlechte Verteidigung vor einem hungrigen Nager oder einer Schlange.«
»Aber woher kriege ich einen Stein, auf den Tandore?«
»Nicht weit von hier ist eine Hütte. Da machen die Baumarbeiter ihre Werkzeuge. Die sollen mir den schärfsten Stein geben, den sie haben.«
Während Hakeem weg ist, macht sich Azzuro daran, aus großen Blättern und Ästen ein Sonnensegel zu bauen, gegen die Hitze.
Hakeem bringt eine neue Hacke mit fein geschliffener Schneide.
Die Arbeit ist trotz allem mühsam und beschwerlich. Azzuro ächzt und schwitzt. Hakeem von der seltsamen Stimme zu erzählen, ist ihm entfallen. Seine Mutter Deva bringt Wasser und Essen. »Gut machst du das, Azzuro! Bald werden wir das Feld bepflanzen. Hier und da ein paar Schattenspender, und weg mit dem Unkraut, frische Erde...«
»Wenn du meinst.«
»Du hast schon viel geschafft.«
»Die kleine Mulde? Die ganze Schinderei, und für was..?«
»Freu dich darüber. Hier werden Früchte und Kräuter wachsen, damit wir was zu essen haben.«
Deva streicht Azzuro über den Rücken – »Ich bin froh, dass du noch da bist.«
»Wäre es so schlimm, ein Leben im Wald? Wir könnten gemeinsam gehen.«
»Ach, Azzuro. Das Leben da unten ist rau und voller Entbehrungen, und Gefahren. Auf den Tandore ist es sicher, und wir haben alles, was wir brauchen, im Überfluss. Am Waldboden gibt es Tiere, die noch viel größer und schrecklicher als der Habicht sind. Hattest du denn keine Angst da oben?«
Azzuro erzählt seiner Mutter von der Stimme. »Jetzt ist er auf einem Auge blind. Ich glaube, er will mich holen, sich rächen.«
»Auf den Tandore kann dir nichts passieren.«
Durch einen Spalt im Blätterdach sieht Azzuro einen Schatten vorüber huschen. »Hast du das gesehen? Was war das?«
»Mach dir keine Sorgen, Azzuro. Die Späher sind wachsam.«
Da krampft sich Azzuro's Magen zusammen, und seine Knie werden weich. »Azzuro! Du bist ja ganz blass. Trink etwas. Setz dich in den Schatten.«
Der Junge schaut zum Himmel – »Er wird kommen. Ich weiß es!« Er springt auf.
»Azzuro!«
»Ich muss zu Hakeem.«
Vor dem Bau des Ältesten trifft Azzuro auf Kenoah. »Was tust du hier? Warum bist du nicht auf dem Feld? He, bleib stehen!«
Azzuro spricht zu Hakeem, die Worte überschlagen sich – »Der Habicht. Er kommt, zur Dämmerung!«
Kenoah kommt dazu – »Das geschieht also, wenn ich nicht da bin. Der Junge rennt in der Gegend herum, drückt sich bei der erstbesten Gelegenheit vor seiner Strafe!«
»Azzuro. Hol erstmal Luft«, sagt Hakeem. »Komm zur Ruhe.«
»Der Habicht. Er will mich holen, weil ich ihm ein Auge zerschossen habe.«
Kenoah: »Was spinnst du dir da zusammen?«
»Er hat es mir gesagt, im Traum.«
Der Waldläufer lacht schallend. Hakeem schickt ihn hinaus. Er blickt Azzuro in die Augen. Mit Interesse, aber nicht unbedingt mit Verständnis.
»Zur Dämmerung will er den Garten angreifen.«
Hakeem: »Durch all das Geäst, durch die Blätter und Büsche, vorbei an den Spähern?«
»Das Feld ist nicht gut geschützt. An manchen Stellen kann man den Himmel sehen.«
Der alte Mann atmet tief ein und aus. Deva kommt in den Bau.
»Azzuro. Ein Glück, da bist du.«
Der Junge windet sich aus Deva's Armen. Und er sagt: »Ich gehe zurück auf das Feld. Wenn er mich sieht, wird er nicht aufzuhalten sein. Die Späher sollen ihn kommen lassen. Bis runter in den Garten. Ich verstecke mich im Dornengestrüpp. Wenn der Habicht dann unten am Boden ist, kommen die Späher und die Waldläufer und greifen ihn an. Mit Seilen und Netzen und allem, was wir haben. Und sie jagen ihn davon. Das wird er nicht vergessen.«
Deva streckt die Hand nach Azzuro aus. Schweigen.
Hakeem mustert den Jungen. Nimmt einen Schluck Tee. Er ruft Kenoah, erklärt ihm die Einzelheiten.
»Du glaubst das allen Ernstes?«, sagt der Waldläufer zu Hakeem. »Dass ein Vogel von dieser Größe in den Garten vordringt – weil der Junge das geträumt hat?«
»Postiert euch mit Harz, und mit Reizpulver. Und spannt Seile. Ruf deine Truppe zusammen.«
»Der Junge hat zu viel Fantasie, das ist alles.«
»Wenn eine Gefahr für den Stamm besteht, dann nehme ich das ernst. Kenoah. Du bist der stärkste Krieger auf den Tandore. Wir brauchen dich unbedingt für diese Aktion«, sagt der Älteste. Kenoah mag ein Hitzkopf sein, grob und ungehobelt, vielleicht auch ein Unsympath, aber er ist ein erfahrener Kämpfer, ein Mann der Tat, durchschlagskräftig, hervorragend im Umgang mit allen möglichen Waffen. Und er versteht es, Leute zu führen, zu mobilisieren. Seine tiefe Stimme wird gehört, und die Männer gehorchen seinem Befehl. »Du bist unentbehrlich«, spricht Hakeem weiter, »es wäre verantwortungslos, wenn du nicht dabei bist, Kenoah.«
Der Waldläufer nickt. Er ruft seine Männer.
Hakeem wirft Azzuro einen Blick zu. »Er wird kommen. Ich weiß es.«
»Geht es dir auch gut?«, fragt Deva. »Du warst lange in der Sonne.«
Der Junge spannt die Brust und streckt den Rücken durch wie ein Mann, der mit absoluter Überzeugung weiß, was er zu tun hat.
Die Abendsonne wirft lange Schatten über das Feld. Ruhig steht Azzuro da, den Blick auf das Blätterdach gerichtet. Verborgen sind die Späher postiert und Waldläufer mit Pfeilen und Speeren, Netzen und Schleudern. Kenoah hält sich im Dickicht bereit. Die Dämmerung setzt ein. Azzuro hört den Waldläufer raunen: »Bist du zufrieden? Dass alle dein albernes Spielchen mitmachen?«
Azzuro kümmert sich nicht darum.
»Das ist mir zu dumm hier«, sagt Kenoah, und er steht auf, will den Waldläufern das Zeichen zum Abzug geben. Da, plötzlich: ein Schatten - Wo bist du, Menschenjunge?, hört Azzuro das Krächzen. Der Junge rennt los, schwingt sich in die Baumkrone hinauf, klettert bis zum Himmel. Da bist du! – mit dem furchterregenden Kreischen zuckt ein kalter Schauer durch seine Glieder, und Azzuro springt. Stürzt hinab, Blätter und Zweige bremsen seinen Fall nur ein bisschen. Der Habicht ist dicht an ihm dran. Getrieben von unbändiger Wut und Rachgier prescht der Vogel in die Tiefe. Azzuro kriegt einen Ast zu fassen, doch der bricht, und der Junge schlägt auf dem harten Feld auf. Benommen liegt er da, der Habicht reißt den Schnabel auf, spannt die Klauen.
Da springt Kenoah heraus, nimmt Azzuro und bringt ihn unter die Dornenranken in Sicherheit. Das Signalhorn schallt über die Tandore, und die Männer gehen auf den Vogel los. Von allen Seiten fliegen Pfeile, Speere und Steine, und sie schütten Harz auf den Vogel. Mit vereinten Kräften schlagen die Khalill den Habicht in die Flucht. Mit zerzausten und verklebten Federn flattert der einäugige Vogel davon.
Am nächsten Tag ist Azzuro schon früh auf dem Feld. Seine Mutter Deva und auch ein paar Waldläufer und Späher helfen ihm bei der Arbeit.
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