Babylon

lietzensee

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Babylon​

Wie jeden Morgen trat Eli aus seinem Haus auf dem dritten Hügel. Vor ihm lagen die Straßen und Dächer der altehrwürdigen Stadt Babylon. Ein Nachbar kam die Gasse herauf und Eli grüßte aus Reflex.
"Schönes Wetter", sagte der Nachbar, nach der Gewohnheit des Volkes um Belanglosigkeit bemüht. Die Liste der Dinge, über die man zwischen den Hügeln reden wollte, war über die Jahre stetig kürzer geworden. "Heut bleibt der Himmel wohl bedeckt und es wird nicht zu heiß."
Eli hob den Blick. Gewaltige Wolken blähten sich über den Türmen und Palästen von Babylon. Sie leuchteten violett, grün und rot. Er schüttelte nur den Kopf und stieg ohne Antwort den Weg zur Stadt hinab. Das waren keine Schönwetterwolken.
Als er vor Wochen einer Ziege den Bauch aufgeschnitten hatte, um ihre Leber zu betrachten, war ihm alles zunächst nicht so dramatisch erschienen. Das Naplastum hatte davor gewarnt, dass eine Freundschaft durch eine schwere Krise geprüft werde. Sowas kam vor. Das Padānum war dann belanglos gewesen und das Naṣraptum hatte auf das Danānum verwiesen. Das Danānum aber hatte eindeutig den Untergang der Stadt Babylon vorausgesagt. Alle weiteren Bereiche der Leber, vom Bāb Ekallim bis zum Nīrum, hatten diese Vorhersage nur bestärkt. Für die schreckliche Botschaft wurde Eli dann verlacht. Man verwies auf die Deutung des Vogelflugs und andere Pseudowissenschaften, deren Prognosen vorsichtig optimistisch waren. Er aber bestand natürlich auf seine Kunst. Das Lesen der Eingeweide hatte Eli gelernt und von Analphabeten ließ er sich nichts sagen. Der Untergang war unabwendbar. Vergebens versuchte er, die Mächtigen der Stadt zur Vernunft zu bringen. Weise Männer schüttelten die Köpfe und Senatoren erklärten ihn für verrückt. Die einzige Hoffnung war seine Freundschaft zum Hohepriester von Babylon gewesen. Ashar hatte ihm die Ausbildung zum Hieroskopen überhaupt erst ermöglicht. Hohepriester Ashar aber lachte ihm vor allen Würdenträgern ins Gesicht. Angst, rief er, sei nie eine Tugend der ehrwürdigen Babylonier gewesen. Eine tausendjährige Stadt fürchte sich nicht vor der Zukunft, sondern sei stolz auf ihre Vergangenheit. Darum war Ashar der größte Idiot von allen!
Am Brunnen lachte Eli wie jeden Morgen der Fischhändler entgegen. "Na, Herr Lebergucker", rief der, "die Stadt steht ja immer noch."
"Noch", entgegnete Eli und zeigte nach oben. "Aber siehst du nicht die schwarzen Schwingen, die über der Stadt kreisen?"
"Ach was", winkte der Händler ab und machte sich an einem Barsch zu schaffen, "das sieht schlimmer aus, als es ist."
Eli überlegte, ob er den vierten Hügel zu Ashars Villa aufsteigen sollte. Früher war er auf diesem Weg immer Ashars Einladungen zu Festessen gefolgt. Jetzt könnte er zumindest noch einmal zeigen, wer von ihnen beiden zuletzt lachte. Durch die Wolken über die Stadt sah man schon die Schnäbel von Monstern stoßen. Genug Zeit sollte nach dem Pūṣum der Leber trotzdem noch sein. Aber zu einem Lachen war ihm nicht zumute.
Im Schatten der Markthalle hätte Eli fast den Propheten übersehen. Der lehnte an einer Wand, die Augen halb geschlossen, seine Warnschriften vor sich auf das Pflaster gelegt. Dabei hatte er über Jahre hinweg unermüdlich Buße und Umkehr gepredigt. Jetzt döste er und aus den Wolken über ihnen hallte drohendes Fauchen.
"Gerade jetzt musst du faulenzen?", fragte Eli.
"Heute ist mir nicht nach Arbeit", antwortete der Prophet, "Vielleicht morgen wieder."
Da setzte auch Eli sich zu einer Rast in den Schatten. Er atmete die Stadtluft von Babylon, geschlachtete Tiere, gutes Essen und schlechte Menschen. Wieder blickte er in den Himmel. Von dort sanken die Wolken tiefer hinab.
Da trat Gabriel aus dem Tor der Halle. Manchmal war Babylon ein Dorf und Gabriel war der Einzige, der Elis Warnungen vorbehaltlos geglaubt hatte. Dumm nur, dass Gabriel ein Vollidiot war.
"Eli!", rief er lachend und zeigte nach oben auf die nun schwarz verfärbten Wolken. "Sie sind da."
Eli nickte widerwillig.
"Sie sind endlich da. Du hast natürlich recht gehabt und ich bin vorbereitet." Hinter seinem Rücken zog er ein Lasso hervor. Lachend versuchte er ein paar Mal, es in der Luft zu schwingen. "Ich werde mir ein Reittier aus diesen Wolken fangen. Ich werde es satteln und schmücken und der edelste Reiter auf der nächsten Festprozession sein."
In kurzer Frist würden von dieser Stadt nur Schutt und Asche bleiben, dachte Eli wütend. Hätte ihm das nicht wenigstens eine weitere Begegnung mit Gabriel ersparen können? Eine große Feuerkugel fuhr hernieder. Sie zog einen glühenden Schweif, schlug in das Hafenviertel ein und ließ Fischkörbe, Segel und Menschen aufspritzen.
"Ein Glück", sagte jemand im Vorbeigehen, "mein Boot liegt gut vertäut flussaufwärts."
Da sprang Eli auf und lief los. Egal wohin, er wollte weg von den Menschen und ihrer Dummheit. In allen Vierteln der Stadt schlug nun das Feuer ein. Monster stürzten auf schwarzen Schwingen herab und rissen Menschen mit sich in die Wolken. Zwei Hügel der stolzen Stadt Babylon brannten, dann vier, dann fünf, dann alle sieben. Zu spät fiel Eli ein, dass er sich vor dem Ende noch hätte von seiner Familie verabschieden können. Aber auch sie hatten ihm ja nicht glauben wollen, warum also die Mühe? Nur sein alter Freund Ashar ging ihm nicht aus dem Kopf. Darum war Eli auch kaum überrascht, als dieser plötzlich vor ihm stand.
"Babylon ist ein Dorf", lachte Ashar und blinzelte durch den dicker werdenden Rauch.
"Ashar ...", rief Eli, wusste dann aber nicht mehr, was er noch sagen sollte. Er konnte die Idioten nicht überzeugen. Vielleicht konnte er sie gerade darum nicht überzeugen, weil er sie alle für Idioten hielt. Dem Untergang geweiht war die idiotische Stadt Babylon.
"Sag nichts", rief Ashar, "ich verstehe schon." Etwas von der alten Wärme glühte in seiner Stimme auf. "Manchmal wirst du zu ängstlich, wenn ein Gewitter aufzieht. Jetzt willst dich dafür entschuldigen." Er streckte die Hand aus, "Angstzustände hat jeder mal, wenn seine vier Körpersäfte nicht im Gleichgewicht sind."
Lange starrte Eli sprachlos. Schließlich griff er die Hand und schüttelte sie.
Ashar schrie gegen den Lärm: "Kommst du morgen zum Essen? Ich gebe ein großes Festbankett."
"Morgen?", rief Ashar und lachte in den Sturm. "Warum nicht? Für Morgen hatte ich eh keine Pläne." Sie fielen sich versöhnt in die Arme und wurden zusammen von einer feurigen Kralle durchbohrt.

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Die Fachwörter zur Organschau habe ich der Wikipedia entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Hieroskopie
 



 
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