Ballast

Kyra

Mitglied
Ballast

Es ist wie immer am Freitagabend, die Schlange vor Danielas Kasse wird immer länger. Sie sitzt auf der Kante ihres Drehstuhls und schiebt die Packungen mit geizigen Bewegungen am Lesegerät vorbei. Obwohl die feuchte Oktoberkühle ihr durch die Eingangstür über den Rücken streicht, ist ihr fast übel vor Hitze. Während ein alter Mann mit fahrigen Fingern Münzen aus der kleinen Geldbörse fischt, lässt sie den Kopf sinken und sieht auf die Grübchen in ihren Handrücken – Babyhände, es sind viel zu große, verletzliche Babyhände, die auf ihren vollen Oberschenkeln liegen. Rund und weich, mit rosig polierten Nägeln ruhen sie dort nebeneinander, wie zwei zufriedene Seekühe. Daniela trägt wie immer einen dunkelblauen Kittel über der Hose, ein weites Zelt in dem ihr Körper sich verkriechen kann, die riesigen Brüste, der unförmigen Bauch, dieser afrikanisch ausladenden Hintern, der ihr immer das Gefühl gibt, alle lachen über sie, sobald sie sich umdreht. Als sie den Blick wieder hebt, liegt das Geld von dem Alten schon da und er wartet mit einem geduldigen Lächeln. Die Röte der Gereiztheit steigt ihr in das hübsche, leicht aufgedunsene Gesicht, während sie die Münzen ungezählt in die Kasse wirft. Sie will heute keine Freundlichkeiten, keine Nachsicht, kein Verständnis – nicht einmal Streit, sie wünscht sich nur Leere, Ruhe, eine riesige Fläche Nichts, Stillstand, den Tod im Leben. Ohne zu denken kassiert sie weiter bis immer weniger Menschen das Geschäft betreten, es langsam ruhig um sie wird, die Gespräche an der Bäckereitheke wieder zu verstehen sind und sie nicht mehr in herbstblasse müde Gesichter blicken muss.
Jetzt fühlt sie es wieder, diese verhasste Bewegung in ihrem Inneren – jenes Wesen, das in ihr heranwächst, ohne sie je gefragt zu haben, ob sie es wolle, ob sie das ertragen könne. Wie ein Parasit ernährt es sich schon seit über neun Monaten von ihrem Leib und verlässt ihn erst, wenn es vor der Welt als Mensch gilt.
Daniela schämt sich schon lange für ihren Körper, aber seitdem sie fühlt, wie sich dieses eigene Leben in ihm entwickelt, mischt sich die Scham mit Ekel.
Mit flachem Atem bedient sie die letzten Kunden, nimmt die Schublade aus der Kasse und geht ins Büro, um das Geld zu zählen. Hier trifft sie den Mann, der bei einer gehetzten ungeschickten Begegnung im Lager, zwischen Kartons mit Tomatensuppe und einer Palette Kartoffeln Marke Hansa, den Samen in sie pflanze – er arbeitet in der Fleischabteilung, sie begegnen sich jeden Abend bei der Abrechnung, aber seit jenem Tag schaffen sie es beide, sich in diesem winzigen Raum zu bewegen, als seien sie Lichtjahre voneinander entfernt.
Seitdem träumt Daniela häufig von einem kleinen Topf mit blutroter Suppe, in die ihr alles hineinfällt, was sie gerne hat. Der kleine Clown, der auf ihrem Bett sitzt, die Katze die sie als Kind hatte, ihr Lieblingslehrer aus der Volksschule, einmal ist selbst ihre ganze Wohnung darin untergegangen. Immer muss sie dann selber in die heiße Röte hinabsteigen, aber nie ist es ihr gelungen, den geliebten Gegenstand zu bergen. Nachdem sie einmal, nach so einem Traum in ihrem rot bezogenen Bett erwachte und nicht mehr aufhören konnte zu schreien, schläft sie nur noch in weißer Bettwäsche.
Die letzten Monate hatte sie versucht, dieses Geschöpf in sich zu töten, mit Gedanken, mit Schlägen und mit einer Stricknadel, mit Alkohol und Tabletten. Ihr ging es dabei immer schlechter, aber nichts von dem schien bis in die tiefe Höhlung ihres Bauches vordringen zu können - sie ist machtlos gegen dieses angeblich so verletzliche Lebewesen.
Auf ihrem kurzen Heimweg überkommt sie wieder dieser unerträgliche Ekel, am liebsten würde sie sich mit bloßen Händen den Bauch aufreißen und dieses Ding herausholen, nur um endlich wieder alleine zu sein. Daniela ist gerne alleine, sehr gerne – wenn jemand sie fragte, was ihr im Leben am wichtigsten sei, würde sie ohne zögern antworten können. Mit trockenen Augen der Wut betritt sie ihre Wohnung, lässt Tasche und Mantel fallen, ein Kleidungsstück nach dem anderen zieht sie sich aus, während sie ins Bad geht. Später, im warmen Wasser, weicht der Zorn einer fast angenehmen, gedankenlosen Trauer, in der sie sich alleine und geborgen fühlt.
Als sie sich später abtrocknet, fällt ihr Blick in den großen Spiegel an der Badezimmertür. Manchmal, wenn es ihr gelingt, völlig zu vergessen wie andere sie sehen, kann sie ihren Körper ohne Abscheu betrachten. Alles an ihr ist schwer und stark, die Üppigkeit erscheint ihr dann als Geschenk eines großzügigen Schöpfers. Ihre breiten Hüften sind der reine Ausdruck der Fruchtbarkeit. Sie war jung, ihre Fülle spannte die zarte Haut über dem Bauch, lässt sie aber nicht reißen. Sie zuckt zusammen als sie dort plötzlich eine Bewegung fühlt, starrt in den Spiegel und beobachtet wie sich dort eine kleine Erhebung abzeichnet, wie ein Kätzchen unter dem Laken – nur ist dies kein Kätzchen, sondern beharrt darauf, ein Teil von ihr zu sein. Die friedliche Stimmung ist verbraucht, aufgesaugt von ihrem Unterleib.
In der Nacht wird sie von ziehenden Schmerzen geweckt, Daniela ist sofort hellwach. Seit Monaten hatte sie die Gedanken an diesen Augenblick vermieden, aber sie ist sich sicher, es alleine durchstehen zu können. Niemand weiß davon, keiner wird es je erfahren. Die nächsten Stunden sind eine qualvolle Erlösung. Nachdem sie mühsam mit einer Schere die Nabelschnur durchtrennt hatte, bindet sie ihre Verbindung mit dem Baby endgültig ab und wickelt es sorgfältig in mehrere Handtücher. Dabei vermeidet sie es, ihm in das winzige rote Gesicht zu sehen, sie verschließt ihre Ohren vor den ersten zarten Schreien und schickt ihre Gedanken auf einen Vogelflug über die Baumwipfel eines Urwaldes. Niemand beachtet auf der nächtlichen Strasse eine große schwere Frau, die mit einem Packen im Arm mit erschöpften Schritten zum Krankenhaus geht. Im Vorübergehen legt sie das Bündel vor dem Portal der Klinik ab.
Wenig später liegt sie in ihrem, wieder blutrot bezogenem Bett und fällt in einen traumlosen Schlaf.

Frage: ist das Präsens gut in dieser Geschichte, oder nicht?
(Mal von allem anderen abgesehen)
 

Breimann

Mitglied
Glückwunsch

Hallo Kyra,
zunächst zur Frage: Ich denke, dass man diese Geschichte nur im Präsens erzählen darf. Das erzeugt diese Aktualität, diese atemberaubende Schnelligkeit und das Gefüh dabei zu sein.
Nur an eine Stelle verlässt du versehentlich diese Zeitform: "Nachdem sie mühsam mit einer Schere die Nabelschnur durchtrennt hatte, bindet sie ihre..."

Dein Erzählstil gefällt mir, der Aufbau der Erzählung, die schonungslose Beschreibungen des "fülligen Körpers" und die stillen Qualen, die diese "missbrauchte" junge Frau erleiden muss,sind hervorragend.
Ich bin gespannt auf Reaktionen!
Mit lieben Grüßen aus der Ferne
eduard
 

gladiator

Mitglied
Hallo Kyra

Auf jeden Fall Präsens. Ansonsten nichts mehr verändern, bis auf den Tempusfehler natürlich, den Breimann angemerkt hat.

Gruß
Gladiator
 
K

Kadra

Gast
Hallo Kyra!

Meinen Glückwunsch zu dieser Geschichte. Du hast ein schweres Thema gewählt und dies mit viel Gefühl, erstaunlicher Präzision und Menschenkenntnis umgesetzt.

Ich schließe mich den beiden Kommentaren vor mir an. Präsens passt hier hervorragend. Einen Tempusfehler habe ich jedoch noch gefunden:

Sie war jung, ihre Fülle spannte die zarte Haut über dem Bauch, lässt sie aber nicht reißen.

Lieben Gruss von

Kadra
 



 
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