Barfliegen

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Marcus Soike

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Kneipe


„Graaahzorrrknt!“ – im Halbschlaf gemurmelt.
Es war eine schmierige Altmännerkneipe, lange Theke, hohe Hocker, die man mit dem Holzhammer auf zeitgeistig getrimmt hatte: Neonröhren, Dart-Automat, Metallica in der Musikbox, billige Lichterketten an den Wänden, verirrt herumstehende Bistrotischchen. Ein Fischernetz unter der gesamten Fläche der Decke. Die Kneipe schien nicht zu wissen, wo sie hingehörte, aber das war okay.
Alte Leute, junge Leute. Zumeist Einzelgänger, depressive Süffel. Zur Zeit nahm niemand eine Bestellung auf. Sie starrten in ihr halbvolles Bier, in ihr halbleeres Bier, in den Schaumrest auf dem Glasboden, auf den Fingernagel, die sie in den Schaumrest gerotzt hatten.
Fridolin wusste, dass gleich sein Einsatz kam.
Der Wirt wusste, dass jetzt Fridolins Einsatz kam. Der Wirt wischte seit einigen Minuten an einem Bierhumpen rum und lehnte dabei an dem Spirituosen-Regal hinter der Theke. „Fridolin, dein Einsatz!“, rief er.
Im Fischernetz unter der Zimmerdecke pulsierte ein grüner Klumpen. Zwischen den dekorativen Plastikfischen, -Kraken, -Muscheln und –Zitterrochen fiel er kaum auf. Er mochte eine besonders fettgefressene Qualle sein. Dort oben, wo sich der Kneipengestank sammelte... Es kam Leben in den grünen Klumpen, Ärmchen und Beinchen kamen aus der Masse hervor, und ein kleines grünes Männchen krabbelte in seine Arbeitsposition. Grüne Zipfelmütze, grüner Rauschebart, grüner Kittel, grünes Gesichtchen mit einer langen grünen Nase. Das Männchen krabbelte, bis es über einem Barhocker mitsamt einem alten Süffel zum Stehen kam. Der Süffel döste mit offenen Augen. Vor sich, auf der Theke, ein leeres Bierglas.
„Einen Hauch Revolution!“, bestellte der Wirt.
Das Männchen –Fridolin- öffnete weit den Mund, ließ die Zunge baumeln und sonderte einen langen, grünen, sehr dickflüssigen Schleimfaden ab. Der Faden sank langsam in die Tiefe, bis er den Kopf des Süffels berührte.
Der Süffel zuckte zusammen, ergriff das leere Bierglas, schmetterte es auf den Boden und rief: „Ich habe keinen Bock mehr auf diese Scheiße!“ Dann bestellte er ein frisches Bier.
Fridolin zog den Schleimfaden wieder hoch und krabbelte im Fischernetz in eine andere Position.
Am Fenster zog ein Schwertfisch vorbei. Auf seinem Schwert hatte er eine Filtertüte aufgespießt. Seine Kaffeemaschine, das Scheißding, war kaputt.
„Einmal Existenzialismus, bitte!“, bestellte der Wirt.
Fridolin war jetzt über einem einsamen Bistrotisch in einer Ecke des Raumes. Dort saß ein weiterer einsamer Süffel. Der grüne Faden berührte ihn, und der Süffel, zusammenzuckend, sagte: „Was soll ich denn machen? Gibt doch nichts. Kann doch nichts machen. Ein Bier, bitte!“
Fridolin krabbelte weiter.
„Einen Schluck Genügsamkeit, bitte!“, bestellte der Wirt.
Der Faden sank, und der betroffene Süffel sagte: „Ich bleibe ein einfacher Arbeiter! Einen Eierlikör, bitte!“
Der Wirt war eifrig bei der Arbeit. „Schon besser!“, rief er Fridolin zu. „Nur weiter!“
„Graaahzorrrknt!“, rief Fridolin.
Am Fenster zog ein Krake vorbei. Fridolin sah weg. Der Krake war Südländer und gestikulierte immer so übertrieben, nicht zum Aushalten war das.
„Eine Situations-Analyse, bitte!“, bestellte der Wirt.
Fridolin war über einem Hooligan. Der Faden sank herab. Der Hool: „Kneipe, saufen, fußstinken, saufen, Kneipe, Scheiße labern, saufen, Kneipe. Bäääh! Einen Klaren!“
Fridolin sog den Faden zurück und krabbelte weiter.
„Eine Runde Selbstmitleid!“, bestellte der Wirt, mehr und mehr begeistert.
Unter dem grünen Faden sagte ein Süffel in den besten Jahren: „Mein Leben lang hab ich schwer geschuftet, und der Staat gibt mir nicht mal eine Hundsfotze im Aschenbecher. Wirt! Eine Runde Korn!“
Der Wirt kam nur noch mit Mühe hinterher und pausierte etwas mit seinen Bestellungen. Ein junges Yuppiepärchen kam herein. „Hier scheint ja was los zu sein“, sagte der Kerl.
Am Fenster zog ein Schwarm Plankton vorbei. Mein Gott, war es wieder soweit? Im Rudel fühlen sie sich stark.
Nach einer Weile bestellte der Wirt ein bißchen Chauvinismus. Fridolin seiberte, und der vollgeseiberte Süffel sagte: „Frauen sind wie Zecken: Sie fallen vom Himmel, beißen sich in dich rein, kriegen einen dicken Bauch und verblöden dich. Einmal Stroh 80 mit einem Spritzer Soda!“
„Graaahzorrrknt!“, rief Fridolin.
„Schon gut“, sagte der Wirt, eifrig bei der Arbeit. „Einmal Politisierung, bitte!“
Fridolin krabbelte, der Schleimfaden regnete, und ein Säufer mit Palästinensertuch sagte: „Deutschland braucht einen grünen Adolf!“
„FRIDOLIN!“, brüllte der Kellner.
„War nurn Scherz.“
Der Wirt brauchte wieder ein wenig Arbeit. „Ein Kurz-Resümee, bitte!“
Krabbeln, Sabbern, grüner Regen, und ein Suffkopp sagte: „So jung kommen wir nie wieder zusammen! Eine Lokal-Runde!“
„Fridolin, wir müssen uns ranhalten“, sagte der Wirt, eifrig einschenkend. „Ein Stammtisch hat sich angekündigt.“
„Wie wärs mit ein paar Judenwitzen?“
„Es sind eher jüngere Leute.“
„Türkenwitze?“
„Noch jünger.“
„Schwulenwitze!“
„Eher was unpolitisches, es sind Yuppies.“
„Also Selbsthass? Na, schaun mer mal...“
Schon öffnete sich die Tür, und die Yuppie-Delegation traf ein. Sie setzten sich an den Tisch, an dem schon das Yuppie-Pärchen Platz genommen hatte. Fridolin krabbelte in Position.
Ein sorgfältig beschleimter Yuppie rief: „Ich fühle nichts mehr. Untenrum und Obenrum und in der goldenen Mitte sowieso nicht. Ich habe nur noch meinen Giftmüllschlamm von Leber. Einen Gurkensaft, bitte!“
Der Wirt, von seiner Arbeit völlig eingenommen, erklärte ekstatisch und feierlich: „So mag es wie ein Springbrunnen fließen!“
Daraufhin legte Fridolin zwei Finger über Kreuz und führte sie an seinen Mund. Der grüne Sabberstrahl teilte sich daraufhin in vier Bestandteile, die jeweils einen Yuppie trafen. Unisono sagten sie „Prost!“ und bestellten das größte verfügbare Bierfass –andernfalls man nach Heidelberg fahren wollte- und verlangten, es auf den Tisch zu stellen.
Der Wirt war nahe am Abkacken. „Slam-Poetry-Overkill!“, sagte er feierlich.
Fridolin spuckte, und unter dem Spuckestrahl sagte ein Süffel: „Prost Prost, Prost Prost, Prost Prost Kamerad!“ Er bestellte für jeden Kneipengast ein Party-Fass.
Sie tauchten in ihrem Suff ab. Blub, blub.
„Wir bräuchten ein paar Weiber“, sagte jemand.
„Unter Wasser gibt es nur Weiber, die nach Fisch stinken oder einen Schwanz haben“, sagte jemand anderes.
Die Zeit rückte voran. Irgendwann war Polizeistunde. Es kostete einige Mühe, die Gäste loszuwerden. Keiner wollte gehen. Fridolin hatte gefragt, ob er für eine Schlägerei sorgen sollte, aber das wollte der Wirt dann doch nicht – Immer das grüne Geschleime hinterher.
Zeit, den Laden dichtzumachen. Fridolin und der Wirt nickten sich zu. Höchste Zeit, das U-Boot zu betreten. Also, das U-Boot, das war irgendwie, weiß auch nicht, als großes Weinfass getarnt. Stand da irgendwo rum. Die Beiden stiegen ein und machten den Deckel zu. Dann schrie Fridolin ein letztes Mal „Graaahzorrrknt!“ Daraufhin platzten die Fenster der Kneipe auf. Der Ozean, irgendwie metaphorisch gesprochen, ersoff die letzten, armen, versoffenen Süffel. Die Fischwelt hielt Einzug. Das U-Boot erhob sich und tauchte durch ein Fenster davon. Die Fischwelt hielt Einzug. Rundum ersoff alles. Wand sich alles im Todeskampf. Blub, blub. Der schlimmste Säufer der Kneipe weigerte sich, zu ersaufen. Das sind Widersprüche.
Ein Hering: „Was Hochprozentiges, sonst werde ich sauer!“
Ein Krebs: „Halts Maul Arschkrampe, dich fass ich nicht mal mit der Kneifzange an!“
Ein Zitterrochen: „Rock ´n´Roll!“
Der Krake: „Ich bin überfordert, erdrosselt euch selbst!“
Ein Köderwurm: „Hang on to yourself!“
Ein Seepferdchen: “Reitet nicht immer auf dem selben Scheiß rum!”
Ein Blauwal: „Ich bin blau!“
Eine Qualle: „Eurem Schleim fehlt jede Substanz!“
Eine Robbe: „Hau druff!“
Ein Hai: „Von wem wird dieser Laden beschützt?“
Der Schwertfisch: „Jetzt trinken wir erstmal einen Kaffee!“
 

hein

Mitglied
Hallo Marcus,

da frage ich mich: war der Autor ein wenig beschleimt, oder was will er uns sonst sagen?

LG
hein
 

Max Neumann

Mitglied
Lieber Hein, ich meine das jetzt nicht auf dich persönlich bezogen, sondern allgemein: Ist es stets von Bedeutung, was ein Autor "sagen" will? insbesondere bei literarischen Texten, die ja oft eine Mehrdeutigkeit entwickeln und von daher variieren können in der Eigen- und der Fremdwahrnehumg.

Ich finde, "Barfliegen" ist eine humorvoll geschriebene Kurzgeschichte, die auf verschiedenen Ebenen wirkt: surreal, existentialistisch... Mit präziser Beobachtungsgabe.

Einen Tipp, daher nur vier Sterne: Absätze erleichtern den Lesefluss und halten Leser bei Laune.

Insgesamt aber eine echt gute Schreibe, Marcus. Davon möchte ich noch mehr lesen.
 

hein

Mitglied
@Tissop
der Hinweis auf "surreal, existentialistisch, ....) beantwortet wohl meine Frage.

@Marcus Soike
der Inhalt ist nicht ganz mein Ding, aber die Schreibe ist gut.

Ich werde gerne wieder von dir lesen.

LG
hein
 



 
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