Veronika hing keinem Traum nach, der so alt war wie die Welt.
Seit drei Tagen saß sie in diesem Kaff fest, um ein Auge auf ihren Bruder zu haben.
Robert, über die Jukebox gebeugt, tat so, als suche er nach einem Song, aber er wählte wiederholt die alte Schnulze. Beim Klang der Gitarre und der schmelzenden Stimme Bernd Clüvers, richtete er seinen Körper auf, drehte sich geneigten Hauptes zur Theke um, wie vom magischen Objektiv einer Fernsehkamera gelenkt. Er schlenderte zum Tisch der beiden einzigen Gästen und markierte einen Flirt mit einer verzückten Zuschauerin. Aber die beiden Männer feixten schon nicht mehr. Sie wussten, dass wieder seine Psychose aufflackerte. Veronika ahnte, worauf sein Gehabe gemünzt war. Gerade jetzt war Tante Gudrun mit ihrem neuen Lebensabendpartner Herbert zu verspäteten Flitterwochen in die Staaten gefahren. Wenn sich Roberts Zustand weiter verschlimmerte, musste Veronika zusehen, wie sie mit ihm klar kam. Tante Gudrun hatte das im Griff. Als Roberts Betreuerin teilte sie ihm das Geld ein und verständigte den medizinischen Dienst, wenn er wieder mal heimlich die Medikamente abgesetzt hatte. Veronika fragte sich, wie lange sie Roberts Treiben zusehen musste, bis er reif für eine Einweisung war.
Sie behielt ihn durch den Spiegel hinterm Glasregal im Auge, nahm einen großen Zug von ihrem Weizenbier. Robert lehnte mit in die Ferne gerichteten Blick an der Wand. Sein Gesicht war verquollen und ein stetiger Speichelfaden rann über sein kantiges Kinn. Vielleicht blitzten jetzt in seinem kranken Hirn die Glasscherben seiner unsäglichen Machwerke auf, die er zerbrechliche Kunst nannte. Während Clüver von der Barke sang, sah er wohl die Schaufelbagger wie damals über sein Gartenhäuschen walzen, wohin er sich zurückgezogen hatte, als seine Krankheit begann. Die Polizeibeamten führten ihn zum Krankenwagen, vorbei an Veronika und ihrer Mutter.
Sie nickte Tine zu, die ihr leeres Glas wegnahm. „Schick ihn doch endlich ins Bett.“ Umständlich wischte sie mit dem Lederlappen um Veronikas Getränk herum. „Er macht den ganzen Laden närrisch mit seiner endlosen Show.“
Veronika winkte ab, sie kannte ihren Bruder. Bald hatte er genug, dann kippte in ihm ein Schalter um.
Das hatte Veronika damals, bei ihrem letzten Besuch in seiner Hütte, begriffen: Sie hielt eins von seinen sonderbaren Gebilden in der Hand, eine mit einem verbeulten Auspufftopf verschweißte Sektflasche, in deren konvexen Boden er einen Puppenkopf montiert hatte. Er nahm ihr das Teil aus der Hand und hielt es unter die matte Glühbirne.
„Gefällt´s dir?“ Sein Gesicht strahlte in Verklärung.
„Nicht schlecht“, sagte Veronika verlegen.
„Ein Geschenk für dich. Von deinem Vaterbruder.“ Veronika dankte ihm beklommen. War es das, was er glaubte zu sein?
Die unsägliche Plastik brachte sie einem Trödelhändler, der sie später tatsächlich für fünfzig Mark verkaufte.
„Nein, Robert, jetzt ist Feierabend mit dem Gedöns.“ Tine schlug resolut mit der Hand auf die Theke. Veronika schaute von den perlen-gepiercten Fingernägeln zu ihrem Bruder, der einen Fünf-Euro-Schein in die Höhe hielt, um ihn bei der Barfrau zu wechseln. Sein Kopf zuckte herum. Einen Moment blickte er Veronika erstaunt in die Augen.
„Wollt ihr den Jungen nicht hören, lässt er euch eben fühlen.“ Er presste die Arme dicht an den Körper, als er auf den Ausgang der Kneipe bei den Toiletten zu steuerte, der in das Treppenhaus zu den Wohnungen führte.
Um halb zwölf wälzte sich die Clique um Mikas FC-Trömelshöhe in den jetzt fast ausgelasteten Schankraum. Ein lauter Schlag von der Decke ließ Veronika in die Höhe fahren. Über der Kneipe befand sich Roberts Wohnung. Aber in dem Lärm, den das Fußballteam machte, ging das Geräusch unter. Die Jungs winkten ihr fröhlich zu, während Tine mit den Bestellungen beschäftigt war. Veronika verließ die Kneipe und stürmte die Treppe zu Roberts Wohnung hinauf. Mit der Faust hämmerte sie gegen das Türblatt, es gab nach und schwang in den Flur. Moondog, Roberts Kaninchen, stürmte ihr entgegen. Ihr Blick fiel auf den Plattenwechsler, wo gerade, die Sommerhits von 1974 auf den Teller niedergingen. Nirgends eine Spur von ihm. Die Netzgardine war zurückgeschoben. Veronika trat ans Fenster und sah auf die Straße, die in einem abschüssigen Bogen von der Tannenhöhe herunter führte. Schräg gegenüber am Straßenrand stand ihr kleiner Wagen, ihr stolzester Besitz. Oben am Hang hatte jemand einen grünen Glascontainer auf die Fahrbahn geschoben und im Licht der Straßenlaterne sah sie ein Seil weiß aufscheinen, das zu einem der hochgereckten Bäume an dem Abstellplatz für die Müllbehälter führte. Wenn es abrisse, wäre ihr hübscher Wagen schrottreif. Unwillkürlich schrie sie auf. „Robert, verdammtes Aas!“
Veronika polterte die Treppe hinunter. Oben am Hang machte sich Robert an dem gespannten Seil zu schaffen. Veronika rannte los. Sie prustete, das Weizenbier in ihrem Magen schwappte. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten wie Hufe auf den Pflastersteinen. Einen Moment sah sie Roberts weißes Gesicht. Er kam ihr ein paar Schritte entgegen, drehte sich abrupt um und floh über den Abstellplatz. Veronika folgte ihm mit hechelndem Atem, aber er zögerte am Ende der betonierten Fläche, blieb stehen. Mit erhobenen Händen drehte er sich um.
„Willkommen, Schwesterherz. S´schaut aus, als ob dein Schutzengel dich verlassen will“. Ein dämonisches Grinsen verzerrte seine Mundpartie. Veronika schlug mit der Stirn gegen seine vorgewölbte Brust, krampfte hasserfüllt die Fäuste und schlug zu.
„Böse Buben, lose Luden ...“; der Stabreim verwandelte sich in Roberts Kehle zum lautmalenden Stammeln. Er taumelte, stürzte rücklings weg, den steilen Hang der Engelsschlucht hinunter. Erschrocken hielt Veronika am Rand der Bruchklippe inne. Der durch den Aufprall seines Körpers endgültig abgerissene Schrei hallte in ihren Ohren wieder.
Veronika sank auf die Knie. „Robert“, flüsterte fassungslos. Sie beugte sich vor, die Hände in die rauen Gesteinsbrocken krallend. Da sah sie ihn liegen. Seine Gliedmaßen wirkten verdreht, das rechte Bein, in der hellen Hose unnatürlich abgewinkelt. Der Stoff seines karierten Oberhemdes verfärbte sich dunkel, als bilde sich ein Loch in seinem Körper. Die Schlucht fiel steil ab, unmöglich da hinunter zu klettern. Sie musste die Feuerwehr, einen Krankenwagen rufen. Nach dem Handy in ihrer Rocktasche tastend, überlegte sie rasend, wie sie zu Robert gelangen konnte. Aus einem unerfindlichen Grund fand sie das Mobiltelefon nicht. Vielleicht hatte sie es auf der gelben Kommode neben dem Spiegel liegen gelassen. Sie wollte zurück zur Kneipe laufen, um Hilfe zu holen. Hastig drehte sie sich um: Das gespannte Seil riss in dem Moment ab. Veronika sah die staubgrauen Transportrollen des Altglasbehälters sich ruckartig ausrichten. Schwerfällig setzte er sich in Bewegung. Mit ein paar langen Schritten holte sie ihn ein, aber als sie nach dem überstehenden Deckel zu greifen versuchte, rutschte sie ab und geriet ins Straucheln. Als wolle er sie foppen, kippte er zur Seite und knallte mit den Rädern auf die Fahrbahn zurück. Sie rappelte sich auf, rannte verbissen, doch er holperte weiter in schepperndem Tanz über das Pflaster. Sie musste das grüne Monstrum zu Fall bringen. Mit beiden Händen bekam sie die Deckelhalterung zu fassen, spürte ein schmerzhaftes Reißen in den Schultern. Erschöpft ließ sie ihn fahren. Der Deus ex machina polterte unaufhaltsam über das Katzenkopfpflaster auf das Objekt seines Zorns zu. Panisch um Hilfe heischend fuhr Veronika herum. Sah sich auf gleicher Höhe ihres Elternhauses. Sie stürzte zum Eingang in den Hausflur, fing sich am Treppenknauf und während die Tür ins Schloss fiel, hörte sie den Knall, das Klirren unzähliger Glasscherben. Ein paar Atemzüge lang stand sie hechelnd am Geländer. Dann gab sie sich einen Ruck, ging durch die Hintertür in die Kneipe und folgte der Stammkundschaft, die das laute Geräusch auf die Straße gelockt hatte.
Tines angespannter Bizeps gab ihr Halt neben Roberts offenem Grab die mäßig lange Schlange der Kondolierenden zum tragischen Verlust ihres Bruders zu ertragen. In ihrem Kopf hörte sie ein Lied und einen Engel leise wispern. Über die Schemen der Beileid Murmelnden hinweg, konnte sie – war es Wahrheit oder Traum? - die verschont gebliebene Motorhaube ihres Kleinwagens sehen, der auf der Anhöhe vor der Friedhofspforte geparkt stand.
Der feste Druck einer in Leder verhüllten Hand und die Worte: „Darf ich Ihnen dennoch meine Karte überreichen?“ ließen ihre Gedanken zu den am Grab verbliebenen Trauergästen zurück kehren. Der sanfte Mund eines schlohweißen Herrn hatte die Worte gesprochen. Er verneigte sich leicht und wandte sich dem Kiesweg zu, der zum Ausgang führte.
Tine hatte die Visitenkarte entgegen genommen. „Wer war denn dieser vornehme Typ?“, fragte sie und beantwortete sich die Frage selbst, indem sie den Text auf dem hellblauen Leinenkarton vorlas: „Glaskunst, Galerie und Verkauf, Siegfried Wohlgemuth.“
Veronika spürte ihre Lippen sich zu einem runden Muskelkreis formen und ihre Zunge gegen ihren Gaumen schlagen, bevor sie zu singen begann.
Seit drei Tagen saß sie in diesem Kaff fest, um ein Auge auf ihren Bruder zu haben.
Robert, über die Jukebox gebeugt, tat so, als suche er nach einem Song, aber er wählte wiederholt die alte Schnulze. Beim Klang der Gitarre und der schmelzenden Stimme Bernd Clüvers, richtete er seinen Körper auf, drehte sich geneigten Hauptes zur Theke um, wie vom magischen Objektiv einer Fernsehkamera gelenkt. Er schlenderte zum Tisch der beiden einzigen Gästen und markierte einen Flirt mit einer verzückten Zuschauerin. Aber die beiden Männer feixten schon nicht mehr. Sie wussten, dass wieder seine Psychose aufflackerte. Veronika ahnte, worauf sein Gehabe gemünzt war. Gerade jetzt war Tante Gudrun mit ihrem neuen Lebensabendpartner Herbert zu verspäteten Flitterwochen in die Staaten gefahren. Wenn sich Roberts Zustand weiter verschlimmerte, musste Veronika zusehen, wie sie mit ihm klar kam. Tante Gudrun hatte das im Griff. Als Roberts Betreuerin teilte sie ihm das Geld ein und verständigte den medizinischen Dienst, wenn er wieder mal heimlich die Medikamente abgesetzt hatte. Veronika fragte sich, wie lange sie Roberts Treiben zusehen musste, bis er reif für eine Einweisung war.
Sie behielt ihn durch den Spiegel hinterm Glasregal im Auge, nahm einen großen Zug von ihrem Weizenbier. Robert lehnte mit in die Ferne gerichteten Blick an der Wand. Sein Gesicht war verquollen und ein stetiger Speichelfaden rann über sein kantiges Kinn. Vielleicht blitzten jetzt in seinem kranken Hirn die Glasscherben seiner unsäglichen Machwerke auf, die er zerbrechliche Kunst nannte. Während Clüver von der Barke sang, sah er wohl die Schaufelbagger wie damals über sein Gartenhäuschen walzen, wohin er sich zurückgezogen hatte, als seine Krankheit begann. Die Polizeibeamten führten ihn zum Krankenwagen, vorbei an Veronika und ihrer Mutter.
Sie nickte Tine zu, die ihr leeres Glas wegnahm. „Schick ihn doch endlich ins Bett.“ Umständlich wischte sie mit dem Lederlappen um Veronikas Getränk herum. „Er macht den ganzen Laden närrisch mit seiner endlosen Show.“
Veronika winkte ab, sie kannte ihren Bruder. Bald hatte er genug, dann kippte in ihm ein Schalter um.
Das hatte Veronika damals, bei ihrem letzten Besuch in seiner Hütte, begriffen: Sie hielt eins von seinen sonderbaren Gebilden in der Hand, eine mit einem verbeulten Auspufftopf verschweißte Sektflasche, in deren konvexen Boden er einen Puppenkopf montiert hatte. Er nahm ihr das Teil aus der Hand und hielt es unter die matte Glühbirne.
„Gefällt´s dir?“ Sein Gesicht strahlte in Verklärung.
„Nicht schlecht“, sagte Veronika verlegen.
„Ein Geschenk für dich. Von deinem Vaterbruder.“ Veronika dankte ihm beklommen. War es das, was er glaubte zu sein?
Die unsägliche Plastik brachte sie einem Trödelhändler, der sie später tatsächlich für fünfzig Mark verkaufte.
„Nein, Robert, jetzt ist Feierabend mit dem Gedöns.“ Tine schlug resolut mit der Hand auf die Theke. Veronika schaute von den perlen-gepiercten Fingernägeln zu ihrem Bruder, der einen Fünf-Euro-Schein in die Höhe hielt, um ihn bei der Barfrau zu wechseln. Sein Kopf zuckte herum. Einen Moment blickte er Veronika erstaunt in die Augen.
„Wollt ihr den Jungen nicht hören, lässt er euch eben fühlen.“ Er presste die Arme dicht an den Körper, als er auf den Ausgang der Kneipe bei den Toiletten zu steuerte, der in das Treppenhaus zu den Wohnungen führte.
Um halb zwölf wälzte sich die Clique um Mikas FC-Trömelshöhe in den jetzt fast ausgelasteten Schankraum. Ein lauter Schlag von der Decke ließ Veronika in die Höhe fahren. Über der Kneipe befand sich Roberts Wohnung. Aber in dem Lärm, den das Fußballteam machte, ging das Geräusch unter. Die Jungs winkten ihr fröhlich zu, während Tine mit den Bestellungen beschäftigt war. Veronika verließ die Kneipe und stürmte die Treppe zu Roberts Wohnung hinauf. Mit der Faust hämmerte sie gegen das Türblatt, es gab nach und schwang in den Flur. Moondog, Roberts Kaninchen, stürmte ihr entgegen. Ihr Blick fiel auf den Plattenwechsler, wo gerade, die Sommerhits von 1974 auf den Teller niedergingen. Nirgends eine Spur von ihm. Die Netzgardine war zurückgeschoben. Veronika trat ans Fenster und sah auf die Straße, die in einem abschüssigen Bogen von der Tannenhöhe herunter führte. Schräg gegenüber am Straßenrand stand ihr kleiner Wagen, ihr stolzester Besitz. Oben am Hang hatte jemand einen grünen Glascontainer auf die Fahrbahn geschoben und im Licht der Straßenlaterne sah sie ein Seil weiß aufscheinen, das zu einem der hochgereckten Bäume an dem Abstellplatz für die Müllbehälter führte. Wenn es abrisse, wäre ihr hübscher Wagen schrottreif. Unwillkürlich schrie sie auf. „Robert, verdammtes Aas!“
Veronika polterte die Treppe hinunter. Oben am Hang machte sich Robert an dem gespannten Seil zu schaffen. Veronika rannte los. Sie prustete, das Weizenbier in ihrem Magen schwappte. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten wie Hufe auf den Pflastersteinen. Einen Moment sah sie Roberts weißes Gesicht. Er kam ihr ein paar Schritte entgegen, drehte sich abrupt um und floh über den Abstellplatz. Veronika folgte ihm mit hechelndem Atem, aber er zögerte am Ende der betonierten Fläche, blieb stehen. Mit erhobenen Händen drehte er sich um.
„Willkommen, Schwesterherz. S´schaut aus, als ob dein Schutzengel dich verlassen will“. Ein dämonisches Grinsen verzerrte seine Mundpartie. Veronika schlug mit der Stirn gegen seine vorgewölbte Brust, krampfte hasserfüllt die Fäuste und schlug zu.
„Böse Buben, lose Luden ...“; der Stabreim verwandelte sich in Roberts Kehle zum lautmalenden Stammeln. Er taumelte, stürzte rücklings weg, den steilen Hang der Engelsschlucht hinunter. Erschrocken hielt Veronika am Rand der Bruchklippe inne. Der durch den Aufprall seines Körpers endgültig abgerissene Schrei hallte in ihren Ohren wieder.
Veronika sank auf die Knie. „Robert“, flüsterte fassungslos. Sie beugte sich vor, die Hände in die rauen Gesteinsbrocken krallend. Da sah sie ihn liegen. Seine Gliedmaßen wirkten verdreht, das rechte Bein, in der hellen Hose unnatürlich abgewinkelt. Der Stoff seines karierten Oberhemdes verfärbte sich dunkel, als bilde sich ein Loch in seinem Körper. Die Schlucht fiel steil ab, unmöglich da hinunter zu klettern. Sie musste die Feuerwehr, einen Krankenwagen rufen. Nach dem Handy in ihrer Rocktasche tastend, überlegte sie rasend, wie sie zu Robert gelangen konnte. Aus einem unerfindlichen Grund fand sie das Mobiltelefon nicht. Vielleicht hatte sie es auf der gelben Kommode neben dem Spiegel liegen gelassen. Sie wollte zurück zur Kneipe laufen, um Hilfe zu holen. Hastig drehte sie sich um: Das gespannte Seil riss in dem Moment ab. Veronika sah die staubgrauen Transportrollen des Altglasbehälters sich ruckartig ausrichten. Schwerfällig setzte er sich in Bewegung. Mit ein paar langen Schritten holte sie ihn ein, aber als sie nach dem überstehenden Deckel zu greifen versuchte, rutschte sie ab und geriet ins Straucheln. Als wolle er sie foppen, kippte er zur Seite und knallte mit den Rädern auf die Fahrbahn zurück. Sie rappelte sich auf, rannte verbissen, doch er holperte weiter in schepperndem Tanz über das Pflaster. Sie musste das grüne Monstrum zu Fall bringen. Mit beiden Händen bekam sie die Deckelhalterung zu fassen, spürte ein schmerzhaftes Reißen in den Schultern. Erschöpft ließ sie ihn fahren. Der Deus ex machina polterte unaufhaltsam über das Katzenkopfpflaster auf das Objekt seines Zorns zu. Panisch um Hilfe heischend fuhr Veronika herum. Sah sich auf gleicher Höhe ihres Elternhauses. Sie stürzte zum Eingang in den Hausflur, fing sich am Treppenknauf und während die Tür ins Schloss fiel, hörte sie den Knall, das Klirren unzähliger Glasscherben. Ein paar Atemzüge lang stand sie hechelnd am Geländer. Dann gab sie sich einen Ruck, ging durch die Hintertür in die Kneipe und folgte der Stammkundschaft, die das laute Geräusch auf die Straße gelockt hatte.
Tines angespannter Bizeps gab ihr Halt neben Roberts offenem Grab die mäßig lange Schlange der Kondolierenden zum tragischen Verlust ihres Bruders zu ertragen. In ihrem Kopf hörte sie ein Lied und einen Engel leise wispern. Über die Schemen der Beileid Murmelnden hinweg, konnte sie – war es Wahrheit oder Traum? - die verschont gebliebene Motorhaube ihres Kleinwagens sehen, der auf der Anhöhe vor der Friedhofspforte geparkt stand.
Der feste Druck einer in Leder verhüllten Hand und die Worte: „Darf ich Ihnen dennoch meine Karte überreichen?“ ließen ihre Gedanken zu den am Grab verbliebenen Trauergästen zurück kehren. Der sanfte Mund eines schlohweißen Herrn hatte die Worte gesprochen. Er verneigte sich leicht und wandte sich dem Kiesweg zu, der zum Ausgang führte.
Tine hatte die Visitenkarte entgegen genommen. „Wer war denn dieser vornehme Typ?“, fragte sie und beantwortete sich die Frage selbst, indem sie den Text auf dem hellblauen Leinenkarton vorlas: „Glaskunst, Galerie und Verkauf, Siegfried Wohlgemuth.“
Veronika spürte ihre Lippen sich zu einem runden Muskelkreis formen und ihre Zunge gegen ihren Gaumen schlagen, bevor sie zu singen begann.