Barocke Figuren - Reiseerzählung

Die Mönche sind schon lange fort.

Augustin steht im Klosterhof und betrachtet die Gebäude. Das war einmal eine reiche Abtei, solides achtzehntes Jahrhundert. Heute werden die Fenster auf der Rückseite vergittert sein; vielleicht gibt es dort auch einen Zellentrakt und Wachtürme – so sieht es gewöhnlich hinter der barocken Schaufassade aus. In Württemberg sind die Klöster Irrenhäuser geworden und hier Gefängnisse. Das ist eben der Unterschied zwischen Schwaben und Bayern, sagt er sich und wendet sich um zu den Nebengebäuden. Da gibt es ein Café Prälatur. Er muss grinsen. Schläft er heute Nacht im Hotel Dormitorium, nur mit Luxuszellen?

Das Gasthaus gibt sich von außen bescheiden. Innen ist es ein weiter, hoher Saal. Er ist eingerichtet wie jeder anständige fränkische Landgasthof. Die langen Holztische stehen in zwei Kolonnen da, die eine auf den Tresen ausgerichtet, die andere auf die Eingangstür. Augustin setzt sich an einen Tisch ziemlich weit hinten, mit Blick durchs nahe Fenster. Es ist fast leer im Saal. Musik dudelt nicht, es ist eine Wohltat. Vorne, gleich am ersten Tisch vor dem Tresen, murmeln Stimmen. Dort sitzt eine Gruppe sehr junger Männer und zwischen ihnen eine einzelne Frau; Augustin schätzt sie auf Ende dreißig. Sie drückt ihre Zigarette aus, steht vom Tisch auf und kommt zu ihm herüber. Sie ist sehr mager. Hat er auf dem Land schon einmal eine so dürre Kellnerin gesehen? Während sie nach seinen Wünschen fragt, betrachtet er die Ruinen ihrer Vorderzähne. Sie sieht abgearbeitet aus und wirkt doch nicht verbraucht. Sie ist sachlich und freundlich, dabei sanft. Ihre Erscheinung, findet Augustin, hat auch etwas Madonnenhaftes.

Sie geht in die Küche, um seine Bestellung weiterzugeben. Dann bringt sie ihm sein Mineralwasser, das Besteck und die Serviette. Während er auf sein Essen wartet, betrachtet er die vier jungen Männer am Stammtisch. Verstehen kann er nicht, worüber sie da vorne reden. Die Kellnerin ist wieder in die Küche gegangen. Wie gewöhnlich konzentriert sich seine Aufmerksamkeit bald auf einen aus der Gruppe, einen Dunkelblonden um die zwanzig. Er hat etwas Gefälliges, denkt Augustin, und dann noch etwas anderes, einen Beigeschmack. Das Wort verschmitzt meldet sich in seinem Kopf zur Stelle, aber es passt nicht ganz. Er hat ziemlich kleine Augen, sie neigen zum Blinzeln, dann hat das Gesicht für Sekunden einen tückischen Ausdruck – das ist es. Er hat schon etwas feiste Backen, doch der scharf gestutzte Schnurrbart schwächt den Eindruck weicher Schlaffheit im Gesicht dann wieder ab. Er braucht den Bart, er macht ihn männlicher. Er schaut sich nicht wie die anderen ab und zu im Saal um. Sie haben Augustin schon als fremden Vogel ausgemacht. Der Blonde ist nur mit der nächsten Umgebung befasst, für ihn ist der Stammtisch jetzt die Welt. Ruhig wirkt er, sehr ruhig. Er hört lieber zu, als dass er selbst spricht, und beim Zuhören macht er ein verständiges Gesicht. Etwa vorhandene motorische Unruhe leitet er übers Bein ab. Der Fuß wippt dabei bloß auf den Zehen, und die Hebelwirkung lässt den massigen Oberschenkel schnell hintereinander auf und ab tanzen.

Sie trinken alle auf einmal ihr Bier aus, legen Münzen auf den Tisch und stehen auf. Da kommt die Kellnerin mit seinem Braten und den heftig dampfenden Knödeln. Als sie den Blick geradeaus wieder freigibt, sieht er den Dunkelblonden noch als Letzten hinausgehen. Er ist nur mittelgroß, recht stämmig, und sein Fettbauch ist schon gut entwickelt.

Nach dem Essen lässt er sich ein Zimmer geben. Es ist noch früh am Nachmittag, er hätte auch weitergehen können. Aber er will die Kirche in Ruhe betrachten. Und hat er selbst nicht auch Ruhe nötig? Er ist heute schon den vierten Tag zu Fuß unterwegs und bis hierher fast hundert Kilometer marschiert. Das Zimmer liegt im Oberstock. Es geht eine breite Steintreppe hinauf. Der Vorsaal sieht aus wie das Magazin eines Trödlers. Da steht sogar ein altes Klavier. Das Zimmer ist groß und sehr hoch, es werden fast vier Meter sein. Durch das Fenster blickt er auf die Schaufassade des Klosters. Er macht sich etwas frisch und zieht sich um.

Sie verlangen Eintritt für die Kirche, das ist ihm selten vorgekommen. Das karge gotische Gehäuse ist innen prächtig ausstaffiert. Viel Stuckmarmor. Klassizismus, sagt der Führer. Anscheinend hatte man das Barocke satt nach anderthalb Jahrhunderten, aber nicht die Farbigkeit. Die strengen Schmuckformen leuchten und strahlen in Rosa- und Gelbtönen. Er ist nicht ganz bei der Sache und kann sich nur schwer aufs Einzelne konzentrieren. Die Fensterrose ist natürlich nicht zu übersehen. Übrigens soll es eine Kopie sein, eine gute Kopie, wie das Buch sagt. Als er hinausgeht, denkt er, das Museum in München hätte sich auch mit einer guten Kopie begnügen und das Original an Ort und Stelle lassen können.

Nachher vertrödelt er die Zeit auf dem Zimmer. Manchmal steht er am Fenster und betrachtet zerstreut die Klosterfront, doch sein Blick will nicht haften am grauweißen Sandstein. Dann beobachtet er den Verkehr auf der Straße, die durch den Klosterbezirk führt. Ab und zu halten Autos auf dem Parkplatz. Touristen steigen für drei oder vier Minuten aus. Nein, er will nicht hasten wie sie. Lange hat er sich auf diese Reise gefreut. Soll er noch einen Tag dranhängen, die Atmosphäre stärker auf sich wirken lassen? Er liegt im Sessel und ist schnell entschlossen. Und übermorgen dann ganz aus der Gegend wegfahren.

Schon kurz nach sechs sitzt er wieder unten und will zur Nacht essen. Er hat sich zwei Tische vorgearbeitet und den Stammtisch besser im Auge. Jetzt sitzen nur noch drei junge Männer dort, der Dunkelblonde von heute Mittag ist wieder dabei. Augustin bemerkt, dass er das T-Shirt gewechselt hat. Das dunkelblaue jetzt ist viel weiter als das weiße am Mittag, es kaschiert den Bauch besser.

Wieder steht die dürre Kellnerin vom Stammtisch auf und kommt zu ihm herüber. Er fragt zuerst, ob er das Zimmer auch für zwei Nächte haben könne. Freilich, das lasse sich machen. Er bestellt einen Wurstsalat und, sozusagen überredet durch die Bier trinkenden Männer am Stammtisch, ein Kristallweizen.

Leider bekommt er nur Gesprächsfetzen mit. Worüber reden sie eigentlich? Einer sagt, fast schon energisch: „Aber Weißbier hat doch weniger Kalorien!“ Ein anderer im roten Trainingsanzug resigniert: „Da komme ich nicht mehr hoch.“ Der Blonde sagt gar nichts. Er klatscht bloß mit der Linken auf seinen Bauch, eine fast schon sachlich wirkende Geste. So klopft man einem Hund auf den Rücken.

Die Kellnerin bringt das Bier, etwas später den Wurstsalat und setzt sich dann wieder zu ihren Stammgästen. Es ist nicht viel zu tun um diese Zeit. Augustin bricht Brotstücke ab, fischt Zwiebelringe auf und behält den Stammtisch im Auge. Er spekuliert über die Rolle, die die Frau für das Trio spielt. Nun gut, sie bedient eben, bringt von Zeit zu Zeit frisches Bier. Mit dem Ausdruck von Interesse und Sachverstand hört sie zu. Stockt dass ruhig fließende Gespräch einmal, wirft sie kurz etwas ein, und dann geht die Unterhaltung weiter. Keiner ereifert sich dabei. Es ist fast wie zu Hause, eine bequeme Behaglichkeit. Die Kellnerin raucht fast die ganze Zeit, bläst Ringe in die Luft und schlägt die Beine gern übereinander. Eine Mutter zu Hause tut so etwas nicht. Aber deren Aufgabe ist es auch nicht, ihren Männern eine Spur Erotik anzudeuten, während sie sie bedient. Augustin bewundert die Kellnerin. Wie viele Rollen vereint sie in ihrer Person: Dienstmagd und Kumpel und Madonna und Hausfrau und Vamp. Dass einer von ihnen mal mit ihr schläft, glaubt er nicht. Sie ist ja viel zu alt für sie und, wenn er’s überhaupt beurteilen kann, nicht gerade sehr attraktiv. Aber eines schafft sie: Sie erhält in ihren Gästen das Bewusstsein am Leben, dass sie Männer sind und es gut haben und dass sie wieder einmal nach Nürnberg fahren können, wenn ihnen danach ist. Manchmal ist es ja schwierig, hinterm Plärrer einen Parkplatz zu finden. Jetzt aber sitzt man hier recht gut und trinkt sein Bier.

Von anderen Zimmergästen sieht und hört er nichts. Beim Frühstück erweist sich, er ist über Nacht allein im Gästetrakt gewesen; nur für ihn ist gedeckt. Er holt sich eine Zeitung und steigt den Hang hinter dem Dorf hinauf. Oben am Waldrand sind Bänke, die Stelle heißt Klosterblick. Übersichtlich wie ein Modell steht die Anlage da unten, das Klostergefängnis mit allen Flügeln, Höfen und Mauern. Die Zeitung ist dick und berichtet vieles und sehr Verschiedenes, was ihn jetzt gar nicht interessiert. Die Landschaft sieht bräutlich aus. Weiß blühende Schwarzdornhecken sind die Schleier um die hellgrünen Buchenwälder voller Hoffnung.

Wie steif die Gelenke heute sind. Das kommt vom Ausruhen nach großen Strapazen. Er quält sich gerne, geht fünf oder sechs Stunden ohne Unterbrechung, von zweimal fünf Minuten abgesehen. In diesen kurzen Pausen verspeist er einen Riegel weißer Schokolade und einen grünen, säuerlichen Apfel. Er genießt es, sich zu plagen. Zu seiner Unterhaltung phantasiert er sich auf diesen langen Märschen andere Gestalten herbei. Der Blonde von gestern Abend könnte einer von ihnen sein. Sie sind anders als er selbst, mögen sich nicht anstrengen und sind ihm, wenn er sich so schindet, zutiefst sympathisch. Doch zur selben Zeit verachtet er sie auch ein wenig. Er scheint diese Behäbigen in sich zu tragen und in seinem Inneren gleichzeitig mit ihnen zu kämpfen. Jetzt ruht der Kampf. Sie sind außerhalb, weit fort und ohne Bedeutung. Er ist eins mit sich und versenkt sich in diese Landschaft, die nur aus Pastelltönen besteht. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht und auf den Bauch. Es wird Mittag, und er ist nicht wieder in die Kirche gekommen, wie eigentlich geplant.

Er isst im Gasthaus und sitzt diesmal gleich neben dem Stammtisch. Er registriert dort wieder den Blonden, den im roten Trainingsanzug und ein neues Gesicht. Sie reden über Sport. Obwohl er fast alles mitanhören kann, versteht er nicht viel davon. Fußball hat ihn immer gelangweilt. Die Sätze rauschen an ihm vorbei. Dabei reden sie langsam, voller Verdruss. Gestern Abend hat es eine Übertragung im Fernsehen gegeben. Sie sind unzufrieden mit dem, was ihnen geboten worden ist. „Die strengen sich zu wenig an“, sagt der Blonde.

Die Tür geht auf, ein Mann in den Dreißigern kommt herein und geht auf den Stammtisch zu. Sie begrüßen ihn mit einer Erregung, die er an ihnen bisher noch nicht wahrgenommen hat. Wie habe das bloß passieren können? Und wann denn die Beerdigung sei? Er solle genau berichten, wie es vor der letzten Fahrt abgelaufen sei. Augustin begreift, dass da einer im Suff gegen einen Chausseebaum gerast ist. Der hier hat ihn zuletzt gesehen, in einem Gasthaus. Es ist in B … gewesen, einem Marktflecken talauswärts. Natürlich ist alles wie üblich gewesen. Man hat ihm gar nichts angemerkt. Seine vier oder fünf Halbe wird er schon getrunken haben, von mittags an gerechnet. Nichts ist ihnen aufgefallen, er hat ganz normal mit ihnen gesprochen und ist aufrecht hinausgegangen. Immerhin sind bei der Obduktion gut zweieinhalb Promille herausgekommen. Aber man hat ihm wirklich nichts angemerkt, es ist nicht zu begreifen … Sie seufzen alle und wissen nichts mehr zu sagen. Auch die Kellnerin ist jetzt still. Augustin unterbricht das Schweigen und ruft hinüber, er wolle zahlen. Es kommt ihm selber taktlos vor.

Nachher hat er auf der Post zu tun. Es dauert länger als gedacht. Den Rückweg nimmt er über den Parkplatz. Die Stammtischmänner stehen um ihre Autos herum und schlecken Eiskrem. Die Wagentüren stehen offen. Er sieht nicht gleich, was sie beschäftigt. Vom Fenster seines Zimmers kann er besser beobachten. Sie bauen ein Radio aus und in ein anderes Auto wieder ein. Dabei lassen sie sich viel Zeit, sind ernsthaft bei der Sache und erledigen alles mit einer ihm übertrieben vorkommenden Gründlichkeit. Sie erinnern ihn an Hamster in einem Käfig. Und wäre dann die ganze Klosterkulisse nichts weiter als eine geschmackvolle Hamsterburg? Was für absurde Assoziationen, denkt er und geht vom Fenster weg. Er vertieft sich in die Landkarte und plant die nächsten Tage, die nächsten Märsche. Inzwischen ist es drei Uhr vorbei und damit auch die letzte Gelegenheit, im Kloster den Saal und das Treppenhaus zu besichtigen.

Abends erwarten sie ihn schon am Stammtisch. Der Nachbartisch ist leider besetzt. Er muss sich wieder aufs Schauen beschränken. Der Blonde wirkt noch träger als sonst. Er sackt allmählich zusammen, sein Rücken rutscht an der Stuhllehne hinab. Weitab vom Tisch steht der Stuhl – so hat der Bauch viel Platz und wölbt sich immer mehr auf. Er liegt wie in einer Hängematte. Aber der ungepolsterte Stuhl drückt aufs Gesäß. Also verlagert er das Gewicht des Unterleibes auf die linke Hüfte. Über dem Hosenbund bildet sich dabei eine mächtige Falte, ein Mittelding zwischen Fahrrad- und Autoreifen. Der Gürtel schneidet jedoch allzu sehr ins weiche Fleisch – jetzt ist die rechte Hüfte dran, er verschiebt die Achse um neunzig Grad. Auch das bringt nur vorübergehende Erleichterung. Der Blonde ermannt sich und richtet sich auf. Er hat ja ein breites Kreuz, nur rundet sich der Rücken zusehends unter der Last des Bauches, der dabei auch mehr und mehr eingezwängt wird und Entlastung verlangt. Daher gleitet er in die ursprüngliche Position zurück, die Stuhllehne hinab. Er führt ja das reinste Ballett im Sitzen auf, stellt Augustin anerkennend fest und verfolgt noch mehrmals diesen Ablauf, der ihn an die vier Phasen des Mondes erinnert. Unterbrochen wird er harmonische Zyklus immer dann, wenn der Blonde Bier trinken will. Wenn er sich zur Höhe der Tischplatte emporzieht, sieht es für einen Augenblick so aus, als trenne sich der Oberkörper vom Unterleib, der den Gesetzen der Schwerkraft in ganz besonderer Weise unterworfen zu sein scheint.

Später beobachtet Augustin vom Fenster seines Zimmers aus, wie der Blonde wegfährt. Er steigt in sein Auto, schließt die Tür rasch und versinkt im Inneren des Wagens. In der Dämmerung ist sein Kopfumriss gerade noch zu erkennen. Schon startet er und fährt in die einbrechende Nacht hinaus.


Zehn Tage später. Augustin ist auch noch Rad gefahren. Die Landschaften, die Dörfer, die kleinen Städte – er ist immer weitergefahren, von Unruhe erfüllt. Nur mit der Heimreise lässt er sich Zeit. Erst morgen, am Sonntag, muss er zurück in den Norden. Zögernd hat er sich Würzburg genähert und ist dann doch in einer kleinen Stadt am Main geblieben. Unten am Fluss, wo es sehr ruhig ist, bekommt er in einem Gasthof ein Zimmer. Die Wirtsleute, ein älteres Ehepaar, sind so grämlich, dass er Mühe hat, sich daran nicht schuldig zu fühlen. So sehen alte Leute aus, denen der einzige Sohn weggestorben ist, sagt er sich.

Das Zimmer liegt im ersten Stock. Augustin überblickt den großen, fast leeren Parkplatz, von Rasen umgeben, er sieht den Fluss in den Wiesen und den gelben Rapsfeldern, dahinter die Waldberge. Dort oben muss das Kloster sein, das keines mehr ist, sondern ein Gefängnis.

Augustin geht am Fluss spazieren. Es ist noch immer warm und dabei luftig. Doch der Wind hat vor einigen Stunden gedreht und kommt jetzt von Westen. Dort zeigen sich die ersten Wolken. Mit der Reise geht auch das sommerliche Wetter zu Ende, dieser falsche Hochsommer, wie es im Tod in Venedig heißt und woran Augustin sich jetzt erinnert. Auf dem Parkplatz steht ein Mercedes mit Kölner Kennzeichen, daneben ein großer Campinganhänger. Drei junge Roma fallen Augustin auf. Die Schwester bereitet hinter dem Anhänger auf einem Gaskocher das Essen zu, die Brüder waschen den Mercedes. Der Jüngere ist sehr mager und zeigt nichts von seinem Körper, der Ältere trägt nur dunkle Shorts. Er hat einen kräftigen Oberkörper, ziemlich athletisch. Wenn er sich bei der Wagenwäsche bückt, kommen an den Hüften Spuren leichter Verfettung zum Vorschein, kleine Wülste, noch nicht sehr dick.

Zwei Motorradfahrer kommen vom Städtchen herunter, biegen auf den Parkplatz ein. Der vordere, ein stattlicher Brocken in schwarzem Leder auf einer schweren Maschine, ist der Fahrlehrer des hinteren, eines mageren Jüngelchens in zusammengestoppelter Tracht. Der Fahrschüler fährt ein sehr leichtes Motorrad. Sein Lehrer hält an, bockt die Maschine auf, nimmt den Helm ab und stemmt den Hintern quer auf die Sitzbank. Dann beginnt er zu rauchen. Der Schüler muss währenddessen Runden drehen. Der Lehrer wirft nachlässig drei rotweiß gestreifte Warnbaken auf den Boden. Mit einer Handbewegung weist er den Schüler an, um jede einzelne Bake herumzufahren. Das gelingt dem Schüler gut; er fährt überhaupt schon recht sicher – bis er am Ende des Parkplatzes beim Wenden ums Haar die Maschine umgeworfen hätte. Der Fahrlehrer lässt ihn anhalten und geht sogar einige Schritte zu ihm hinüber. Augustin sieht, wie er gestikuliert. Es sind souveräne Handbewegungen. Der Schüler, den Helm noch immer auf dem Schädel, nickt zum Zeichen, dass er verstanden hat. Die Szene wirkt absonderlich auf Augustin; eine Pantomime, denkt er, die ebenso gut religiöse wie pornographische Bedeutung haben könnte. Jedenfalls wirkt der Schüler erlösungsbedürftig, und die Fahrstunde endet auch bald.

Zügig fährt das ungleiche Paar den Hügel zur Stadt hinauf. In der Kurve begegnen sie einem Polizeiwagen, er ist unterwegs auf einer Kontrollfahrt. Wie zu erwarten, hält die grünweiße Limousine bei den Roma. Durch das offene Fenster fordert der Freistaat Bayern, vertreten durch den Polizeimeister Soundso, den älteren Bruder auf, einmal näher heranzukommen. Der halbnackte Junge trabt ohne Scheu zum behördlichen Gefährt, ja, er legt gleich die rechte Hand auf die Dachoberkante des Polizeiwagens und plaudert eher ins offene Fenster hinein, als dass er Rede und Antwort steht. Augustin, der weitergegangen ist, hört die Schwester laut zu den Polizisten hinüberrufen, der Vater sei in München. Kurz darauf wendet das Polizeiauto und fährt ohne weiteres zur Stadt zurück. Augustin verspürt etwas wie Befriedigung oder Erleichterung und geht weiter durch die Anlagen flussabwärts.

Er weiß nicht, was ihn auf die Brücke hinauftreibt, fort von der Stadt. Am jenseitigen Brückenkopf mündet ein Weg ein, der aus den Wiesen heraufführt. Da unten ist der Sportplatz. Ein intelligentes, hübsches Gesicht sieht ihn an. Der Schuljunge scheint unschlüssig zu sein, wohin er sich wenden soll. Augustin betrachtet ihn, Er ist gewiss ein guter Schüler, nicht nur aufgeweckt, sondern vermutlich auch brav. Mühelos eignet er sich den Lehrstoff an, er verleibt ihn sich ein, zur Freude von Eltern und Lehrern. Und dann scheint er gutes und reichliches Essen zu lieben – für sein Alter ist der Bauch schon recht üppig. Er trägt rote Boxershorts und ein weißes Leibchen. Er hat zarte Schenkel, und er sucht die Nähe der Athleten. Jetzt schlägt er sich ins Gebüsch.

Augustin kehrt um und geht auf die Stadt zu. Ja, sie lieben das Wohlleben, denkt er, ihre Behaglichkeit, das gute Essen. Bier schenkt man gewöhnlich in halben Litern aus. Es ist ihr barockes Erbe mit all seinen Rundungen und Wölbungen. Die Putti sind noch nicht ausgestorben. Er muss jetzt an die Führung durch die Bamberger Residenz denken, die er vor einigen Tagen mitgemacht hat. Schon am Vormittag war es heiß, außer ihm wollte kein Mensch ins Museum. Die schlanke junge Kunsthistorikerin führte ihn allein durch die Schauräume. Allein gegenüber so viel Kompetenz fühlte er sich befangen. Doch sie schnurrte alles nur herunter, drei Gobelins in zwanzig Sekunden – es gab ja noch so viele andere. Aber dass Lothar Franz von Schönborn einen Bauchumfang von einhundertfünfzig Zentimetern gehabt hatte, war ihr doch besonderer Erwähnung wert. Sie kam noch mehrmals auf diesen Umstand zurück. Zuletzt wies sie ihn darauf hin, dass der Betschemel in des Oberhirten Privatkapelle statt wie gewöhnlich zwei Stufen deren drei aufwies. Weswegen wohl – natürlich, die mittlere Sprosse stützte den priesterlichen Wanst. Aber der Schemel sei noch raffinierter – sie klappte ihn um; nun stand ein ausladender Barockstuhl gerade vor dem Kruzifixus. „Da, bequemer geht’s nimmer.“ Sie war etwas zu mokant, fand Augustin.

Unter diesen Gedanken gelangt er in die Stadtpfarrkirche und verweilt lange vor Riemenschneiders Johannes dem Täufer. Der war schlank, ganz auf das Lamm und die kommende Erleuchtung konzentriert. Unmöglich, sich ihn vorzustellen, wie er einen Schweinebraten verzehrt und dazu ein Bier der Marke Hiernickel trinkt …

Ein Mesner sagt ihm, dass gleich eine Hochzeit gefeiert werde, die Kirche könne nicht länger besichtigt werden. Augustin verlässt das Schiff. Am Portal hat er Mühe, durch die hereinströmende Hochzeitsgesellschaft ins Freie zu gelangen. Draußen auf dem Marktplatz macht sich ein junger Motorradfahrer abfahrbereit. Er stülpt die Handschuhe über. Es ist ein kräftiger Bursche um die zwanzig. Als er sich gemustert fühlt, geht ein merklicher Ruck durch seinen Körper, der bis dahin teilnahmslos und wenig belebt erschienen ist. Augustin sagt sich, dass Beobachten in der Kleinstadt viel einfacher sei, die Leute lassen sich bei allem mehr Zeit als in der Großstadt. Sie sind es gewohnt, Blicken nicht auszuweichen, sondern ihnen zu begegnen, ja, sie zu suchen. Bekannte müssen gegrüßt werden, Fremde erregen Neugier. Verrät der Fremde selbst Interesse, lässt man sich ruhig betrachten. Das ist eine ganz andere Sache als das blicklose Aneinandervorbeigleiten der städtischen Massen. Ist es erlaubt, daraus weitere Schlussfolgerungen zu ziehen, etwa größere Empfänglichkeit zu vermuten? So weit geht Augustin keineswegs. Er genießt indessen das reizvolle Spiel mit ungewissem Ausgang, ein Spiel mit bewussten und unbewussten Regungen. Jetzt verschwindet der Rundschädel unter dem Helm, das Visier wird heruntergeklappt. Schade, er hat ein so frisches, dabei etwas gerötetes Gesicht, eigentlich sympathisch. Augustin geht langsam weiter und sieht währenddessen zu, wie der Motorradfahrer startet. Wenn Augustin sich nicht täuscht, drückt dessen Haltung jetzt auch Befriedigung aus. Er wirkt gestrafft, wie aufgepumpt, vor Stolz gebläht. Aber es ist ein freundlicher Stolz, der Blick zuletzt ist freundlich gewesen. Augustin hat einen Fremden mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, der Bursche hat dadurch zu der Idealform gefunden, die er in seiner Vorstellung von sich selbst hat. Man könnte es visuelle Symbiose nennen, denkt Augustin. Da, jetzt nimmt er die Kurve schneidiger als nötig. Will er mir noch ein Kunststückchen vorführen?

Augustin biegt in die Hauptstraße ein. Sie ist verlassen, die Geschäfte sind seit Stunden geschlossen. Es ist eine breite Straße mit viel Fachwerk. Die Amtsgebäude haben Sandsteinverzierungen. Er blickt in jede Geschäftsauslage. Da liegt eine Illustrierte aus Hamburg, die er gewöhnlich nicht liest. Sie zeigt auf dem Titelblatt einen Sonderteil an über Männer, die nicht erwachsen werden wollen, sechzig Seiten dick. Scheint ein ergiebiges Feld zu sein, denkt er bei sich und weiter: Sind mir eigentlich sympathisch, diese Burschen, die nicht erwachsen werden wollen … Gehöre wohl selber dazu … und hätte wohl mehr als genug Zeit dafür gehabt …

Wie es scheint, endet das Städtchen am Bamberger Tor. Er geht trotzdem weiter, und die Hauptstraße verbreitert sich dahinter noch. Sie heißt jetzt Vorstadt und ist von Geschäften und Gasthäusern gesäumt. Eine schmale und hohe gotische Kirche zwingt die Vorstadt zu einem Knick. Wo sie ausweicht, ist ein kleiner Platz, auf dem ein Eissalon Tische und Stühle placiert hat.

Wie viele Kirchen hat er auf dieser Reise schon betreten - diese hier wird die letzte sein. Nachher geht er außen um sie herum. Hoch oben am Chor haben die Rittergeschlechter ihre Wappen in Stein ausführen lassen, zu Hunderten dicht beieinander, auch die Farben fehlen nicht. Es ist ein Patchwork ausgestorbener Sippen, kraus und bunt. Alles Übrige hat die Zeit vernichtet. Dann steht er wieder vor der Pforte und betrachtet die Steinmetzarbeiten. Sankt Georg bezwingt den Lindwurm. Merkwürdig, der Drachen hat einen Schafskopf. Sanft und beinahe freudig erwartet das Drachenlamm den Todesstoß. Da hat es der Heilige Georg leicht, den Mutigen und Kraftvollen herauszukehren.

Der Eissalon hat viel Zulauf. Die meisten Tische im Freien sind besetzt. Augustin findet noch einen für sich, ganz am Rand. Die Bedienung lässt auf sich warten; tut nichts, er hat viel Zeit. Jäh wird auf einmal die schläfrige Stille des Straßenplatzes gestört. Eine motorisierte Kohorte bricht aus der Stadt hervor. Sie unternehmen einen Ausfall. Als wäre der alte Torturm die Geburts- oder Fabrikationsstätte eines Menschentyps einer neuen Zeit, so pulsiert es aus ihm heraus, in gleichen Abständen, in gleicher Aufmachung und mit der gleichen Haltung. Nach Passieren des Tores beschleunigen die Männer ihre Motorräder, bremsen vor dem Eissalon, blicken herüber und verschwinden dann, Gas gebend, in der Kurve. Im Chaos geboren, denkt Augustin, und im Nu bis ins Letzte durchgeformt, nicht nur ästhetisch ein bedenklicher Prozess. Die uniforme äußere Glätte, schimmernd und abweisend, deckt die individuelle mannigfaltige Schwäche zu. Alle haben auf dem Rücken ihrer schwarzen Lederjacken einen roten Stierkopf aufgenäht, im Kreis herum – wie bei einer Rosenkranzmadonna – etwa ein Dutzend kleiner Aufkleber, Wimpel oder Aufnäher. Es sind Spuren der Orte, die sie hinter sich gebracht, Merkzeichen der Männer, mit denen sie, die Identischen, sich identifiziert haben. Wenn sie sich in die Kurve legen, fallen die von Gewitterwolken gefilterten Lichtstrahlen auf ein farbiges Mosaik, das sich rasch entfernt; dann hat es große Ähnlichkeit mit dem abstrakten Fries der Ritter hoch oben am Chor.

Warum schauen sie beim Vorbeifahren derart intensiv herüber? Jetzt erst bemerkt Augustin drei am Straßenrand geparkte Motorräder. Die Fahrer sitzen an einem Tisch in seiner Nähe, bisher außerhalb seines Blickwinkels. Unauffällig dreht er den weißen Plastikstuhl ein wenig in diese Richtung, wie um bequemer sitzen, in Wahrheit jedoch um besser beobachten zu können. Zwei aus der Gruppe hätten den Helm besser nicht abgenommen. Den Dritten will er schärfer ins Auge fassen, wird aber von der Kellnerin unterbrochen. Immer kommt das Personal zur falschen Zeit. Er bestellt den Traumbecher, den er sich auf der Karte ausgesucht hat.

Der dritte Mann also. Augustin hat ihn im Halbprofil vor sich. Gesund sieht er aus, etwas rundlich, schnauzbärtig, brünett. Er hat sich nichts auf seine Jacke geklebt. Dafür baumelt eine schmale silberne Kette von der rechten Hüfte herab. Für die Fahrt zum Eissalon hat er die Lederhose nicht aus dem Schrank genommen. Eng sitzen die blauen Jeans. Die kurzen Stiefel, in die er sie hineingestopft hat, zurren den groben Stoff über dem Fleisch fest. Augustin mustert ihn rasch und intensiv wie ein Konfektionär. Unter dem weißen T-Shirt ein kleiner Hügel. Einstweilen beteiligt er sich nicht am Gespräch, hört den anderen zu und schleckt sein Eis. Wie er das tut, das mutet kindlich an. Der Löffel schabt jeweils eine stattliche, weit aufgefächerte Portion aus der Glasschale, befördert seine Fracht aber vorerst nur bis vor das Eingangstor des Verdauungsapparates. Die Lippen öffnen sich weit, sie schieben sich auseinander, die Zunge tritt heraus und nähert sich der süßen, kühlen Materie. Die Zunge beginnt, emsig zu arbeiten. Sie leckt zuerst ein wenig – wie die Katze mit der Maus spielt – und löst dann kleine Brocken heraus, um sie rückwärts hinter die Lippen zu rollen, die sich dabei für kurze Zeit schließen. Eben dann schließt er auch die Augen, die während der übrigen Zeit die Tätigkeit der Zunge mit strengem Ausdruck überwachen. Sein Gesichtsausdruck ist insgesamt tief befriedigt. Offenbar verfügt er über ein Verfahren, das alle Geschmacksnerven kitzelt und dem Vorgang ein Maximum an Lust abgewinnt.

Augustin muss an Fridolin denken, den Freund in Wien. Eis schleckende Erwachsene seien ihm ein Gräuel. – Und du, isst du nie Eis, Fridolin? – Nur heimlich, und dann immer nur eine Kugel. – Augustin lächelt in der Erinnerung daran.

Nachher sieht sich der Brünette neugierig um, auch während er spricht. Seine Blicke erinnern Augustin an Wellen am Strand. Von einem unbekannten Zentrum ausgehend, breiten sie sich aus, belecken die Gestade und ziehen sich doch stets wieder zurück. Gleichmäßig gleiten diese Blicke, noch ein wenig getrübt von der eben empfundenen Lust, über die anderen Tische, die anderen Gäste und den Platz vor der Kirche. Die Welle zieht sich zurück – er sagt mit Nachdruck einen Satz zu seinem Nachbarn, Augustin kann ihn nicht verstehen – die Welle kehrt zurück. Augustin möchte einmal den Mond spielen, er will eine Flutwelle auslösen, am besten eine Springflut. Er mustert ihn zweimal kurz hintereinander, bohrt sich in die nächste Welle, versucht sich ihr entgegenzustemmen. Die Wirkung ist beträchtlich. Die Wogen der Rundblicke gehen für eine Weile deutlich höher, bleiben länger am Einzelnen haften, auch an Augustin. Noch unruhiger sind die Augen geworden. Für kurze Zeit ist der Ausdruck von Befriedigung aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkt jetzt wacher. Aber es scheint eine unsichtbare Schutzmauer zu geben. Die Blicke brechen sich an einem Widerstand, den Augustin nicht sieht. Sie kehren zu sich selbst zurück. Schließlich hat er sich beruhigt.

Unterdessen hat Augustin seinen Traumbecher bekommen und ihn mechanisch verzehrt. Er kann jetzt nicht sagen, was darin gewesen ist. Vielleicht waren es Pflaumen in Alkohol, meint er nachher.

Der Brünette verabschiedet sich von seinen Kameraden. Er klopft ihnen auf die Schulter und geht zu seiner Maschine. Seine Bewegungen verraten eine gewisse Sattheit. Mit Umsicht startet er und fährt ins Städtchen hinein. Waghalsiges, Bravourstücke sind von ihm nicht zu erwarten. Wenn nur die unruhigen Blicke nicht wären.

Auch Augustin zahlt und geht weg. Ein Plakat macht ihn neugierig auf das Schützenfest unten in den Wiesen. Es ist am anderen Ende der Stadt. Unterwegs stellt er fest, dass sich die dunklen Wolken aufgelockert haben. Es wird hier kein Gewitter geben, vielleicht woanders.

Um diese Zeit ist der Festplatz kaum besucht. Noch sind nicht einmal alle Buden geöffnet. Eine Kirchhofsruhe ist das hier. Er hat jetzt alles gesehen, nur auf dem Friedhof ist er nicht gewesen. Plötzlich hat er die Kleinstadt satt und freut sich auf die Abreise.
 



 
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