Basketball

Dario

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James H. Jordan hasste seinen drei Jahre jüngeren Bruder Charles. Er hasste ihn vom ganzen Herzen. Genau genommen gab es keinen anderen Menschen im Leben von James, den er so sehr hasste wie seinen jüngeren Bruder. Und der Grund dafür war, dass dieser das Leben von James zerstört hatte, und heute würde er sich deswegen an seinem Bruder rächen. Heute würde er seinem Bruder einen Denkzettel verpassen.

Vor sich hin grinsend und in seinen Gedanken versunken, saß James auf der Holztribüne der größten Sporthalle von Wilmington.

Jemand zupfte an seinem grauen Pullover und riss ihn aus seinen Gedanken. James blickte zur rechten Seite, seine Frau Lisa, die neben ihm saß, zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf einen der Jugendlichen, die gerade das Basketballfeld betraten.

»James, James, unser Junge läuft gerade ein«, sie fing an, wie wild in die Hände zu klatschen. James blickte zu den jungen Basketballspielern, die sich nun auf dem Spielfeld verteilten und die den Zuschauern auf den Rängen zuwinkten. Sein Sohn Michael, dünn und schlank, hob die Hand in Richtung James und Lisa.

James zwei kleine Kinder, Sohn und Tochter, die links neben ihm saßen, winkten Michi energisch zurück und hüpften begeistert auf den Plätzen hin und her.

»Sieht er nicht gut aus im grünen Trikot«, sagte Lisa voller Stolz.

James nickte nur zufrieden. Endlich war es so weit, dachte er sich. Das große Basketballturnier von Wilmington. Das Turnier, an dem jede wichtige Schule der Stadt teilnahm.

Solch ein Turnier war Tradition in fast jedem größeren Ort im Bundesstaat North Carolina.

Es ging zwar nur um 14-Jährige, aber es hatte den Hauch einer Ligameisterschaft.

James erinnerte sich, dass einige Bekannte behaupteten, dass sie sogar Talentsucher von namhaften Profibasketballklubs im Publikum erkannt hätten, die nach zukünftigen Stars Ausschau hielten.

So richtig glauben konnte er daran nicht. Es spielte aber auch keine Rolle, denn heute ging es um etwas Anderes. Etwas Wichtigeres. Heute würde James seinem Bruder einen Denkzettel verpassen.

James sah sich in der hell beleuchteten, riesigen Halle um. Er liebte die Atmosphäre in Basketballhallen. Der Geruch von Gummi, das Quietschen der Spielerschuhe auf dem blankpolierten grünen Boden, die überfüllten Holztribünen.

Die Tribünen quollen über mit Zuschauern. Eltern, Verwandte und Freunde waren gekommen und alle blickten mit erwartungsvollen Gesichtern auf das Spielfeld.

James spürte, dass ihm jemand auf die Schulter tippte. Sitzend drehte er sich um und sah eine Holzbank über sich einen Farbigen vor sich stehen, der James im Gesicht ähnlich war, nur von der Statur schlanker und vom Alter her jünger.

James stand auf, wie auch seine Frau. Beide wanden sich dem Farbigen über sich zu.

»Hallo Charles«, begrüßte James den anderen und umarmte ihn zögerlich.

»Hallo, großer Bruder«, gab der andere zurück, während er noch nach vorne gebeugt war und ergänzte: »Hallo Lisa, hallo Kinder.«

Die Ehefrau von James erwiderte die Begrüßung mit einem Lächeln. Die Kinder drehten sich um, winkten kurz und kicherten.

James fragte seinen Bruder: »Bald verlasst ihr Wilmington? Habt ihr denn schon eine Wohnung in New York gefunden?«

»Du meinst wegen dem neuen Job? Nein, ich und Linda haben uns noch nicht entschieden. Aber wir haben mehrere Angebote«, erklärte Charles.

»Du wirst eine Menge Geld verdienen, wenn du den Job in New York antrittst«, stellte James fest. Er konnte dabei den Neid in seiner Stimme nicht unterdrücken.

»Ja und ich kann Mutter in Brooklyn öfter besuchen«, antwortete Charles.

»Brooklyn, das alte Drecksloch«, James verzog das Gesicht. »Seit unserer Kindheit hat sich dort nichts verändert.«

»Das war in den 50er Jahren und ist nun schon 30 Jahre her«, erwiderte Charles schockiert. »Einiges hat sich schon verändert. Du bist nur zu selten dort, um es zu sehen. Wenn du Mutter nur öfter besuchen würdest«, für einen Moment blieb Charles still, dann fuhr er fort: »Sie fragt immer nach dir, wenn ich bei ihr bin.«

James verdrehte die Augen. Wieder mal musste Charles sich als Heiliger aufspielen.

Genau das störte James an seinem Bruder. Diese Barmherzigkeit und dieser edler Geist waren nur zwei von vielen Gründen, warum er seinen Bruder hasste und sich an ihm rächen wollte.

James wollte nicht über seine Mutter reden und fragte daher seinen Bruder nach dessen Sohn: »Auf welchem Spielfeld fängt Thomas an?«

»Seine Mannschaft startet auf dem Feld hinter dieser Tribüne.« Charles deutete mit dem rechten Daumen hinter sich.

»Thomas wird versuchen einen guten Eindruck zu hinterlassen, schließlich ist es sein letzter Auftritt mit seinen Schulfreunden und Mannschaftskollegen«, erklärte Charles mit etwas Traurigkeit in der Stimme.

Thomas ist der ganze Stolz von Charles, dachte sich James, und noch dazu ein großes Talent im Basketball, einige selbsternannten Experten bescheinigten ihm sogar eine Karriere in der Profibasketballliga.

»Das wird er bestimmt«, antwortete James, dabei konnte er sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, schließlich war der Sohn von Charles ein wichtiger Teil von James Racheplan.

Der jüngere Bruder von James sagte: »Wir werden sehen, ich muss zurück, das Spiel von Thomas fängt gleich an«.

Er küsste James Frau auf beide Wangen, umarmte James kurz und streichelte den zwei Kindern über die schwarzen Locken, dann kämpfte er sich an den Zuschauern der Sitzreihe vorbei zu den Treppen. James und seine Frau sahen im hinterher.

»Er ist ein so netter Mann, dein Bruder. Intelligent, bescheiden und gutaussehend. Ich habe nie verstanden, warum du dich nicht mit ihm verstehst«, sagte James Frau zu ihm, während ihr Blick noch an Charles hing, der mittlerweile schwungvoll die Treppen der Tribüne runterlief.

»Ach Lisa, du kennst meinen Bruder nicht so gut wie ich. Er hat auch andere Seiten«, sagte James mit angewidertem Gesicht.

Seine Frau blieb für einen Moment still und bemerkte dann: »Merkwürdig, die sind mir noch nie aufgefallen.«

»Schatz, er hat so einiges getan in der Vergangenheit, das nicht in Ordnung war.«

Seine Frau Lisa runzelte die Stirn: »Was denn zum Beispiel?«

James wurde die Diskussion lästig.

»Erzähl ich dir ein anderes Mal. Ich denke, das Spiel fängt gleich an.« James deutete mit dem Kinn auf das Spielfeld.

Lisa Blick wanderte zu den jungen Spielern beider Mannschaften, die Dehn- und Streckübungen auf dem Spielfeld machten. »Oh natürlich, du hast recht«,

James war froh, dass seine Frau schnell die Diskussion vergaß. Sie klatschte in die Hände und schrie voller Stolz den Namen ihres gemeinsamen Sohnes, obwohl das Spiel noch gar nicht angefangen hatte.

Wenn Lisa nur wüsste, was Charles ihm angetan hatte. Er hatte es ihr nie erzählt. Sein Bruder hatte James Leben zerstört!

James dachte an Brooklyn in den 50er Jahren, wo der Ärger mit seinem Bruder anfing.

Damals verbrachte sie dort ihre Kindheit. James konnte sich noch gut erinnern, an die aufgerissenen Straßen, an die kaputten Fenster und die schmutzigen roten Backsteingebäude, die nie mehr als sechs Stockwerke hatten. James hatte damals das Gefühl, dass jedes Gebäude in der Straße, in der er wohnte, mindestens ein kaputtes Fenster hatte. Brooklyn war damals ein richtiges Drecksloch und es stank auch noch fürchterlich.

Manchmal kam die Müllabfuhr mehrere Wochen nicht, so dass es in den Straßen abscheulich roch, James musste immer die Nase rümpfen, wenn er daran dachte.

Der Stadtteil wurde damals von rivalisierenden Jugendbanden beherrscht und die soziale Unterschicht von New York lebte hier und diese bestand hauptsächlich aus Farbigen, wie James und Charles.

Es gab keinen Lichtblick in dieser hoffnungslosen Welt.

Doch! Doch es gab einen Lichtblick und dieser hieß Charles!

Nur für James war sein Bruder kein Lichtblick. Für ihn war Charles die Ursache seines Leidens.

Es fing schon damit an, dass Charles seinem eigenen Bruder die erste große Liebe wegschnappte.

Das Mädchen hieß Clara und James war unsterblich in sie verliebt.

Sie waren zwar noch Kinder, gerade mal 13 Jahre alt, aber für James war es eine aufregende Erfahrung, weder wusste er damals genau, wie man Liebe machte, noch wusste er, was es bedeutet, mit jemand zusammen zu sein, aber er war geblendet von der Schönheit dieses Mädchens. Sie zog ihn förmlich an.

Clara ging in dieselbe Klasse wie James und war eines der hübschesten Mädchen auf der Schule.

Sie und James waren befreundet und verbrachten manchmal die Schulpausen gemeinsam, bis James ihr seinen jüngeren Bruder vorstellte.

Ab da war Clara immer öfter mit Charles zusammen und irgendwann kamen die beiden zusammen.

Für James brach eine Welt zusammen, zwar blieb er noch mit Clara befreundet, aber es war nicht dasselbe. Sie hatte immer weniger Zeit für ihn. Lange hatte er gebraucht, um von Clara loszukommen. Da fing James zum ersten Mal an, seinen Bruder zu hassen, aber es wurde noch

schlimmer.

Als James 15 Jahre alt wurde, fing er an, Haschisch zu nehmen und auch damit zu handeln, was nichts Ungewöhnliches war für Jugendliche in seinem Alter, zumindest in Brooklyn.

Durch einen Freundeskreis, der älter war als James und der aus Halbstarken bestand, die zu einer Jugendbande gehörten, kam James in Kontakt mit verschiedenen Drogen, die er auch ausprobierte.

Nicht, dass er wirklich Spaß daran hatte, Haschisch oder härtere Drogen zu nehmen, er tat es eigentlich nur, weil die anderen Jungs es auch nahmen und weil es einfach cool war. So dachte er damals.

Schließlich kriegte man in Brooklyn als Jugendlicher nur Freunde oder lernte Mädchen kennen, wenn man in einer Straßengang war, außer natürlich man hieß Charles und seine zwei oder drei Freunde, die er hatte. Für die galten andere Regeln.

Eines Tages fand die Mutter von James beim Putzen im Kinderzimmer ein Päckchen Haschisch in James Schublade. Sie konfrontiere ihn mit ihrer Entdeckung, heulte hemmungslos und jagte ihn schließlich mit einem Holzlöffel quer durch die gesamte Wohnung.

Später brüllte sie ihn an, wie enttäuscht sie von ihm sei und warum er nicht wie Charles sein könnte.

James verstand das alles damals nicht, die anderen Jugendlichen nahmen oder verkauften doch auch Haschisch und verdienten gutes Geld damit und keiner der Eltern regte sich darüber auf, wenn diese das überhaupt interessierte, was die eigenen Kinder machten. Ganz im Gegenteil, die Leute, die viel Geld hatten, waren hochangesehen im Viertel, da der Großteil der Einwohner in erbärmlichen Verhältnisse lebte. Aber seine Mutter schimpfte wieder und immer wieder, dass nur ehrliche Arbeit zu Geld führte und die Drogen einen nur kaputtmachen würden.

Er solle sich ein Beispiel an Charles nehmen, fing sie damals an zu predigen. Denn Charles nahm natürlich keine Drogen, er war auch nicht Mitglied in einer Jugendband, noch waren seine zwei oder drei Freunde, wo immer er sich auch kennengelernt hatte, kriminell.

Charles arbeitete stattdessen als Verkäufer in einem verdreckten Supermarkt gleich an der nächsten Ecke der Straße, wo sie wohnten, um ehrliches Geld zu verdienen, schließlich war er ja ein gottverdammter Heiliger.

James kam dagegen ein paar Mal in Berührung mit der Polizei, ohne dass diese ihm etwas nachweisen konnte.

Seit jenem Tag, als seine Mutter die Packung Haschisch fand, wurde Charles ihr Liebling und mehr und mehr fühlte sich James von ihr vernachlässigt.

Es ging immer nur um Charles.

Wenn sie bei Bekannten war, sprach sie immer nur von Charles.

Wenn James etwas falsch machte, verwies sie immer nur auf Charles.

Wenn die Nachbarn sich über ihre Kinder beschwerten, erzählte sie stolz von Charles.

Charles hier, Charles da.

Verfluchter Charles!!!

Wenigstens zog irgendwann Clara mit ihrer Familie weg und James musste es nicht mehr ertragen, dass Charles mit ihr zusammen war.

Mit 16 Jahren schmiss James die Schule, weil er keine Lust mehr hatte zu lernen.

Nachdem seine Mutter ihn jahrelang belehrt hatte, wie wichtig es sei, sauberes Geld zu verdienen, anstatt Drogen zu verkaufen, suchte er sich ehrliche Arbeit.

So fing er an, in einem Lager am Hafen von New York zu arbeiten als Packer.

Es war ein harter Job, aber man verdiente gut.

Zur gleichen Zeit besuchte sein Bruder die Schule, schließlich bekam Charles gute Noten, da es ihm Spaß machte zu lernen.

Mittlerweile nahm James auch keine Drogen mehr. Die Lust darauf verging ihm, als er mitansehen musste, wie einer seiner besten Freunde an einer Überdosis Heroin starb. Dieser Freund fiel plötzlich tot von der Couch mit schäumendem Mund und heraustretenden Augen, als James sich mit ihm traf, um neue Drogen auszuprobieren. Damit hatte sich das Kapitel Drogen für James erledigt.

Endlich hatte er seiner Mutter etwas vorzuweisen. Obwohl er die Schule abgebrochen hatte, was aber nicht unüblich war für die Jugendlichen in Brooklyn, nahm er keine Drogen mehr. Er war auch nicht mehr in einer Jugendbande, da ein Großteil der Mitglieder bei einem Raub erwischt wurde und durch ihr mittlerweile erreichtes Alter verurteilt werden konnte. Aber selbst das reichte nicht, um seine Mutter zufrieden zu stellen, schließlich gab es da noch Charles.

Charles hatte natürlich seinen Schulabschluss mit Bestnoten bestanden. Er ging danach auf die Highschool, als einer der wenigen aus Brooklyn. Gott wie stolz war damals James Mutter auf Charles.

Nicht nur sie, die ganzen Bekannten und Verwandten verehrten ihn. Mittlerweile kannte ihn schon fast das ganze verdammte Viertel. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Mit 18 Jahren lernte James seine jetzige Frau Lisa kennen. In jener Zeit wechselte er den Job.

Er arbeitete nicht mehr im Lager am Hafen, sondern bekam eine Stelle als Postverteiler beim wichtigsten Stromversorger Amerikas »General Electric« im Zentrum von New York.

Zur Abwechslung war James stolz auf sich und nicht irgendjemand auf Charles.

Bei »General Electric«, sicher eines der größten Unternehmen in Amerika, verdiente er mehr Geld als am Hafen. James Mutter hatte aber nur Augen für Charles.

Charles hatte mittlerweile angefangen Wirtschaft zu studieren auf der Universität von New York, da wurde die Mutter von James krank.

Der Vater, den James und Charles eigentlich nie zu Gesicht bekamen, da er ständig arbeitete oder unterwegs war, um zu trinken, verließ die Mutter in jener Zeit für eine viel jüngere Frau.

Die Mutter James bekam einen Nervenzusammenbruch, schließlich brachte der Vater den Großteil des Geldes nach Hause.

Nun war James Mutter mit den beiden Jugendlichen auf sich allein gestellt.

Charles brach natürlich unverzüglich sein erfolgreiches Studium ab, um seine kranke und geliebte Mutter zu pflegen, nebenbei ging er noch arbeiten am Hafen, da die Mutter lange Zeit bettlägerig war.

Leider Gottes sprach sich das alles, langsam aber sicher, in Brooklyn herum.

War Charles vorher bekannt gewesen in der Straße, wo sie aufgewachsen waren, war er vorher hoch gelobt wurden im Viertel, so war er nun ein gottverdammter Heiliger. Brooklyn hatte seinen ersten verdammten Heiligen. Es fehlte nur noch die Seligsprechung durch die örtliche Kirche.

Zum Teufel noch mal, alle sprachen nur noch von James Bruder.

Bald wurde die Mutter wieder gesund und James jüngerer Bruder nahm sein Studium wieder auf und lernte dann auf der Universität seine jetzige Frau Linda kennen.

Linda war sicher eine der schönsten Frauen, die James jemals kennengelernt hatte.

Ihr Vater war ein Engländer und ihre Mutter ein Schwarzafrikanerin. James fand, dass Linda etwas Exotisches an sich hatte mit ihren dunklen, glatten Haaren, ihren leuchtend blauen Augen und ihrem gestrafften schlanken Körper.

Als Charles sie James und der Familie zum ersten Mal vorgestellt hatte, beim gemeinsamen Weihnachtsessen, konnte James seine Augen von ihr nicht abwenden.

Nicht, dass James seine Frau Lisa nicht liebte, aber die rassige Linda weckte seine Begierde und seinen Hass auf Charles noch mehr.

Glücklicherweise wurde James seinen lästigen Bruder bald darauf los.

Mit 25 Jahren zog James mit seiner Frau und seinen Kindern nach Wilmington, North Carolina. Er war mittlerweile zum Büroarbeiter aufgestiegen und bekam eine Stelle, wieder bei »General Electric«, in der neuen Stadt.

James wollte nicht, dass seine Kinder in dem stinkenden Brooklyn aufwuchsen.

Viele Farbige, die dem Elendsviertel entkommen waren, sammelten sich in der kleinen Küstenstadt Wilmington und bildeten dort eine Gemeinde, in der sie sich gegenseitig unterstützten.

Einige Zeit danach beendete Charles sein Studium, natürlich mit Bestnoten, und auch er zog weg von Brooklyn. Und wohin? Natürlich nach Wilmington. Wohin denn auch sonst!

Auch Charles fand dort eine Arbeitsstelle, aber als Abteilungsleiter in einer Niederlassung von General Motors, dem großen Autohersteller.

War James froh, seinem jüngeren Bruder und dessen langem Schatten endlich entkommen zu sein, wurde er von diesem wieder eingeholt.

Mit 29 Jahren, also vor sieben Jahren, wurde James Teamleiter in seinem Bereich.

Er war fleißig und verdiente nun viel Geld. Immerhin waren zehn Leuten unter seiner Leitung.

Wieder überkamen ihn Glücksgefühle.

Durch lange und harte Arbeit hatte er sich hochgearbeitet, obwohl er nie sonderlich gut war beim Lernen in der Schule.

Die lange harte Arbeit hatte sich gelohnt. Er machte viele Überstunden, übernahm Verantwortung in seinem Team und war sich nicht zu schade, egal für welche Arbeit.

Belohnt wurde er mit einer Beförderung zum Teamleiter.

Endlich konnte er seine Mutter beeindrucken, endlich konnte er ihr beweisen, dass auch er zu etwas fähig war, nicht nur, dass er es geschafft hatte, dem Drecksloch Brooklyn zu entkommen und sich ordentlich oder wie seine Mutter sagen würde »saubere« Arbeit zu beschaffen, er war nun sogar eine Führungskraft geworden.

Als er nach Brooklyn fuhr, um seine Mutter zu besuchen und ihr diese frohe Botschaft zu verkünden, stand natürlich jemand anderes im Mittelpunkt. Und wer war das?

Natürlich Charles!

Der jüngere Bruder war kurz vor James beruflichem Aufstieg ebenfalls die Karriereleiter hochgeklettert.

Charles war nun der stellvertretende Manager für ein großes Verkaufsgebiet im Bundesstaat North Carolina. Unter ihm standen nun, sage und schreibe, 300 Leute.

James wurde schlecht bei dem Gedanken.

Was hatte James dagegen zu bieten?

Nichts!

Verflucht noch mal, wieso konnte sein jüngerer Bruder nicht einfach sterben oder überfahren werden, damit er James nicht mehr quälen würde.

James war heute 36 Jahre alt und sein Bruder 33 Jahre.

Charles war jetzt nicht nur stellvertretender, sondern ausführender Manager, während James immer noch dieselbe Position in der Firma bekleidete wie vor sieben Jahren.

Und die Erfolgsgeschichte von Charles ging noch weiter. Nachdem er nun ausführender Manager in seinem Verkaufsbereich wurde, bot man ihm eine Position in New York an, wo sich eine der Zentralen von General Motors befand. Dort würde Charles den Posten des Leiters übernehmen, der für sämtliche Niederlassungen in drei Bundesstaaten, an der Westküste Amerikas, zuständig wäre. Nachdem sich das herumgesprochen hatte, unter den Farbigen in Wilmington und auch in Brooklyn, wagte es James nicht mehr, seine Mutter zu besuchen. Er wollte es sich einfach nicht antun, seiner Mutter zuzuhören, wie sie Charles in den Himmel loben würde.

War Charles vorher beliebt und bekannt gewesen, dann verehrt wie ein Heiliger, wurde er nun in Wilmington und Brooklyn mit Ehrfurcht behandelt, wie ein göttliches Wesen von einem anderen Stern.

Verflucht sei sein Bruder, dachte sich James.

Wenigstens eine gute Sache hatte Charles’ neuer Karrieresprung für James. Sein verhasster Bruder würde die Stadt Wilmington für immer verlassen und damit endlich auch aus James Leben treten. James müsste seinem Bruder keine Freundlichkeit mehr vorheucheln.

Als Charles ihm eines Tages am Telefon erzählte, dass er die Stadt bald verlassen würde, wäre James vor Freude fast der Hörer aus den Händen gefallen.

Seitdem konnte er besser schlafen, trotzdem hätte James seinem Bruder gerne noch eins ausgewischt, bevor dieser die Stadt mit seiner Familie verließ, für alles, was James wegen ihm ertragen musste.

Aber wie?, überlegte er.

James wusste, egal in welchem Bereich er sich mit Charles messen würde, er würde den Kürzeren ziehen, egal ob es um die Bereiche Beruf, Geld oder Sport ging.

Irgendwann aber fiel ihm auf, dass Charles mit seiner Familie nach dem Jugendbasketballturnier nach New York ziehen würde. Als sich James dann den Spielplan des Turniers ansah, bemerkte er, dass sein Sohn Michi und Thomas, der Sohn von Charles, erst im Finale aufeinander treffen konnten.

Das Turnier bestand aus vier Gruppen. In jeder Gruppe spielten vier Mannschaften. Die ersten beiden Gruppenplatzierten gingen weiter ins Viertelfinale, dann folgten das Halbfinale und das Finale.

Natürlich war Thomas mit seiner Mannschaft der Favorit im Turnier.

Alle Leute, die James kannte, gingen davon aus, dass das Team, in dem Thomas spielte, das Turnier gewinnen würde. Der Sohn von Charles war natürlich auch der Kapitän und der

Leistungsträger seiner Mannschaft und würde höchstwahrscheinlich auch der Star des Turniers werden, wie sollte es auch anders sein, wenn man der Sohn von Charles war.

James überlegte, was wäre, wenn James Sohn Michael, von allen nur Michi genannt, mit seiner Mannschaft den Sohn von Charles im Finale besiegen würde.

Was wäre, wenn Michael der Star des Turniers werden würde und nicht, wie alle vermuteten, der Sohn von Charles.

Was wäre, wenn Michael den alles entscheidenden Wurf für den Sieg im Finale werfen würde?

Das war natürlich ein verrückter, aber auch ein machbarer Plan, schließlich war sein Sohn auch ein talentierter Basketballspieler.

Kurz danach würde Charles mit seinem Sohn für immer die Stadt verlassen und James könnte den Turniersieg seinem verhassten Bruder ewig unter die Nase reiben.

Immer wenn sie sich treffen würden, könnte er Charles sagen: »Weißt du damals, kurz bevor du Wilmington verlassen hast, als mein Sohn Michi deinen Sohn im Finale des Basketballturniers besiegt hatte …«

Das wäre eine Genugtuung für die ganzen Jahre der Erniedrigungen und der Schmerzen, die James ertragen musste.

Er würde seinen Bruder genau dort treffen, wo es ihm am meisten wehtun würde, nämlich bei seinem unglaublich geliebten und unglaublich talentierten Sohn Thomas.

Nach dem Tag, an dem James den Entschluss gefasst hatte, diesen Plan umzusetzen, ging er mit einem breiten Lächeln schlafen und fing so bald wie möglich an, mit seinem Sohn zu trainieren.

James Sohn Michael war auch ein sehr guter Basketballspieler, obwohl er lieber Baseball spielte.

Fast jeden Tag spielten sie im Vorgarten von James Haus, wo ein Basketballkorb aufgestellt war, immerhin hatten sie noch fast vier Monate Zeit zur Vorbereitung auf das Turnier. Der kleine Michael freut sich natürlich darüber, dass sein Vater mit ihm so viel Zeit verbrachte.

Michi wurde von Tag zu Tag besser. Mal umspielte er seinen Vater von links, mal von rechts, mal trippelte er den Ball zwischen den Beinen von James, mal über den Kopf von seinem Vater. Bald war es so weit, dass Michael seinen Vater in jeder erdenklichen Möglichkeit ausspielte. James musste immer lachen, wenn dies geschah.

James wurde richtig stolz auf seinen Sohn. Sein Plan nahm mehr und mehr Gestalt an.

Als die Schulmannschaft von Michael oder Michi, wie ihn alle nannten, intensiver in die Trainingseinheiten für das Turnier ging, kristallisierte sich auch heraus, dass Michael der Führungsspieler wurde und damit auch Kapitän der Mannschaft, genauso wie es sich James vorgestellt und wofür er und sein Sohn vorher so hart trainiert hatten.

Und heute war er hier, um seinen Plan bei der Umsetzung zu erleben und um die Früchte seines Planes zu ernten.

Er lachte in sich hinein.

James hörte einen schrillen Ton und wurde aus seinen Gedanken herausgerissen.

Er sah, wie der Schiedsrichter in der Mitte des Spielfeldes in seine Pfeife pustete und einen Ball in die Luft warf. Jeweils ein Spieler jeder Mannschaft stand vor ihm und sprang in die Luft, während die anderen Mannschaftskameraden gespannt auf ihren Positionen warteten.

Der Mannschaftskamerad von Michael bekam den Ball und das Spiel begann.

James und die Zuschauer, die um ihn herum saßen, klatschten euphorisch in die Hände.

Relativ schnell ging die Schulmannschaft von Michi in Führung. Wie James es erwartet hatte, gingen alle Spielzüge über Michael. Der Gegner wurde praktisch überrollt, so dass das Team von Michael am Ende haushoch gewann. Nach dem Ende des ersten Spiels klopften die Zuschauer, die um James saßen, ihm auf die Schulter und lobten Michi. James konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen.

Das Turnier ging voran und die Gruppenphase umfasste drei Spiele. Die Schulmannschaft von Michael rannte von Sieg zu Sieg.

James Sohn steigerte sich von Spiel zu Spiel. Er umspielte seine Gegner blitzschnell mal von links, mal von rechts, mal warf er den Ball durch die Beine des Gegners, mal über den Kopf des Gegners, genau so, wie er es monatelang mit seinem Vater geübt hatte, und immer fand der Ball seine Mitspieler oder den gegnerischen Korb.

Ein Raunen ging durch das Publikum, wenn Michael am Ball war, schließlich fing der Junge an zu zaubern. Er umspielte teilweise zwei oder drei Spieler auf einmal, nahm dem Gegner den Ball weg, während dieser hochspringen wollte, oder fischte den Ball aus dem eigenen Korb, obwohl dieser schon fast drinnen war.

Michael gab alles auf dem Feld, dafür hatte James gesorgt. Zwei Tage bevor das Turnier stattfand, hatte James seinen Sohn, nach einer Trainingseinheit, zur Seite genommen und ihm nochmal deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass Michi hier alles gibt und letztendlich das Turnier gewinnt. Dies hatte sein Sohn scheinbar verinnerlicht.

Das Publikum fing im Laufe des Turniers an, Michael’ Namen zu rufen und jeden seiner Spielzüge zu beklatschen. James Grinsen wurde immer größer und seine Brust immer breiter

Michael’ Mannschaft rannte von Sieg zu Sieg und stand letztendlich verdient im

Finale.

Wie erwartet, hatte sich auch die Mannschaft von Thomas souverän ins Finale gespielt, ohne auch nur ein Spiel verloren zu haben. In der Pause vor dem Finale, vor dem alles entscheidenden Spiel, wippte James vor Aufregung auf der Holzbank hin und her.

Das Finale war erreicht! Alles läuft nach Plan, dachte er sich. Während die Pause noch lief, spürte James, wie ihn jemand von hinten auf die Schulter tippte. Er drehte sich um und sein jüngerer Bruder mit dessen Frau stand vor ihm.

Um den Bruder von James füllten sich die Holzbänke mit den Eltern und Verwandten der Schulklasse von Thomas, die von dem anderen Spielfeld kamen, es gab drei Spielfelder insgesamt in der riesigen Halle.

»So sehen wir uns also wieder«, sagte der Bruder lächelnd und ergänzte: »Ich habe gehört, Michi soll von Spiel zu Spiel besser geworden sein.«

James nickte und erwiderte: »Dein Sohn soll aber auch überragend gespielt haben.«

Charles zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Von Thomas haben das auch alle erwartet, schließlich ist er ein guter Basketballspieler.«

Fahr doch zur Hölle, dachte sich James. Ich hoffe, dein dämlicher Sohn wird verlieren, fluchte er innerlich.

Ein schriller Ton war zu vernehmen und die Spieler beider Mannschaften nahmen ihre Positionen auf dem Spielfeld ein.

Alle Zuschauer auf den Rängen saßen still und richteten ihre Augen auf das Spielfeld.

Endlich ist es so weit, dachte sich James. Das entscheidende Spiel. Endlich war der Moment der Abrechnung gekommen.

Der junge Schiedsrichter, in seinem schwarz-weiß gestreiften Hemd, hob die rechte Hand und pustete in seine Pfeife. Der Ball wurde vom Schiedsrichter in die Luft geworfen, jeweils ein Spieler von jeder Mannschaft sprang hoch. Der Mitspieler von Michi schlug den Ball zu einem Teamkollegen und damit hatte die Mannschaft von Michi als Erste den Ball. Sie warfen sich ihn gegenseitig zu.

Leise und mit konzentrierten Gesichtern verfolgten die sitzenden Eltern und Verwandten auf den Rängen die ersten Spielzüge.

Michi und der Sohn von Charles hatten sich noch kurz vor dem Spiel herzhaft umarmt, nun standen sie sich mit ernsthafter Miene gegenüber. Beide Mannschaften spielten vorsichtig und tasteten sich langsam ab. Das Team von Michi verlor den Ball durch einen abgefangenen Pass und die Schulmannschaft von Thomas machte den ersten Punkt im Spiel durch einen Konterangriff. Das Spiel ging hin und her und die Mannschaft von Thomas blieb in Führung, aber sobald sie einen Korb machten, holte die Mannschaft von Michi auf, so dass die Mannschaft von Thomas ständig nur mit einem Punkt führte.

Wie bei den Spielen vorher, gingen fast alle Spielzüge über Michael. Wieder fing James Sohn an zu glänzen. Mal lief er quer durch das ganze Feld und umspielte zwei oder drei Gegner hintereinander, mal warf er den Ball weit im eigenen Feld in den gegnerischen Korb. Mal nahm er dem Gegner den Ball weg, während dieser noch im Sprung war. Die Menge staunte und ein Raunen ging durch die Halle, wenn Michi eine seiner Aktionen ausführte.

James hätte nie gedacht, dass sein Plan so einfach klappen würde. So ging das Spiel voran und beide Mannschaften blieben gleich stark, obwohl das Team von Thomas mittlerweile einen leichten Vorsprung hatte von ein oder zwei Punkten.

Aber desto näher das Spiel dem Ende kam, umso nervöser wurde James. Er fing langsam an, an seinen Fingernägeln zu knabbern. Sein Sohn musste unbedingt gewinnen, koste es, was es wolle, aber die entscheidende Wende im Spiel wollte sich einfach nicht einstellen, egal wie gut Michael spielte, die gegnerische Mannschaft um Thomas war immer einen Schritt voraus und den Mitspielern von Michael ging langsam die Puste aus.

Sie liefen langsamer, warfen sich ungenaue Pässe zu und ließen öfter mal die gegnerische Mannschaft, ohne ernsthaften Widerstand, einen Korb werfen.

Es hatte sich eine Müdigkeit in der Mannschaft von Michael eingeschlichen, als wären die Beine schwer geworden, schließlich hatte nicht jeder von ihnen ein hartes Sondertraining absolviert, wie der Sohn von James und dieser konnte das Spiel nicht allein gewinnen.

So dass die Einzelaktionen von Michi nur dazu führten, dass der Gleichstand gehalten werden konnte oder seine Mannschaft sich mit einem Punkt im Rückstand befand.

Schweißperlen hatten sich mittlerweile auf der Stirn von James gebildet. Er guckte alle paar Minuten auf die Spielanzeigetafel, die weit oben an der Wand der Halle hing.

Das Spiel verging wie im Flug. Bevor sich James versah, waren nur noch wenige Minuten zu spielen.

Er bewegte sich hin und her auf seinem Sitz und fluchte innerlich.

Der Sieg wollte sich einfach nicht einstellen.

Dann, wenige Sekunden vor Schluss, passierte das, worauf James die ganze Zeit gehofft hatte.

Michael wurde von einem gegnerischen Spieler zur Seite geschubst, als er gerade dabei war, hochzuspringen, um den Ball in den Korb zu werfen.

James Sohn knallte laut auf den Boden, rappelte sich aber wieder auf, ohne sichtbare Verletzung. Es kam zur Rudelbildung und die Spieler beider Mannschaften schubsten sich gegenseitig oder gestikulierten laut miteinander.

Der Schiedsrichter ging zwischen die streitenden jungen Spieler und versuchte sie alle gleichzeitig auseinanderzuhalten. Nach einigen Sekunden hatte sich die Lage beruhigt und der Schiedsrichter entschied auf zwei Freistöße für die Mannschaft von Michael. Das Publikum klatschte.

Das ist der Sieg! Ein Vulkan aus Glücksgefühlen explodierte in James. Er stand auf, streckte seine geballte Faust den Himmel entgegen und brüllte laut. Seine Frau, sein Bruder hinter ihm und die Leute, die um ihn herum saßen, warfen ihm irritierte Blicke zu.

Das war die Situation, die er sich erhoffte hatte. Michael würde den entscheidenden Wurf zum Sieg machen, denn es fehlten nur noch zwei Punkte, um zu gewinnen, da die Mannschaft von Thomas nur mit einem Punkt führte. Seine kühnsten Träume wurden wahr. Das war die endgültige Abrechnung! Genau das hatte er vor Monaten sich gewünscht und geplant.

Michi bekam zwei Freiwürfe, für einen gelungenen Freiwurf würde seine Mannschaft die zwei notwendigen Punkte für den Sieg bekommen. Michael hatte damit zwei Chancen, den Sieg zu erreichen. Was könnte jetzt noch schiefgehen, fragte sich James und klatschte dabei in die Hände wie verrückt.

Es wurde totenstill in der Halle. Die Uhr an der Anzeigetafel blieb stehen und zeigte die drei verbliebenen Sekunden bis zum Abpfiff an. Alle Augen waren auf Michi gerichtet, der sich vor den Korb stellte, links und rechts von ihm warteten die anderen Mitspieler und Gegner. Auch sie blickten gespannt zu ihm.

Michael schloss die Augen, schlug den Ball zweimal auf den Boden, dann warf er ihn mit einem hochkonzentrierten Blick in die Luft. Der Ball flog in einer hohen Kurve durch die Luft, und für einen Moment hielten alle Leute in der Halle den Atem an.

James erschien es, als würde der Ball ewig unterwegs sein. Dann prallte der Ball an dem roten Korbring ab und flog zur Seite.

James schlug die Hände über den Kopf und ein Raunen ging durch das Publikum. Die gegnerische Mannschaft und ihre Verwandten jubelten kurz.

Aber die Sache ist noch nicht verloren, dachte sich James. Michi hatte noch einen zweiten Wurf und dieser würde die entscheidenden zwei Punkte bringen können und damit den Sieg.

Der Schiedsrichter gab Michael den Ball und der Sohn von James schloss wieder die Augen, schlug den Ball wieder zweimal gegen den Boden. Mittlerweile hatten sich unzählige Schweißperlen auf seinem Gesicht gebildet. Michael sah zum Korb, spannte den ganzen Körper an und warf den Ball in die Luft.

Wieder erschien es James, als würde der Ball ewig durch die Luft fliegen.

Wieder war kein Laut in der Halle zu hören. Dann erreichte der Ball den Korb und kreiste an der Innenseite des Korbringes. Zwei Runden drehte der Ball an der Innenseite des Ringkorbes und flog wieder raus.

Er flog wieder raus!! James stand auf und brüllte laut vor Schmerzen, aber sein Gebrüll ging im Jubel der Familien und Bekannten der gegnerischen Mannschaft unter.

Diese sprangen von ihren Sitzen, jubelten, schrien und fielen sich in die Arme. Die Mitspieler von Thomas hüpften über das Spielfeld und kreischten vor Freude. Michael und seine Mitspieler fielen auf den Boden, als wären sie ohnmächtig geworden, und blieben heulend liegen.

Die letzten drei Sekunden auf der Anzeigetafel liefen schnell runter.

Die Anzeigetafel zeigte vier Nullen an.

Das Spiel war zu Ende.

Das Turnier verloren und James Plan gescheitert.

Er sackte in sich zusammen und ließ die Schulter hängen. Seine Ehefrau schlug die Hände vor das Gesicht. Seine zwei kleinen Kinder neben ihm fingen an zu heulen.

Wie erstarrt saß James auf seinem Stuhl.

Nein, schrie eine Stimme in ihm. Nein, das durfte nicht wahr sein. So lange hatte er auf den Sieg hingearbeitet. So lange sah alles danach aus, dass er sein Ziel erreichen würde.

Er fühlte, wie er langsam die Besinnung verlor. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Er schüttelte den Kopf und plötzlich sah er alles verschwommen um sich herum. Die Konturen seiner Frau lösten sich auf in bunten Farbflecken, ebenfalls die Spieler auf dem Feld.

Grüne riesige Flecken, die auf dem Boden lagen, und riesige blaue Flecken, die über das Spielfeld hüpften.

James hörte hinter sich das Jubeln seines Bruders und dessen Frau. Am liebsten wäre er aufgestanden, um seinen verhassten Bruder zu würgen, aber er hatte keine Orientierung.

Langsam kam er wieder zur Besinnung.

Er sah nun seine Frau in festen Konturen. Ihr blaues Kleid, ihre großen braunen Augen, die feucht waren, ihre hochgestellten schwarzen Haare. »Du musst zu Michi gehen, ihn trösten. Er braucht dich jetzt.« Sie zeigte mit dem Finger auf ihren gemeinsamen Sohn, der immer noch auf dem Boden des Spielfeldes lag und hemmungslos heulte.

James nickte wortlos, konnte sich aber nicht rühren.

»James, du musst runtergehen zu Michi«, wiederholte seine Frau.

James nickte wieder und rührte sich nicht. Er war wie erstarrt.

Seine Frau schnaubte kurz und rannte runter zu ihrem gemeinsamen Sohn.

Auch die anderen Eltern der verlorenen Mannschaft waren nun auf dem Spielfeld und hielten ihre heulenden Kinder in den Armen oder streichelten sie zärtlich.

Das restliche Turnierprogramm zog an James vorbei, die Siegerehrung, die Gratulation an seinen Bruder, die Nachhausefahrt mit den Kindern, der immer noch schluchzende Michael auf dem Rücksitz des Autos. All dies rauschte schattenhaft an ihm vorbei.

Am späten Abend saß James am Esstisch in der Küche, er spielte mit einem Löffel in seiner Tellersuppe, während seine Frau am Waschbecken das Geschirr abspülte. Alle Kinder waren mittlerweile im Bett.

Nach Essen war James aber nicht zumute. Er ließ sich das Turnier noch mal durch den Kopf gehen.

Wieder hatte er seinem jüngeren Bruder gegenüber den Kürzeren gezogen.

Wieder hatte ihn sein verhasster Bruder übertrumpft.

Wegen einem nicht gelungenen Wurf ist sein ganzer Plan gescheitert.

Sein Sohn hatte am Ende total versagt.

James sagte mit traurige Stimme zu seiner Frau: »Michi hat mich vor der gesamten Stadt blamiert. Ich habe mich so geschämt für ihn.«

»Ah James, du darfst das Turnier nicht so ernst nehmen«, antwortete seine Frau. »Es ist doch nur ein Spiel.«

»Er hat den einfachsten Wurf nicht hinbekommen. Den einfachsten Wurf«, erwiderte James und schüttelte den Kopf.

Es herrschte Stille zwischen James und seiner Frau.



Michael lauschte an der Tür der Küche und nachdem er das alles gehört hatte, schlich er sich in sein Einzelzimmer. Er verkroch sich unter der Decke und Tränen kullerten über seine Wangen. Er hatte seinen Vater heute so unglaublich enttäuscht, dachte er sich. Michael wäre am liebsten in den Erdboden versunken, nachdem der zweite Wurf nicht in den Korb ging.

An diesem Abend schwor sich Michael J. Jordan, dass dies nie wieder passieren durfte. Er würde nie wieder ein Spiel verlieren, einen Wurf vermasseln oder einen Sprung vergeigen.



Ende
 



 
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