Basteln macht Freude

Unser Volksschullehrer war Jahrgang 1900. Natürlich war er Nazi gewesen und blieb es auch nach dem Krieg. Mein Großvater, früher Kommunist, trat nach 1945 in die wiederbelebte Partei nicht erneut ein. Parteilos, wie er nun war, machte man ihn bald nach dem „Zusammenbruch“ für kurze Zeit zum Bürgermeister. Es war ein großes Industriearbeiterdorf, man kannte sich untereinander. Unser Lehrer wusste also, wessen Enkel er vor sich hatte. Ich glaube, er verfolgte meine Fortschritte mit einigem Misstrauen: Schlug ich dem Großvater nach? Bei uns zu Hause fiel manches Lästerwort über den alten Nazi.

Der Alte brachte uns das ABC auf seine hemdsärmelige Weise rasch bei. Im Turnen ließ er uns exerzieren: rechts um, links um. Manchmal rutschte seine Hand aus, mich traf sie nie. Im Grunde war er kein übler Pädagoge, zu seiner Zeit. Er war auch ein eifriger Gärtner, Obstbauer, Schnapsbrenner – im Obst- und Gartenbauverein, in dem er wie in einigen weiteren Vereinen mitmischte. Daneben vertrieb er sich gern die Zeit mit Basteln und Drechseln. Auch in uns suchte er die Liebe zur Werkbank zu wecken, wenn auch nur in den Buben. Abgesehen vom Gärtnern erfüllten mich diese praktischen Tätigkeiten von jeher mit Abneigung. Es reizte mich nicht, Dinge herzustellen, um sie in die Hand zu nehmen, sie zu gebrauchen und dann an ihren Platz zurückzustellen. Dazu fühlte ich mich nicht berufen.

Einmal im Herbst blies der Wind tagelang kräftig. Unser Lehrer machte uns Lust darauf, Drachen steigen zu lassen. Wir sollten jeder selbst einen basteln. Er machte es uns in einer Stunde vor, mit Latten, Nägeln, Leim und buntem Papier. Ich sah ihm missvergnügt zu. Niemals würde mir der Nachbau gelingen. Wir sollten alle am Nachmittag unseren eigenen verfertigen. Und am Tag darauf würden wir gemeinsam mit diesen Vögeln auf eine Anhöhe ziehen und sehen, welcher am höchsten stieg. Panik ergriff mich. Schon der Gedanke an Wettbewerb machte mich krank. Die soziale Maschinerie war blanker Horror. (Ich fühle heute noch so.)

Meine Großmutter wusste, was auf dem Spiel stand. Sie besorgte die Materialien und engagierte gegen ein Trinkgeld den Sohn einer Witwe aus unserer Straße. Jürgen war älter als ich, schon halbwüchsig. Mit Ingrimm schlug er hastig alles zusammen. Es gelang ihm ein großer, stattlicher Drachen, der mir sogleich ans Herz wuchs. Damit würde ich mithalten, ja Ehre einlegen können. Und keiner musste erfahren, dass seine Existenz sich fremder Geschicklichkeit verdankte.

Am Tag darauf dann die Blamage: Alle Drachen stiegen lustig in den Herbsthimmel auf, der eine flog höher, der andere niedriger. Nur ein Drachen blieb am Boden – meiner. Jürgen hatte viel zu viele Querlatten eingefügt und ihn so schwer gemacht, dass er schlicht flugunfähig war. Ich trug ihn voller Scham über die Wiese, zur Schule und nach Hause zurück. Ich durfte nicht einmal sagen, dass er nicht mir, sondern einem anderen misslungen war. Ich schämte mich so sehr, dass mir die Reaktion unseres Lehrers vollständig entging. Hatte er Befriedigung empfunden?

Später verpflichtete er uns Buben am Nachmittag zum Werkunterricht, ein- oder zweimal die Woche. Ich ging als Einziger nicht hin. Ich stellte mich auf den Standpunkt, obligatorisch sei nur der Unterricht am Vormittag und der Nachmittag stehe zu meiner freien Verfügung. Der Alte nahm es murrend hin. Die Grenzen waren abgesteckt.
 

petrasmiles

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Lieber Arno,

dann ist der Titel ja sehr ironisch.

Ich mag diesen Buben, dem vor Wettbewerb graut. Auch, wenn das für Mädchen nicht gleichfalls galt, ist es doch über die Jahrzehnte bei uns eingesickert - ich habe mich dem auch immer verweigert. Beim Handarbeitsunterricht in der Grundschule habe ich der Lehrerin versucht, einen Topflappen unterzuschieben, den meine Ur-Großmutter einst gehäkelt hatte. Hat nicht geklappt - sie sagte, das sei ein Muster, dass selbst sie nicht könne, bin ich also aufgeflogen :) War natürlich mordspeinlich, aber man erfährt, dass man es überlebt :D

Ich finde diese Reminiszenzen sehr wichtig.

Liebe Grüße
Petra
 

Rachel

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Hei, lieber Arno. Eine richtig gute Geschichte, die einiges hinterlässt und wachruft.

Meine Großmutter (*1899) war selbst ein 1a Drache. Sie half anders.
Sie wurde noch vom Lehrer vor aller Augen mit Tatzen auf die Handinnenseiten gedemütigt.
Sie demonstrierte es so bedrohlich, als ob sie es neu erleben müsste. Wir Enkel streckten
die Hände aus, damit sie mit einem imaginären Stock das Pfitzen anschaulich
vormachen konnte. Ein Wahnsinn.

Lange nicht daran gedacht. Danke für die Erinnerung.
 
Danke, Petra, danke, Rachel, für die pädagogischen Assoziationen. Die Topflappengeschichte ist recht komisch. Die Lehrerin hatte einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, dem die Schülerin noch nicht gewachsen war. Das ist ein ergiebiges Thema: wie man Lehrer und Erzieher täuscht, indem man sie studiert und aus eigenen Fehlern lernt. Auch die Praxis der Prügelstrafe war davon nicht ausgenommen. Die Prügelnden verfeinertern ihre Methoden und die Geprügelten suchten es oft mit Tricks für sich weniger schmerzhaft zu machen oder sie täuschten größeren Schmerz vor, um einen Abbruch der Maßnahme herbeizuführen.
 

petrasmiles

Mitglied
Wenn Du diesen Text nicht geschrieben hättest, wäre mir kaum noch einmal die Erinnerung an dieses Ereignis gekommen, darum habe ich zu danken :)

Liebe Grüße
Petra
 



 
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